Gegen den Strich

01. Sep 2014

Obamas Außenpolitik

Mit vielen Vorschusslorbeeren 2009 ins Amt gestartet, gilt Barack Obama heute manchem Beobachter als gescheiterter Präsident. Das betrifft besonders die Außenpolitik. Mit Recht? Ist Obama ein außenpolitischer Schwächling, der seine Verbündeten durch seine Unfähigkeit, klare strategische Positionen zu beziehen, zur Verzweiflung bringt?

Seine Außenpolitik: eine einzige ­Enttäuschung 

Gemessen woran? Schaut man auf die außenpolitischen Erwartungen, die verschiedene Gruppen bei Obamas Amtsantritt im Januar 2009 an den neuen Präsidenten gerichtet hatten, dann ergibt sich eine beeindruckende Liste: Bushs Kriege im Irak und in Afghanistan beenden; Guantánamo schließen; ein neues Verhältnis zur islamischen Welt begründen; das Zerwürfnis mit Europa beenden; den Ausgleich mit Russland suchen; eine neue Ära der Abrüstung einleiten und bei der Reduzierung der Atomwaffen anfangen; den Nahost-Konflikt befrieden; den Atomstreit mit dem Iran beilegen; die Beziehung zu China entspannen; die Welt vor den Treibhausgasen retten. Die Liste ist noch längst nicht vollständig. Und das alles zusätzlich zu der innen- und wirtschaftspolitischen Herkules-Aufgabe, die USA aus der tiefen Wirtschafts- und Finanzkrise herauszuführen.

Bei Lichte besehen hatten Wahlkampfslogans wie „Yes We Can“, „Hope“ und „Change“ gar nicht auf die Außen-, sondern auf die Innenpolitik gezielt. Zwangsläufig weckte der Hype aber auch überzogene Hoffnungen für einen Kurswechsel in der Weltpolitik – Hoffnungen, die ein Präsident aus Fleisch und Blut realistischerweise nicht zu erfüllen vermag. „Expectation management“, das Heruntermoderieren der Erwartungen, wurde in den ersten Monaten der Obama-Präsidentschaft zur größten Herausforderung. Doch im Oktober 2009 folgte auch noch der Friedensnobelpreis – als zusätzliche Last für einen Präsidenten, zu dessen Hauptaufgabe es angesichts der Finanz- und Wirtschaftskrise geworden war, die nationale und globale Ökonomie zu stabilisieren. Es wirkt ein bisschen wohlfeil, wenn ausgerechnet diejenigen, die die überzogenen Erwartungen damals  genährt hatten, jetzt darüber klagen, dass Obama sie nicht alle erfüllt habe.
 

Der Präsident hat kein einziges seiner 
außenpolitischen ­Versprechen gehalten

Das ist eindeutig falsch. Obama hat den Abzug der US-Truppen aus dem Irak vollendet und den aus Afghanistan auf den Weg gebracht. Die Hindernisse und Widersprüche, die dabei zutage traten, sind weniger auf mangelnden Willen Obamas als auf die Persönlichkeitsdefizite seiner Partner in den Kriegsgebieten zurückzuführen sowie auf die verworrenen Machtstrukturen dort.

Wie Obama im Wahlkampf in Aussicht stellte, hat er im Frühjahr 2010 einen weitreichenden Abrüstungsvertrag mit Russland geschlossen. Ein Drittel der strategischen Atomraketen wird verschrottet. Wie versprochen, hat er auch die Schließung des Lagers für Terrorverdächtige in Guantánamo eingeleitet. Dieses Vorhaben scheiterte – jedoch nicht an Obama, sondern an der Feigheit vieler Abgeordneter und Senatoren seiner Demokratischen Partei, die ihm die Zustimmung zu den notwendigen Maßnahmen verweigerten.

Das Angebot eines neuen Umgangs mit der islamischen Welt unterstrich der Präsident im Sommer 2009 mit seiner Rede in Kairo. Im Umgang mit dem Iran hatte Obama versprochen, auf Diplomatie zu setzen. Auch diese Zusage hat er gehalten. Ob Afghanistan, Irak, Guantánamo, Russland, arabische Welt oder Iran: Man darf mit dem Stand der Dinge unzufrieden sein. Wer ihn aber in erster Linie Obama anlasten möchte, muss erklären, was die Alternativen gewesen wären und warum sie zu besseren Ergebnissen geführt hätten. Ein US-Präsident ist kein Allmächtiger, der überall seinen Willen durchsetzen kann.
 

