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01. Mai 2010

Nukleare Dilemmata der NATO

Neue Strategien nach START

Westerwelles Forderung nach einem Abzug der amerikanischen Nuklearwaffen aus Deutschland hat viel Kritik hervorgerufen. Denn er kam, unabgestimmt mit den Bündnispartnern, in einer Zeit, in der intensiv über das Ziel einer atomwaffenfreien Welt und die neue NATO-Strategie diskutiert wird – über Abschreckung, Abrüstung und Abwehr.

Alte Ängste und neue Bedrohungen führten zu dem Wunsch nach Neudefinition von alliierter Solidarität. Nukleare Fragen standen dabei zunächst nicht zur Debatte. Denn der „nukleare Acquis“ war in den vergangenen Jahren innerhalb der NATO unumstritten. Die Prager Rede von US-Präsident Barack Obama im April 2009 hat jedoch ein Dilemma erzeugt: Einerseits soll die auf Europa erweiterte Abschreckung, wie Obama betonte, im Übergang zu einer nuklearwaffenfreien Welt weiterhin Bestand haben. Andererseits gilt es, die Bemühungen um Abrüstung nicht zu konterkarieren, sondern die Nichtverbreitungspolitik aktiv zu unterstützen.

Diesem Ziel dient das neue amerikanisch-russische START-Abkommen. Beide Verhandlungspartner einte das Interesse, das Aufkommen neuer Atommächte zu verhindern und das Nichtverbreitungsregime zu stärken. Dies wird ohne tiefgreifende Abrüstung der beiden größten Atomwaffenbesitzer nicht gelingen. Neben der Festlegung der Obergrenzen für Trägersysteme und Gefechtsköpfe – über die relativ schnell Einigkeit erzielt werden konnte – waren lange Zeit wichtige Fragen hinsichtlich der Verifikation des Abkommens strittig. Ungeklärt blieb über zahlreiche Verhandlungsrunden in Genf hinweg die Behandlung des Reizthemas Raketenabwehr.

Washington akzeptierte die russische Forderung, im Vertrag die Beziehung zwischen defensiven und offensiven Systemen aufzugreifen, wollte dadurch aber eigene Pläne zum Aufbau einer Raketenabwehr nicht begrenzen lassen. Darüber hinaus mussten komplexe Details im Vertragstext, in technischen Anhängen und Protokollen geklärt werden. Die Genfer Gespräche standen dabei unter Zeitdruck: Am 3. Mai begann die Überprüfungskonferenz des Nuklearen Nichtverbreitungsvertrags. Sollten die positiven Ergebnisse der nuklearen Abrüstung und Rüstungskontrolle genutzt werden, musste die einmal erreichte Dynamik erhalten werden.

Abschreckung versus Abrüstung

Das neue START-Abkommen ist ein erster Erfolg der Abrüstungsagenda von Präsident Obama. Die Absicht des deutschen Außenministers Guido Westerwelle durch die Forderung nach einem Abzug amerikanischer Nuklearwaffen aus Deutschland das Ziel einer atomwaffenfreien Welt zu unterstützen, ist im Kontext einer Abrüstungsdynamik verständlich. Dementsprechend wurde die Abzugsforderung im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und FDP in den Zusammenhang neuer Abrüstungs- und Rüstungskontrollabkommen eingebettet und sollte im Zuge der Ausarbeitung des neuen Strategischen Konzepts der NATO konkretisiert werden.

Offenbar wurde die Initiative jedoch nicht mit den Bündnispartnern abgestimmt, wie entsprechende Reaktionen zeigten: US-Außenministerin Hillary Clinton warnte in einer Grundsatzrede zur NATO-Strategie davor, die nukleare Abschreckung in Frage zu stellen. Es sei bekannt, dass es in Europa eine Debatte in einigen führenden Mitgliedsländern darüber gebe, was das bedeute. Die amerikanische Außenministerin drückte diplomatisch ihre Hoffnung aus, „dass es keine voreiligen Schritte gibt, die unsere Abschreckungsfähigkeit unterminieren würden“.1 Clinton nannte kein Land namentlich, ein amerikanisch-britisches Autorenteam erklärte aber eindeutig, Deutschland habe die Büchse der Pandora geöffnet. Berlin agiere zudem einseitig und unverantwortlich auf Kosten anderer NATO-Staaten.2

Deutsche Sicherheitsexperten kritisierten daraufhin, dass deren Analyse auf überholten Bedrohungsperzeptionen basiere, und befürworteten, auch wenn sie manche Kritik teilten, eine rüstungskontrollpolitische Lösung: Mit dem Abzug amerikanischer Nuklearwaffen solle ein Abbau der russischen substrategischen Waffen verknüpft werden. Nur dann diene ein Abzug amerikanischer Systeme der Sicherheit und sei nicht nur Ausdruck eines Egoismus, der in einer Mischung aus Angst vor dem Risiko und populärem Impetus die Bündnissolidarität hintanstelle.

