Pro & Contra

02. Jan. 2024

Nuklearmacht Europa

Braucht Europa gemeinsame Nuklearwaffen? Ein Für und Wider.

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Pro: Aufbruch zu einer europäischen Selbstverteidigungsunion



Von Eckhard Lübkemeier

Den stichhaltigen Nachweis, dass Europa eine eigene nukleare Abschreckungsfähigkeit braucht, liefern Frankreich und Großbritannien. Sie haben Nuklearwaffen, obwohl sie von der in Artikel 5 des NATO-Vertrags verankerten Beistandszusage der USA profitieren. Nuklearwafen sind ihre ultimative Lebensversicherung, denn in Artikel 5 geben die USA eine Zusage, aber keine Beistandsgarantie.



Das können sie auch gar nicht. Seitdem die USA durch zunächst sowjetische, inzwischen russische und auch chinesische Nuklearwaffen existenziell verwundbar sind, muss jeder US-Präsident im Konfliktfall das Überleben des eigenen Landes über das von Verbündeten stellen. Keine Vorwärtsstationierung von US-Truppen und keine Treueerklärung vermögen den Unterschied zwischen originärer und erweiterter Abschreckung aufzuheben.



Originäre Abschreckung ist der eigenen Existenzsicherung vorbehalten, weil sie vorbehaltlos ist. Hat man nichts mehr zu verlieren, weil das eigene Überleben unmittelbar bedroht ist, muss ein Angreifer mit einer auch für ihn existenzbedrohenden Reaktion rechnen. Richtet sich sein Angriff „nur“ gegen einen Verbündeten, hat ein nuklearer Beschützer immer noch die eigene Existenz zu verlieren. Der Verbündeten gewährte nukleare Schutz ist folglich eine bedingte, erweiterte Abschreckung – ein Versprechen, aber keine Garantie. Deshalb haben Staaten wie Deutschland und andere nichtnukleare NATO-Partner, die ausschließlich auf erweiterte Abschreckung angewiesen sind, eine potenziell existenzbedrohende Sicherheitslücke. Sie zu schließen, erfordert eine unabhängige nukleare Abschreckungsfähigkeit.



So weit, so einleuchtend. Aber nicht so zwingend, denn Logik macht keine Politik. Politik findet statt im Raum widerstreitender Interessen, sie braucht Macht und sollte das Wünschbare nicht über das Machbare stellen. Letzteres gilt erst recht, wenn es um den Schutz vor existenziellen Bedrohungen geht. Deshalb ist die Frage, ob und wie eine nukleare Verselbstständigung Europas zu vertretbaren Kosten und Risiken erreichbar wäre. Zumal Europa nicht ungeschützt ist: Unter dem amerikanischen Nuklearschirm hat es seit Jahrzehnten nicht nur überlebt, sondern gut gelebt. Egon Bahr, der sich mit diesem Zustand nie abfinden wollte, hat es so formuliert: „Es gibt Schlimmeres als das luxuriöse Protektorat mit so großzügiger Mitbestimmung, in dem Europa existiert und in dem die amerikanischen Stützpunkte doch wirklich nicht wehtun.“



Wer das ändern will, braucht starke Gründe. Den ersten liefern Frankreich und Großbritannien. Der zweite folgt daraus. Souverän ist, wer sein Schicksal in der eigenen Hand hat. Wer nicht selbst für seine Sicherheit sorgen kann, hat sein Schicksal nicht in der Hand. Ergo: Souverän können Deutschland und Europa nur sein, wenn sie militärisch sowohl konventionell als auch nuklear auf eigenen Beinen stehen.



Den dritten und akuten Grund liefern die USA. Ihre Verlässlichkeit, uns nuklearen Schutz zu bieten, bröckelt. Zum einen, weil Europas strategischer Stellenwert für sie sinkt: Nicht mehr Russland mit Europa als Vorfeld, sondern China ist für Washington der einzig ernstzunehmende globale Rivale. Zum anderen, weil die USA in einer prekären Verfassung sind: Ihre Spaltung in politisch-weltanschauliche Lager schürt ein Klima der Konfrontation, in dem Donald Trump gute Chancen auf eine Rückkehr ins Weiße Haus hat. Außenpolitisch könnte das ein rücksichtsloses „America First and Only“ bedeuten.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte 2018 erklärt, Europa müsse sein Schicksal selbst in die Hand nehmen. Die Gründe dafür liegen heute noch mehr auf der Hand. Die Ausrede, Europa könne das mangels demografischer, finanzieller und technologischer Ressourcen gar nicht stemmen, zieht nicht, wenn die USA doppelt so viel wie NATO-Europa für Verteidigung aufwenden.