Seine Außenpolitik: George W. Bush mit Drohnen 

Das stimmt bis zu einem gewissen Grad. Allein in den ersten zwei Amtsjahren hat Obama mehr Drohnen zur Tötung mutmaßlicher Terroranführer eingesetzt als Bush in zwei Amtszeiten. Generell hat sich Obama bei Amerikas Kampf gegen den Terror nicht so weit von Bush entfernt wie im Wahlkampf angekündigt. Ein Pazifist war er nie. Wer diesem Irrtum angehangen hatte, wurde bald eines Schlechteren belehrt. Überraschend schnell erlag Obama der Versuchung, man könne mit Drohnen einen Krieg führen, der weniger gefährlich für Amerikas Soldaten ist und zugleich die Risiken für „Kollateralschäden“ unter der Zivilbevölkerung minimiert. Zwar sind beide Hoffnungen grundsätzlich nicht unberechtigt. Aber die Gesamtbilanz hängt dann doch von der Zahl der Drohneneinsätze ab und dem tatsächlichen Bemühen, zivile Opfer zu vermeiden.

Auch im Umgang mit Russland spricht manches für die These, Obama reagiere härter als Bush. Im Georgien-Krieg 2008 beantwortete Wladimir Putin den Versuch des georgischen Präsidenten Michail Saakaschwili, abtrünnige Gebiete in Ossetien wieder unter Kontrolle zu bringen, mit dem Einmarsch. Was tat Bush dagegen? Nichts. Obamas Sanktionen im Ukraine-Krieg 2014 sind weniger, als manche Republikaner fordern. Aber mehr, als Bush 2008 für Georgien tat.

Es gibt weitere Beispiele, wo Obamas Handeln sich offenkundig von Bushs unterscheidet, etwa beim Umgang mit Israels Führung. Obama scheut den Konflikt mit Regierungschef Netanjahu nicht. Seine Verärgerung über dessen Siedlungspolitik und Kompromissverweigerung hat er mehrfach bis an die Grenze des diplomatischen Eklats deutlich gemacht – und dafür einen innenpolitischen Preis bezahlt, da die Mehrheit der Amerikaner es im Zweifel mit Israel hält.

Der größte Unterschied zwischen den beiden Präsidenten ergibt sich aus den Prioritäten, die sie angesichts der wirtschaftlichen Grundlagen setzen konnten. Bush trat in einer Zeit vermeintlicher Prosperität an und plante schon lange vor 9/11 eine aktive Außenpolitik. Obama übernahm die Präsidentschaft, als Amerika sich bereits im militärischen „Overstretch“ befand und die Folgen der Finanzkrise die Diskrepanz zwischen Wollen und Können unübersehbar machten. Er musste die Ressourcen auf das „Nationbuilding at home“ umleiten.

 

Unter Obama hört Amerika endlich auf, 
den ­Weltpolizisten zu spielen 

Das haben die USA noch nie getan, auch wenn das eine verbreitete Lesart ist. Die USA nehmen zwar für sich in Anspruch, die weltweite Rechtsordnung schützen zu wollen. Tatsächlich interveniert haben sie jedoch immer nur in ausgewählten Einzelfällen – nämlich dann, wenn der mutmaßliche Aufwand und Ertrag in einem aus ihrer Sicht vernünftigen Verhältnis standen.

Obama beurteilt diese Möglichkeiten vorsichtiger als Bush, vor allem aus Sorge vor einem erneuten „Overstretch“. Generell möchte er das militärische Engagement Amerikas reduzieren und seinem Land die Gelegenheit geben, wirtschaftlich zu gesunden. Deshalb hat er in Syrien lange gezögert einzugreifen – manche sagen: so lange, bis der beste Moment verstrichen war. In Libyen hat er dagegen Frankreich und Großbritannien bei ihrem Interventionswunsch unterstützt, wenn auch nach dem vorsichtigen und für amerikanische Ohren ungewohnten Motto „Leading from behind“. Im Sommer 2014 war er zu begrenztem militärischen Eingreifen im Irak bereit um zu verhindern, dass IS das ganze Land bedroht – obwohl die USA erst zuvor aus dem Land abgezogen waren und jegliche neue Intervention wie ein Kurswechsel aussehen könnte.

