Nukleares Rückgrat
Das Atlantische Bündnis setzt zu Recht weiterhin auch auf atomare Abschreckung
Vor der Annexion der Krim durch Moskau war es eine Zeitlang Mode, die „nukleare Dimension“ der NATO infrage zu stellen. Spätestens seit dem Warschauer Gipfel steht jedoch fest: Sie bleibt wichtiger Teil der kollektiven Bündnisverteidigung.
Beim Warschauer NATO-Gipfel im Juli traten die Verbündeten mit dem Anspruch an, Antworten auf die Herausforderungen im Osten und Süden des Bündnisses zu geben. Entsprechend eindeutig waren die Beschlüsse des Gipfels: Die militärische Präsenz der NATO in Mittel- und Osteuropa wird seitdem weiter verstärkt, während man Staaten in Nordafrika und dem Nahen Osten durch ein Paket von Maßnahmen Hilfe bei ihrer inneren Konsolidierung gewähren will.
Der Gipfel war aber auch deshalb mit Spannung erwartet worden, weil man sich von ihm Klarheit über einen Aspekt der NATO-Strategie erhoffte, der bis dahin kaum Erwähnung gefunden hatte: die nukleare Zukunft der Allianz. Der vom doppelten Schock der russischen Annexion der Krim und dem Vormarsch der Terrormiliz „Islamischer Staat“ im Irak und Syrien geprägte NATO-Gipfel in Wales 2014 hatte sich lediglich auf die Umgestaltung der konventionellen Komponente des Abschreckungsdispositivs der NATO konzentriert. Der in Wales beschlossene „Readiness Action Plan“ (RAP) sah zahlreiche Maßnahmen zur Stärkung der Verteidigungsfähigkeit vor, darunter eine neue schnelle Eingreiftruppe sowie eine Zunahme der Übungen in Mittel- und Osteuropa.
Der Plan war nicht zuletzt auf deutschen Druck hin so konzipiert worden, dass er keine irreversiblen militärischen Fakten schuf, die eine Wiederannäherung an Moskau erschwert hätten. Die Entscheidung für eine Strategie, die im Kern auf der raschen Zuführung von Verstärkungskräften beruhte, blieb im Einklang mit der 1997 vereinbarten NATO-Russland-Grundakte, in der sich die NATO verpflichtet hatte, keine substanziellen Kampfverbände dauerhaft in den neuen Mitgliedstaaten zu stationieren. Der RAP war daher nicht nur „reassurance“ für die Verbündeten, sondern auch für Moskau.
Russischer Konfrontationskurs
Dieser Ansatz war vertretbar, solange man auf eine Änderung der russischen Politik hoffen durfte. In dem Maße jedoch, in dem deutlich wurde, dass der russische Konfrontationskurs – einschließlich einer ungewöhnlich aggressiven nuklearen Rhetorik – anhalten würde, geriet der militärisch eher „weiche“ Ansatz des RAP in die Kritik. Zahlreiche Analysen unterstrichen die militärisch prekäre Lage insbesondere des Baltikums und verstärkten damit die Stimmen derer, die nach einem deutlicheren Zeichen des militärischen Beistands verlangten. Die Sorge, Russland könnte durch die Militarisierung Kaliningrads und der Krim die Verstärkungsstrategie der NATO unterlaufen, tat ein Übriges, um das Bündnis zu einer deutlicheren militärischen Profilierung zu zwingen – einer Profilierung, zu der zwangsläufig auch die nukleare Komponente des Abschreckungsdispositivs gehören musste.