 

Mut und Augenmaß

Der Weg zu europäischer Selbstverteidigung kann nur gelingen, wenn sich Mut mit Augenmaß paart. Eine „deutsche Bombe“ anzustreben hieße, einen Sprengsatz an die EU, die NATO und den nuklearen Nichtverbreitungsvertrag zu legen. Europäische Nuklearwaffen unter Kontrolle eines Präsidenten der „Vereinigten Staaten von Europa“ sind nicht zu erwarten, weil Europas Nationalstaaten nicht bereit sind, in einem Bundesstaat aufzugehen. Es geht nicht um eine Auflösung der NATO, sondern im Gegenteil darum, sie durch einen eigenständigen europäischen Pfeiler und die Entlastung der USA zu stabilisieren. Das umso mehr, weil ein transatlantischer Bruch Amerikas asiatische Verbündete wie Japan und Südkorea dazu verleiten könnte, sich ihrerseits Nuklearwaffen zuzulegen. Das wiederum könnte ebenso wie eine Verselbstständigung Europas, die mit nuklearer Hochrüstung einherginge, die Dämme des nuklearen Nichtverbreitungsvertrags einreißen. Solche und andere Risiken werden sich nicht gänzlich ausschalten lassen. Doch ist auch der Status quo risikobehaftet, und das in steigendem Maße.



Zwei Ecksteine markieren den Weg zu europäischer Selbstverteidigung. Erstens geht es nur mit Frankreich. Eine Beteiligung des ebenfalls nuklearbewaffneten Großbritannien wäre wünschenswert, ist aber nach dem Brexit bis auf Weiteres unwahrscheinlich. Der Einwand, das gelte auch für Paris, ist fragwürdig. Präsident Emmanuel Macron hat wiederholt einen Dialog über die europäische Dimension der französischen Nuklearwaffen angeboten. Solange ihn niemand beim Wort nimmt, lässt sich nicht beurteilen, wie ernst er es meint.



Vor allem aber: Mit Frankreich böte sich die Chance, die Dichotomie von entweder originärer oder erweiterter Abschreckung zu überwinden. Das begünstigt schon die Geografie, denn anders als die USA ist Frankreich ein europäischer Nachbar. Noch wichtiger wäre, dass Frankreich zu einer auf breiter Front vertieften Integrationsgemeinschaft williger EU-Staaten gehörte. Die NATO ist eine zwischenstaatliche Organisation, die EU mit ihrer Mischung aus Inter- und Supranationalität hat eine andere politische Qualität, eine Gruppe integrativ vorausschreitender Staaten erst recht. In ihr würde sich die Frage nach nuklearer Abschreckung in einem anderen Licht stellen: noch keine originäre Abschreckung, weil die alleinige Verfügungsgewalt beim französischen Präsidenten bliebe, aber verlässlicher als erweiterte Abschreckung zwischen ­Nationalstaaten.



Die Initiative dazu müsste von Deutschland und Frankreich kommen. Ihre Gemeinschaft könnte Nukleus und Katalysator einer europäischen Selbstverteidigungsunion sein. Ob das Wünschbare auch machbar wäre, bleibt ungewiss, solange es nicht versucht wurde. Henry Kissinger hat zwei Arten von Realisten ausgemacht: solche, die mit den Fakten umgehen, und solche, die Fakten schaffen. Die Zeit für kreativen Realismus ist gekommen.