Schwerwiegender als die Irritation der angelsächsischen Verbündeten durch das deutsche Vorgehen war jedoch die Vernachlässigung der sicherheitspolitischen Empfindlichkeiten osteuropäischer NATO-Partner, die sich, wie Christoph Bertram formulierte, „auf die ewige Friedfertigkeit ihres großen Nachbarn Russland noch nicht verlassen wollen“. Sie fürchten von jeder Minderung amerikanischer Abschreckungsmittel in Europa einen Verlust an eigener Sicherheit.3

Für einige NATO-Mitglieder haben amerikanische Nuklearwaffen auf europäischem Boden einen hohen, wenn auch in erster Linie politisch-symbolischen Wert. Denn sie werden als Gewähr dafür gesehen, dass es Amerika ernst meint mit der Aufrechterhaltung der nuklearen Abschreckung. Insofern ist der Kerngedanke erweiterter Abschreckung im Sinne einer Koppelung amerikanischer und europäischer Sicherheit weiter lebendig. Die politische Elite in Warschau bemüht sich seit langem um die Stationierung amerikanischer Truppen in Polen, weil Zweifel an der Festigkeit des Bündnisses herrschen. Im Kalten Krieg wurden derartige Unsicherheiten durch die Präsenz amerikanischer Nuklearwaffen in Westeuropa auszuräumen versucht. Dies ist im Falle Polens ausgeschlossen, denn die NATO hat sich gegenüber Moskau verpflichtet, keine Atomwaffen auf dem Territorium neuer Mitglieder zu stationieren.

Außenminister Guido Westerwelle scheint bemüht, an die populäre Abrüstungspolitik vergangener Zeiten anzuknüpfen. Seine Initiative war aber nicht der im Koalitionsvertrag genannten Grundlage deutscher Außenpolitik förderlich – der „Idee des Westens“ und seiner Institutionen. Der amerikanisch-britische Vorwurf sicherheitspolitischen Trittbrettfahrens – Abzug amerikanischer Nuklearwaffen unter Aufrechterhaltung der nuklear abgestützten Sicherheitsgarantie – wird unter diesem Aspekt betrachtet verständlich. Denn die deutsche Initiative verschärft eher das Dilemma als zur Lösung in einer kritischen Phase der Neudefinition alliierter Solidarität beizutragen. So könnten sich andere NATO-Staaten wie Belgien und die Niederlande nun, auf das deutsche Vorgehen berufend, der anstehenden Modernisierung ihrer nuklearwaffenfähigen Trägersysteme entziehen. Der Allianz bleibt die unbequeme Antwort auf weiter bestehende Bedrohungsperzeptionen neuer NATO-Mitglieder überlassen.

Die bisherige NATO-Strategie lässt offen, ob, wann und wie die NATO als Reaktion auf einen Angriff Nuklearwaffen einsetzen wird. Diese Ambiguität war schon im Sicherheitsklima der neunziger Jahre schwer zu vermitteln. Der Kompromiss, der die aktuelle NATO-Strategie prägt, basiert auf der Erkenntnis, dass eine verringerte Abstützung auf Kernwaffen als letztem Mittel der Wahl erforderlich ist. Kernwaffen haben für militärische Überlegungen erheblich an Bedeutung verloren. Angesichts der konventionellen Stärke der NATO könnten sie daher in Zukunft nur noch zur Abschreckung gegenüber anderen Nuklearwaffenstaaten dienen. Letztlich gestattet es die derzeitige Lage aber noch nicht, sich für eine populäre Handlungsrichtung – atomare Abrüstung – zu entscheiden, ohne die von manchen als negativ empfundenen Nachteile der anderen – atomare Abschreckung – in Kauf zu nehmen.

Abrüstung versus Abwehr

Der Aufbau einer Raketenabwehr soll schrittweise die Abhängigkeit von der atomaren Abschreckung verringern und konventionelle Handlungsoptionen ermöglichen. Dies eröffnet im Abrüstungskontext aber neue Zielkonflikte. Denn Moskau blockierte lange den Abschluss des neuen START-Abkommens, weil es diese Abwehroption begrenzen wollte. Letztlich ist das Dilemma Abrüstung versus Abwehr im Kontext europäischer Sicherheit – und damit transatlantischer Sicherheit im 21. Jahrhundert – nur mit Russland zu lösen. Die Bereitschaft zur Kooperation hat  Obama mehrfach erklärt. Auch in seiner Präsidentschaft wird sich jedoch die Frage nach Art und Umfang einer Partnerschaft mit Moskau nicht lösen lassen. Zu groß sind die Besorgnisse ehemaliger Staaten des Warschauer Paktes, die eine übermäßige Annäherung – oder gar ein Angebot zum NATO-Beitritt Russlands – ablehnen.