Ebenso eindeutig war jedoch auch, dass die NATO weder die rhetorischen Exzesse Moskaus imitieren noch neue Rüstungsentscheidungen verkünden wurde. Im Gegenteil. Während die öffentliche Debatte um die Frage kreiste, ob sich die NATO angesichts der massiven Verletzungen internationalen Rechts durch Russland überhaupt noch an ihre Zusagen aus der NATO-Russland-Grundakte von 1997 zu der Dislozierung konventioneller Streitkräfte in Mittel- und Osteuropa gebunden fühlen sollte, standen die nuklearen Aspekte der Grundakte nie zur Disposition. Die in der Grundakte enthaltene Erklärung, man habe weder die Absicht noch Pläne noch sehe man eine Notwendigkeit für die Stationierung von Nuklearwaffen in den neuen Mitgliedstaaten, wurde nie ernsthaft in Zweifel gezogen. An einer „Nuklearisierung“ der Krise mit Russland war niemandem gelegen.
Mehr noch. Auch die wenigen öffentlichen Hinweise im Vorfeld des Gipfels auf eine Überprüfung der nuklearen Abschreckungsstrategie des Bündnisses waren äußerst zurückhaltend formuliert. So widmete NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg in seiner Rede bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2016 dem Thema Nuklearwaffen nur wenige Zeilen, in denen er die russische Haltung kritisierte und vor dem Irrglauben warnte, Nuklearwaffen in einem konventionellen Konflikt einsetzen zu können, ohne damit die Natur des Konflikts fundamental zu verändern.[1] Diese Aussage nahm bereits die Logik des Warschauer Gipfels vorweg: Das vorrangige Ziel war nicht eine Änderung der NATO-Strategie, sondern eine Warnung an Russland, die eigene militärische Stärke nicht zu über-, die Entschlossenheit der NATO dagegen nicht zu unterschätzen.
Deutliches Bekenntnis
Bei der neuerlichen Betonung der nuklearen Komponente der Abschreckung konnte das Bündnis auf frühere Bemühungen zurückgreifen, die nukleare Komponente der NATO zu konsolidieren. So hatten die Verbündeten bereits im Rahmen der 2012 abgeschlossenen „Deterrence and Defence Posture Review“ (DDPR) über die Zukunft des nuklearen Dispositivs der NATO debattiert. Die DDPR war erforderlich geworden, weil einige Europäer, darunter nicht zuletzt der damalige deutsche Außenminister Guido Westerwelle, Kritik an der nuklearen Dimension der NATO geübt und den Abzug der in Europa stationierten amerikanischen Nuklearwaffen gefordert hatten. Der DDPR-Prozess hatte diese potenziell selbstzerstörerische Debatte nicht nur allianzpolitisch entschärft; er endete auch mit einem überraschend deutlichen Bekenntnis zur nuklearen Abschreckung als Rückgrat der NATO-Strategie sowie zur fortgesetzten Stationierung substrategischer Kernwaffen in Europa im Rahmen der so genannten „nuklearen Teilhabe“.[2]
Allerdings war der nukleare Kontinuitätsanspruch der DDPR noch vor dem Hintergrund eines kooperativen Sicherheitsumfelds formuliert worden, das seit der Annexion der Krim durch Russland nicht mehr existiert. Einige Beobachter hatten daher schon früh darauf hingewiesen, dass einige Aussagen der DDPR nicht mehr zeitgemäß seien und folglich im Lichte der neuen Lage überprüft werden müssten.[3] Diese Überprüfung vollzog sich im Rahmen einer umfassenden Analyse der russischen Außen- und Sicherheitspolitik und ihrer Konsequenzen für die NATO. Diese Analyse, die sich über rund ein Jahr erstreckte, bot nicht nur die Gelegenheit zu einem umfassenden Meinungsaustausch der Verbündeten über die unterschiedlichen Dimensionen der russischen Herausforderung, sondern schuf auch eine Grundlage für die Formulierung politischer und militärischer Antworten.