 

Contra: Ein ängstliches Unabhängigkeitsbekenntnis führt in die Irre



Von Michael Rühle

Die Aussicht, bald gehenkt zu werden, konzentriert die Gedanken in wundervoller Weise“, schrieb der britische Autor Samuel Johnson vor über 200 Jahren. Zwar ist Europa noch nicht dem Tode geweiht, doch mit einem aggressiven Russland im Osten und einem vielleicht bald wieder unberechenbaren Amerika im Westen befürchten manche das Schlimmste: ein Europa, das ohne den US-Schutzschirm der russischen nuklearen Erpressung wehrlos ausgeliefert wäre. Und so konzentriert man seine Gedanken auf den scheinbar naheliegenden Ausweg aus diesem Dilemma: eine europäische Nuklearstreitmacht.



Der frühere Außenminister Joschka Fischer, der noch vor drei Jahren den Beitritt Deutschlands zum Nuklearwaffen-Verbotsvertrag forderte, will nun ein EU-Kernwaffenarsenal, ebenso der emeritierte Politikprofessor Herfried Münkler, der „einen gemeinsamen Koffer mit rotem Knopf“ zwischen den großen EU-Ländern „wandern“ lassen will. Und die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung verblüffte ihre Leser mit der Aussage, Abschreckung beruhe auf der Fähigkeit zum nuklearen Erstschlag – eine Fähigkeit, über die die britischen und französischen Arsenale jedoch (leider?) nicht verfügten. All dies spielt sich ab in einem Land, dessen Verteidigungshaushalt die NATO-­Richtlinie von 2 Prozent des Brutto­sozialprodukts regelmäßig verfehlt.



Nun aber soll alles anders sein. Schließlich herrscht Krieg in Europa. Putin droht mit Nuklearschlägen. Und während einer zweiten Amtszeit könnte sich Donald Trump noch erratischer gebärden als während der ersten. Europa muss es jetzt richten. Und Hand aufs Herz: War es denn nicht immer schon irgendwie unnatürlich, dass Europa seine nukleare Abschreckung durch eine nichteuropäische Macht garantieren ließ? Ist es nicht endlich an der Zeit, dieses nukleare „Outsourcing“ an die USA zu beenden? Europa wäre dann endlich erwachsen.



Doch auch die aktuelle Aufregung wird sich am Ende als Sturm im Wasserglas herausstellen. Eine europäische nukleare Option bleibt noch auf lange Zeit unerreichbar. Denn erstens gibt es innerhalb der EU keinen nuklearen Konsens, sondern vielmehr einen massiven Dissens über die Legitimität nuklearer Abschreckung. Schweden hat sein antinukleares Kokettieren zwar inzwischen aufgegeben und strebt in die NATO, aber die neutralen Staaten Irland und Österreich versuchen weiterhin, nukleare Abschreckung bei jeder Gelegenheit zu diskreditieren. Damit fällt die EU als „Trägerin“ einer solchen europäischen nuklearen Option aus, zumal das britische Atomwaffenarsenal der EU seit dem Brexit ohnehin nicht mehr zur Verfügung steht. Mehr noch: Ungeachtet der vielbeschworenen „Zeitenwende“ würde eine Diskussion um eine europäische Nuklearmacht in vielen europäischen Staaten heftige Kontroversen auslösen. Europa würde aus dieser Debatte nicht stärker, sondern schwächer hervorgehen.

 

Die Lebenslüge deutscher Sicherheitsdebatten

Zweitens ist die Idee einer Europäisierung der französischen Nuklearwaffen eine der Lebenslügen der deutschen Sicherheitsdebatte. Allein die Tatsache, dass Frankreich das einzige Mitglied der NATO ist, das deren nuklearen Planungsgruppe nicht angehört, spricht Bände über die französische Bereitschaft, die nationale nukleare Abschreckung auf Deutschland oder gar Europa auszuweiten. Französische Nuklearwaffen schützen zuerst und vor allem Frankreich. Einladungen an Berlin zu einem „nuklearen Dialog“ mit Paris sind deshalb auch keine konkreten Angebote zur Ausweitung des französischen Nuklearschirms auf Deutschland. Sie dienen lediglich dazu, die antinuklearen Reflexe des Nachbarn einzuhegen. In Paris erinnert man sich nämlich noch gut daran, dass ein deutscher Außenminister Guido Westerwelle alle Atomwaffen – also auch die französischen – aus Europa verbannen wollte und dafür sogar eine Krise im deutsch-französischen Verhältnis in Kauf nahm.