Sollte Moskau nicht zu einer vertieften Zusammenarbeit bereit sein, dürfte das Thema Raketenabwehr kontrovers bleiben und eine weitergehende Abrüstung blockieren. Schließlich bedeutet die Entscheidung von Präsident Obama, frühere Pläne einer Stationierung in Polen und Tschechien aufzugeben, keinen Verzicht auf Raketenabwehr in Europa. Vielmehr ist Obamas Planung umfassender als das Programm der Bush-Administration und militärisch flexibler an Bedrohungen anzupassen; zudem enthält sie bewährte und kostengünstigere Fähigkeiten. Seine Entscheidung entsprach einer nüchternen Abwägung: Zuvor war eine Raketenabwehr geplant, deren Technik noch nicht funktionierte, gegen eine Bedrohung aus dem Iran, die nicht unmittelbar existierte, zu Kosten, die unkontrollierbar waren. Die vorgesehenen Standorte verhinderten zudem eine Einigung mit Moskau auf den START-Nachfolgevertrag und mögliche, schärfere Sanktionen gegen den Iran. Insofern war die Entscheidung kein Rückzug, sondern Teil einer strategischen Neuorientierung. Die exakte Formulierung über den Zusammenhang von Offensiv- zu Defensivwaffen im neuen START-Vertrag und ihre Interpretation in Moskau und Washington wird entscheidend für die Ratifikationsdebatte sein, deren negativer Ausgang eine weitergehende Abrüstung nachhaltig blockieren würde.

Ein neuer konventionell-nuklearer Acquis?

Soll das Ziel einer atomwaffenfreien Welt konsequent verfolgt werden, müssten – nach erfolgreicher Ratifikation des START-Abkommens durch den US-Senat und die russische Duma – Gespräche über substrategische Nuklearwaffen folgen. Aufgrund seiner konventionellen Schwäche wird Moskau in diesem Bereich nicht zu einer Null-Lösung bereit sein.

Ein realistisches Ziel könnten daher niedrigere Obergrenzen sein. Da diese aufgrund der unterschiedlichen Waffenumfänge kaum auf symmetrischer Grundlage vereinbart werden können, müssten Ausgleichsmöglichkeiten gefunden werden. Eine Verhandlungslösung würde voraussetzen, dass die Schwäche russischer konventioneller Streitkräfte berücksichtigt wird – ein in mehrfacher Hinsicht schwieriges Mandat. Als erster Schritt wäre daher im Kontext einer Wiederbelebung konventioneller Rüstungskontrolle ein höheres Transparenzniveau vertrauensbildend. Denn nach wie vor besteht große Unsicherheit über den Umfang russischer nichtstrategischer Kernwaffen. Ihr aktiver Bestand wird auf über 2000 Nuklearwaffen geschätzt, mit der überwiegenden Zahl im europäischen Teil Russlands. Dagegen verfügen die USA über etwa 150 bis 240 Gefechtsköpfe in Europa (davon 10 bis 20 Bomben im Fliegerhorst Büchel/Rheinland-Pfalz, deren Abzug gefordert wird).

Schrittweise das Nuklearwaffenpotenzial durch Abrüstung und Rüstungskontrolle in eine stabile Ordnung auf geringstmöglichem Niveau und eines Tages auf Null zu überführen, bleibt ein lohnenswertes Ziel. Bis zu diesem Zeitpunkt wird aber auch Deutschland nicht völlig „atomwaffenfrei“ sein. Denn selbst wenn alle Nuklearwaffen abgezogen würden, bleibt Deutschland auf die nukleare Abschreckung angewiesen. Die radikale Gegenposition konsequent zu Ende gedacht, würde bedeuten, dass die Bundesrepublik auf Sicherheitsgarantien verzichtet, die jahrezehntelang den Schutz seiner Bevölkerung gewährleistet haben.

Es hängt nicht zuletzt von Moskau ab, ob der beabsichtigte „Dreiklang aus Abrüstung, Abschreckung und Abwehr“4 im Schlussakkord einer Welt ohne Atomwaffen oder in einer schrillen Disharmonie enden wird. Im partnerschaftlichen Dialog mit Russland sind dazu strategische Geduld und Hartnäckigkeit maßgebliche Voraussetzungen für einen Erfolg in den nächsten Jahren.

Dr. MICHAEL PAUL ist Senior Fellow bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.

  • 1Hillary Rodham Clinton: Remarks at the NATO Strategic Concept Seminar, Washington DC, 22.2.2010, www.state.gov/secretary/rm/2010/02/137118.html.
  • 2Franklin Miller, George Robertson und Kori Schake: Germany Opens Pandora’s Box, London: Centre for European Reform, Februar 2010, www.cer.org.uk/pdf/bn_pandora_final_8feb10.pdf.
  • 3Christoph Bertram: Der ungestüme Abrüster, ZEIT Online, 16.2.2010; Klaus Naumann: Der realistische Weg zu einer Welt ohne Atomwaffen, FAZ, 16.2.2010.
  • 4Vgl. Michael Paul und Oliver Thränert: Abrüstung, Abschreckung und Abwehr. Die neue US-Nukleardoktrin – Abstimmungsbedarf in der Allianz, SWP-Aktuell, Berlin, März 2010.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2010, S. 95 - 99

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