Der Spezialeinsatz zur Ergreifung Osama Bin Ladens in Pakistan 2011 spricht ebenfalls gegen die These, Obamas Amerika habe das Interventionsdenken völlig aufgegeben. Und gegenüber dem Iran hat der Präsident stets betont, dass er die Entwicklung einer Atombombe militärisch stoppen werde, falls er mit diplomatischen Mitteln dieses Ziel nicht erreiche. In Asien fordern viele Staaten aus Sorge vor Chinas Aufstieg die militärische Präsenz der USA, zu der zwangsläufig dann auch die Bereitschaft gehört, sie zum Schutz der internationalen Ordnung dort zu nutzen. Obama weist solche Erwartungen nicht zurück. Er kommt ihnen auf moderate Weise entgegen.

 

Obama hat keinerlei Interesse an Europa 

Doch, hat er. In den ersten Jahren seiner Präsidentschaft war Europa das häufigste Reiseziel Obamas. In den Europäern sah der Präsident die einzigen verlässlichen Verbündeten, zumal die USA mit keinem anderen Kontinent durch ein so enges Netz gemeinsamer Werte, gemeinsamer Geschichte und gemeinsamer Institutionen verbunden sind. Das war nicht zwangsläufig, denn Obama ist der erste US-Präsident, den biografisch mehr mit dem pazifischen Raum (und Afrika) verbindet als mit Europa.

Doch mittlerweile ist er ähnlich enttäuscht von Europas Unfähigkeit, international effektiv zu handeln, wie umgekehrt Europa von ihm enttäuscht ist. Pragmatiker, der er ist, sieht Obama die Treffen mit den Europäern nicht als Selbstzweck nach der Prämisse „Gut, dass wir uns mal wieder gesehen haben“. Als 2010 ein EU-USA-Gipfel in Europa anstand und die EU-Spitze sich mit Spanien, das gerade die Ratspräsidentschaft innehatte, ein Prestigeduell lieferte, ob das Treffen in Brüssel oder Madrid stattfinden solle, sagte Obama ab.

Jetzt, in der Ukraine-Krise, sucht Obama den Gedankenaustausch mit der deutschen Kanzlerin Angela Merkel. Sie ist ihm wichtig, weil sie Putin offenbar besser einschätzen kann als andere und weil sie noch funktionierende Gesprächskanäle nach Moskau hat. Obama könnte sich darauf zurückziehen, dass der Krieg in der Ukraine ein europäisches Problem sei. Und doch bemüht er sich um eine gemeinsame Reaktion Amerikas und Europas. Diesmal führen die USA nicht allein, wie noch in den neunziger Jahren in den Balkan-Kriegen, als Europa hoffnungslos zerstritten war. Diesmal führt Amerika gemeinsam mit Deutschland, der neuen Führungsmacht in Europa. Wenn militärische Fähigkeiten gefragt sind, wird Obama sich eher an Frankreich und Großbritannien halten als an Deutschland – und wenn es um das Vorgehen gegen Terrororganisationen in Afrika geht, im Zweifel an Paris.

 

Der Präsident hat nichts unternommen, um den NSA-Skandal zu entschärfen 

Nichts? Natürlich hat Obama viel zu spät begriffen, wie groß die Empörung über die NSA-Praktiken in Europa und speziell in Deutschland ist. Man darf nicht einmal sicher sein, dass er die Tragweite und die Auswirkungen auf das Bild der USA in Europa bis heute voll erfasst hat. Reagiert hat der Präsident schließlich aber doch, sogar mehrfach. Er hat Reden über den Zielkonflikt zwischen dem Schutz der Privatsphäre und dem Wunsch nach Sicherheit vor Terror gehalten. Er hat die Übergriffe der Dienste beklagt und eine Expertenkommission einberufen, die den Auftrag erhielt, die Vorwürfe zu überprüfen und Vorschläge zur Eingrenzung der Dienste zu machen. Er hat einen Großteil der Empfehlungen übernommen, darunter die Einrichtung eines „Bürgeranwalts“, der bei den gerichtlichen Entscheidungen zur Überwachung von Individuen deren Rechte vertritt. Und er hat Nichtamerikanern rechtlich verbindliche Zusicherungen gegen das Ausspionieren gegeben.

Mit alledem hat Obama Kritik von nahezu allen Seiten auf sich gezogen, denn es liegt in der Natur der Sache, dass seine Maßnahmen die Erwartungen der meisten Europäer nicht erfüllten und zugleich vielen Amerikanern zu weit gingen. Die USA befinden sich noch immer in einer Art „Post 9/11-Schock“.
Zum Befund gehört freilich auch eine erstaunliche Heuchelei auf beiden Seiten des Atlantiks. Die USA reden sich gerne damit heraus, dass alle spionieren, und zwar in ähnlichem Maße wie sie – was so nicht stimmt. Sie wollen nicht wahrhaben, dass ihr Sicherheitsapparat samt den Geheimdiensten nach 9/11 überreagiert hat und die vorgesehenen „Checks and Balances“ durch Parlamentsausschüsse und Gerichte in diesem Klima der Terrorangst nicht verlässlich funktionieren.