Dass diese Antworten gleichwohl kaum über die Feststellungen der DDRP hinausgehen würden, war abzusehen. Im Gipfelkommuniqué von Warschau wiederholten die Verbündeten die Aussage, dass die NATO eine „nukleare Allianz“ bleiben würde, solange Kernwaffen existierten.[4] Der Hinweis auf die Rolle amerikanischer strategischer Nuklearstreitkräfte als „supreme guarantee“ der Sicherheit der Verbündeten war ebenso wenig neu wie der auf die unabhängigen Nuklearstreitkräfte Großbritanniens und Frankreichs. Die Gipfelerklärung erwähnt auch die in Europa stationierten amerikanischen Nuklearwaffen und ihre Trägerflugzeuge und stellt fest, man werde die „breitestmögliche“ Beteiligung der einschlägigen Verbündeten bei der nuklearen Lastenteilung sicherstellen. Wie bereits in Stoltenbergs Rede bei der Münchner Sicherheitskonferenz hebt das Dokument auch den „einzigartigen“ Charakter von Nuklearwaffen hervor und betont, dass jeder Einsatz gegen die NATO die Natur eines Konflikts „fundamental verändern“ würde.
Über konkrete Einzelheiten verraten die Gipfeldokumente erwartungsgemäß nichts. Aussagen über Änderungen des Bereitschaftsgrads bestimmter Waffensysteme wird man daher ebenso wenig in öffentlichen Gipfelerklärungen finden wie Veränderungen in der Übungspraxis.[5] Dennoch sendet die Tatsache, dass das Warschauer Kommuniqué keine großen Neuerungen enthält, ein klares Signal: Das Ziel der NATO in Warschau war nicht eine Änderung ihres nuklearen Dispositivs, sondern die nachdrückliche Bestätigung des Prinzips nuklearer Abschreckung als untrennbarer Bestandteil der kollektiven Bündnisverteidigung. Die Betonung der nuklearen Abschreckung im Zusammenhang mit Artikel 5 des Washingtoner Vertrags, aber auch die Aussage, dass niemand an der Bereitschaft des Bündnisses zweifeln sollte, für die Sicherheit seiner Mitglieder einzustehen, weisen allesamt in diese Richtung.
Der nukleare „acquis“ der NATO wird sich daher zumindest kurzfristig nicht ändern. Neben den strategischen nuklearen Fähigkeiten der drei in der Allianz vertretenen Kernwaffenstaaten werden substrategische Nuklearwaffen im Rahmen der nuklearen Teilhabe auch weiterhin einen Teil des nuklearen Dispositivs der NATO darstellen. Denn auch wenn diese Konzeption auf die sechziger Jahre zurückgeht, so entspricht sie den Allianzerfordernissen nach wie vor besser als jede denkbare Alternative. Dies gilt für die Einsatzflexibilität von Flugzeugen ebenso wie die Möglichkeit, durch ihre entsprechende Verlegung in Krisenzeiten politische und militärische Signale zu senden. Ihr Einsatz verlangt nach verschiedenen Unterstützungsmaßnahmen (z.B. die Bekämpfung der gegnerischen Luftabwehr), wodurch weitere nichtnukleare Verbündete in die Mission integriert werden können. So wird ein Grad an Gemeinsamkeit erreicht, der die Bündnissolidarität militärisch wie politisch in besonderer Weise unterstreicht.[6]
Absehbare Kritik
Dass das zu erwartende Bekenntnis der NATO zur Fortsetzung der nuklearen Teilhabe schon lange vor dem Warschauer Gipfel zahlreiche mehr oder weniger qualifizierte Kritiker auf den Plan rufen würde, war abzusehen. Waren viele dieser Kritiker in der Vergangenheit gegen die nukleare Teilhabe mit dem Argument zu Felde gezogen, die Kombination aus Flugzeugen und Bomben sei ein militärischer Anachronismus und ihre Abschaffung folglich ohne einen Verlust an Sicherheit möglich, so argumentiert man heute genau umgekehrt: Die Kombination aus moderneren Trägerflugzeugen und einem überarbeiteten Bombentyp eröffne völlig neue militärische Optionen und sei daher abzulehnen.[7] Bereits diese argumentative Kehrtwende lässt erahnen, warum die Kritiker nicht allzu viel Gehör finden werden, heiligt hier doch offenbar der antinukleare Zweck die analytischen Mittel.