Drittens benötigt glaubwürdige nukleare Abschreckung konventionelle Stärke. Nukleare Abschreckung wirkt nur, wenn es um existenzielle Interessen geht, bietet aber keinen Schutz gegen Angriffe eines Gegners, der nur begrenzte Ziele verfolgt. Wäre es anders, hätten Ägypten und Syrien 1973 nicht das nuklear bewaffnete Israel angegriffen, und Argentinien hätte 1982 nicht die Nuklearmacht Großbritannien durch die Besetzung der Falkland-Inseln herausgefordert. Diese Konflikte blieben unterhalb der „nuklearen Schwelle“, weil die nationale Existenz des Verteidigers nicht auf dem Spiel stand. Entschieden wurden diese Kriege auf der konventionellen Ebene. Damit wird deutlich, dass eine Investition in Nuklearwaffen ohne Stärkung der konventionellen Fähigkeiten die Sicherheit Europas kaum verbessert. Wie realistisch aber eine konventionelle Aufrüstung Europas ist, lässt sich an den Verteidigungshaushalten ablesen. Auf die Richtlinie von 2 Prozent des BIP kommen aktuell nicht einmal ein Dutzend EU-Staaten. Zählt man die enormen Kosten eines europäischen Nuklearprogramms hinzu, wird klar, dass dieses Vorhaben praktisch nicht finanzierbar ist.



Viertens liegt aufgrund der enormen Zerstörungskraft nuklearer Waffen die Entscheidung über deren Einsatz stets bei der politischen Führung des Kernwaffenstaats selbst. Würde die EU zu einem echten Nationalstaat, wäre ein europäisches Arsenal denkbar. Ein Konsortium von EU-Staaten hingegen, in dem ein solcher Einsatzbefehl gemeinsam beschlossen werden müsste, wäre ein bürokratischer Albtraum, erst recht bei einem „wandernden Koffer“. Ein solcher nuklearer Wanderzirkus würde nie zu einer Entscheidung kommen. Und die Befehlsgewalt dem EU-Außenbeauftragten zu übertragen, wäre auch keine Lösung. Einen gemeinsamen „roten Knopf“ wird es erst dann geben, wenn sich die EU vom Staatenbund zum Bundesstaat entwickelt hat. Und dies wird noch eine Weile dauern.



Fünftens möchten die USA auch unter Trump Weltmacht bleiben. Deshalb hat dieser während seiner ersten Amtszeit zwar viel geredet, aber die nukleare Abschreckung für Europa nicht angetastet. Die unter ihm initiierte „Nuclear Posture Review“ enthielt sogar ein deutliches Bekenntnis zur „erweiterten Abschreckung“ für die Bündnispartner. Nur Amerika unterhält ein weltweites System von Allianzen sowie starke konventionelle Streitkräfte, die einem Gegner signalisieren, dass auch eine Aggression unterhalb der nuklearen Schwelle keinen Nutzen bringt.



Das schließt nicht aus, dass sich Trump künftig noch radikaler gebärdet; doch die Europäer werden durch einen intensiven Dialog mit Washington und durch ein verstärktes nukleares Engagement im Rahmen der NATO vermutlich mehr für ihre Sicherheit erreichen als mit einem ängstlich-trotzigen Bekenntnis zur nuklearen Unabhängigkeit. Wenn Europa glaubt, Amerika werde die transatlantische nukleare Sicherheitsgemeinschaft aufkündigen, und deshalb lieber schon einmal vorbeugend selbst kündigt, riskiert es, nichts zu gewinnen, aber vieles zu verlieren. Wie schon das Sprichwort sagt: Angst ist ein schlechter Ratgeber.

 

 

 

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2024, S. 110-113

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Dr. Eckhard Lübkemeier ist Botschafter a.D. und Gastwissenschaftler bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Er ist Autor der Studie  „Europa schaffen mit eigenen Waffen?“ (2020).

Michael Rühle war bis zu seiner Pensionierung 2023 über 30 Jahre lang in verschiedenen Positionen für die NATO tätig. Zuletzt leitete er die Abteilung für Klima, Energiesicherheit und aufziehende Sicherheitsherausforderungen.

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