In Deutschland wiederum argumentieren viele von einer Kanzel der höheren Moral aus, ganz so, als könne man hierzulande Sicherheit vor Terror ohne amerikanische Methoden garantieren – obwohl die deutschen Sicherheits­experten nahezu unisono bekräftigen, dass es in beträchtlichem Maße Hinweisen der US-Dienste zu verdanken war, dass Anschläge in Deutschland vereitelt wurden. Keine der deutschen Parteien, ob in Regierung oder Opposition, hat bisher der Öffentlichkeit erschöpfend erklärt, welche Arten der Geheimdienstarbeit sie billigen und wo aus ihrer Sicht die genaue Trennlinie zu inakzeptablen Praktiken verläuft.

 

Obama ist ein außenpolitischer Schwächling 

Nicht so voreilig. Zwar gibt es viele, die Obamas Politik ablehnen, doch die Gründe, aus denen sie das tun, stehen miteinander zum Teil im Widerstreit. So tritt der Präsident aus Sicht der meisten Amerikaner zu zahm gegenüber Russland auf; vielen Europäern gehen seine Sanktionen gegen Putin zu weit. Die Israelis werfen ihm vor, er breche die traditionelle Solidarität mit dem jüdischen Staat und habe zu viel Verständnis für die Palästinenser; arabische Alliierte wiederum wünschen sich mehr Härte gegen die Hamas und andere Extremisten.

Im Gaza-Krieg vermitteln die USA zwar nicht, weil sie die Hamas als Terrororganisation sehen und offiziell keine direkten Kontakte zu ihr pflegen; in den Gesprächen mit der moderaten Fatah und dem palästinensischen Präsidenten Abbas sind die USA hingegen weiter der zentrale Ansprechpartner. Obamas Verhalten gegenüber China wirkt auf Beobachter von fernen Kontinenten unnötig konfrontativ; die Anrainer in der Region verlangen dagegen ein entschlosseneres Auftreten der USA gegenüber Peking.

Gemeinsam ist diesen Sichtweisen das Erschrecken über die Weltlage und die Frustration, dass nicht einmal die Supermacht USA die schlimmsten Auswüchse verhindern kann. Aus ihnen ergibt sich aber kein Konsens, was der US-Präsident tun könnte und tun sollte, um eine Besserung zu erwirken. Was zu der Frage führt, ob das verbreitete Bild einer angeblichen Handlungsschwäche der USA vor allem auf Obamas persönliche Defizite zurückzuführen ist oder andere Ursachen hat.

Womöglich ist die Weltpolitik 25 Jahre nach dem Zusammenbruch der bipolaren Ordnung so unübersichtlich geworden und sind die Erwartungen an die Politik der Supermacht USA so divers, dass selbst ein Messias sie nicht zu erfüllen vermag. Kommt hinzu, dass es für Obama im Zweifel wichtiger ist, folgenreiche Entscheidungen wie die Kriege George W. Bushs in Afghanistan oder im Irak zu vermeiden, als Amerikas beträchtliches Potenzial dafür einzusetzen, mehr Einfluss auf den Gang der Dinge zu nehmen.

Diese Abwägung lässt die USA schwächer aussehen, als es aus westlicher und auch deutscher Sicht wünschenswert wäre. Maßstab für die Bewertung der Außenpolitik können aber nicht Wünsche sein. Sie muss sich daran orientieren, welche Handlungsoptionen ein Präsident hat. Obama hat das Pech, in Zeiten zu regieren, die diesen Optionen enge Grenzen setzen – wegen des weltweiten Übermaßes todverherrlichender Akteure wie Hamas und IS, der destruktiven Strategie Russlands, das seinen Einfluss nicht auf Konfliktlösung, sondern auf Lösungsverhinderung gründet – und wegen des Erbes, das George W. Bush ihm hinterlassen hat.

Dr. Christoph von Marschall ist Diplomatischer Korrespondent der Chefredaktion des Tagesspiegels. Zuletzt erschien von ihm: „Der neue Obama. Was von der zweiten Amtszeit zu erwarten ist“.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2014, S.68-73

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