Von mindestens ebenso großer Bedeutung wie die Aufrechterhaltung bestehender nuklearer Arrangements dürften Maßnahmen sein, um den Kenntnisstand innerhalb der Allianz über nukleare Fragen, insbesondere über die Herausforderungen nuklearer Abschreckung, wieder zu verbessern. Überspitzt formuliert geht es darum, zwei Jahrzehnte nuklearen Desinteresses aufzuholen. Und schließlich wird sich die NATO wieder intensiver mit dem Kommunikationsaspekt nuklearer Abschreckung befassen müssen. Sich auf ein „deterrence messaging“ zu einigen, das Russland von militärischen Abenteuern abhält und damit die geografisch exponierten Verbündeten in Osteuropa beruhigt, zugleich aber auch die Westeuropäer nicht beunruhigt, dürfte zu den großen Herausforderungen der kommenden Monate und Jahre gehören.
Die neuerliche Betonung des Abschreckungsprinzips bedeutet nicht, dass die Verbündeten ihrem proklamierten Ziel, die Bedingungen für eine nuklearwaffenfreie Welt zu schaffen, entsagt hätten. Es entbehrt zwar nicht einer gewissen Ironie, dass die Stärkung der nuklearen Abschreckung der NATO von einer amerikanischen Administration propagiert wird, die einst mit der kühnen Vision einer nuklearwaffenfreien Welt angetreten war; doch auf beiden Seiten des Atlantiks hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Bedingungen für eine solche Welt auf absehbare Zeit nicht existieren werden. Wie das Warschauer Gipfelkommuniqué feststellt: „Wir bedauern, dass die Bedingungen für Abrüstung derzeit nicht günstig sind.“ Ähnliches dürfte auch für die völkerrechtliche Ächtung von Nuklearwaffen gelten. Auch wenn einige Verbündete einschlägigen Initiativen Sympathien entgegenbringen mögen: Der Zeitpunkt für eine Delegitimierung westlicher Sicherheitspolitik wäre denkbar ungünstig gewählt – nicht zuletzt deshalb, weil „gelenkte Demokratien“ (Wladimir Putin) durch derartige Initiativen kaum in Zugzwang kommen dürften.
Kurzum: Der Warschauer Gipfel der NATO hat weder eine neue „Nuklearisierung“ des Bündnisses noch des NATO-Russland-Verhältnisses eingeläutet. Er hat lediglich die Bedeutung der nuklearen Abschreckung als Teil der kollektiven Bündnisverteidigung in Erinnerung gerufen – eine Bedeutung, die manche in der westlichen „strategic community“ leichtsinnigerweise glaubten, vergessen zu können.
Michael Rühle leitet das Referat Energiesicherheit in der NATO-Abteilung für Neue Sicherheitsherausforderungen. Er gibt ausschließlich seine persönliche Meinung wieder.
[1] Rede des NATO-Generalsekretärs Jens Stoltenberg auf der Münchner Sicherheitskonferenz, 13.2.2016 (http://www.nato.int/cps/en/natohq/opinions_128047.htm?selectedLocale=en).
[2] Vgl. Deterrence and Defence Posture Review, 20.5.2012 (http://www.nato.int/cps/en/natolive/official_texts_87597.htm).
[3] Vgl. Karl-Heinz Kamp, Nuclear Implications of the Russian-Ukrainian Conflict, NATO Defense College Report No. 3, April 2015.
[4] Abschlusskommuniqué des Warschauer NATO-Gipfels, NATO Press Release (2016) 100, 8.7.2016, (http://www.nato.int/cps/en/natohq/official_texts_133169.htm?selectedLoc…).
[5] Vgl. Camille Grand, „Nuclear deterrence and the Alliance in the 21st century“, NATO Review (http://www.nato.int/docu/review/2016/Also-in-2016/nuclear-deterrence-al…).
[6] Vgl. Michael Rühle, Der Klügere rüstet nach, Internationale Politik, November 2008.
[7] Vgl. Julia Berghofer, Die Hemmschwelle sinkt, Internationale Politik, Mai/Juni 2016.