Notizen aus einem gespaltenen Land
Tradition oder Moderne? Religion oder Laizismus? Demokratie oder Diktatur? Regionalmacht oder Teil des Westens? Drei Standortbestimmungen zum Jahrestag der türkischen Republik.
Am 29. Oktober 2023 hat die Türkei ihr 100-jähriges Bestehen gefeiert. Für türkische Politiker war das jahrelang ein rhetorischer Fluchtpunkt, kaum eine Rede kam ohne Verweis auf das Jubiläum aus. Was sollte bis dahin nicht alles erreicht werden! Recep Tayyip Erdoğan hatte seinen Wählern schon als Ministerpräsident im Jahr 2011 versprochen, bis zum runden Geburtstag werde die Türkei zu den zehn stärksten Volkswirtschaften der Welt gehören. 2012 verkündete er, bis 2023 werde sein Land der EU angehören. Trommelwirbel, Tusch!
Feuerwerk und so weiter
Doch am Ende kam der große Tag dann unerwartet leise daher. Der Festakt war natürlich pompös: Fliegerstaffeln, Kriegsschiffe, die durch den Bosporus paradierten, Feuerwerk und so weiter. Hunderttausende strömten auf die Anhöhen rund um die Istanbuler Meerenge, um dem Spektakel beizuwohnen. Die Menschen hatten ihr Volksfest, aber eine unbeschwerte Feier war es nicht. Das mag am Gaza-Krieg gelegen haben, der in der Türkei viele bewegt. Auch die Wirtschaftskrise drückte auf die Stimmung. Der Traum, zu den stärksten zehn Volkswirtschaften zu gehören, ist vorerst ausgeträumt.
Vor allem aber hat der Jahrestag erneut gezeigt, wie umkämpft die nationale Erzählung der Türkei bis heute ist, und wie polarisiert die Gesellschaft. Es waren eben auch: hundert Jahre voller Widersprüche – Atatürk und Erdoğan, säkular und islamistisch, Anspruch und Wirklichkeit.
Präsident Erdoğan legte am Mausoleum von Staatsgründer Atatürk den obligatorischen Kranz nieder, doch seinen Kritikern reichte das nicht. Allein schon, dass die ganz große Show in der alten Osmanen-Metropole Istanbul stattfand und nicht in Ankara, war für Atatürk-Verehrer ein Affront. Nicht mal bei den Begriffen war man sich einig: Die säkulare Opposition sprach vom „Zweiten Republikanischen Jahrhundert“ und betonte die Kontinuität, Erdoğans AKP-Regierung feierte das „Türkische Jahrhundert“ und den Beginn einer neuen Ära. Offenkundig feierten die beiden Lager verschiedene Dinge.
Fatale Geburtsfehler
Atatürk und Erdoğan – das sind historisch und ideologisch die Pole, zwischen denen sich das Land bewegt. Der eine formte aus den Trümmern des Osmanischen Reiches einen laizistischen, aber nur bedingt demokratischen Nationalstaat; der andere regiert seit 2002 ununterbrochen und verwandelt die Türkei immer mehr in eine Autokratie, in der es Wahlen, aber keine echte Gewaltenteilung mehr gibt.
Wie weit hat sich die Türkei von ihren Wurzeln entfernt? Was bleibt von Atatürks Erbe? Nichts ist in der Türkei heute so umstritten wie die Geschichte, die sich das Land über sich selbst erzählen möchte. Drei lesenswerte Neuerscheinungen nehmen den Jahrestag zum Anlass für eine Standortbestimmung.
Atatürk war nicht nur Staatsgründer, er war auch ein radikaler Reformer, der die Gesellschaft mit harter Hand transformierte. In seinem Bestreben, den Menschen das Osmanische Reich und vor allem die Religiosität endgültig auszutreiben, verpasste er der jungen Republik eine Reihe fataler Geburtsfehler. Die Journalistin Çiğdem Akyol beschreibt in „Die gespaltene Republik“ eindrucksvoll, wie sich diese frühen Bruchlinien bis heute auswirken. Sie geht dabei chronologisch vor, beleuchtet aber die wichtigsten türkischen Triggerpunkte in Hintergrundkapiteln – etwa die Kopftuchdebatte, die zwiespältige Rolle der Religionsbehörde oder die ewig politisierte Justiz.
Akyol hat für ihr Buch nicht nur mit Erdoğan-Kritikern gesprochen, sondern auch mit regierungsnahen Personen. Diese Gespräche machen ihr Buch anschaulich und gerade auch für Türkei-Neulinge gut lesbar; sie verleihen ihm auch besondere Glaubwürdigkeit. So lässt Akyol etwa den früheren Diplomaten und Außenminister Yaşar Yakış zu Wort kommen, der 2001 zum Gründerkreis von Erdoğans AKP gehörte. Yakış trieb jahrelang den EU-Beitrittsprozess voran, der seinerzeit ganz oben auf der Agenda stand. Akyol macht aber auch klar, dass Erdoğans EU-Kurs seine Partei vor allem gegen die alten Eliten und das Militär absichern sollte. In dem Maße, in dem diese Kräfte entmachtet wurden, erlahmte sein Interesse.
Atatürk, schreibt Akyol, habe sich wohl kaum gewünscht, dass einmal ein Präsident an die Macht gelangen würde, dessen Frau selbstbewusst Kopftuch trägt – so wie Erdoğans Frau Emine. „Atatürks Vorstellung von einer modernen türkischen Identität unterscheidet sich fundamental von der Erdoğans. Der eine denkt säkular, der andere fromm. Dabei haben beide Männer einiges gemeinsam: Nicht nur Atatürk hatte ein autokratisches Politikverständnis, dies trifft auch auf Erdoğan zu. (…) Wie Atatürk sieht sich auch Erdoğan als Stifter einer neuen türkischen Identität – aber auf völlig andere Weise: Während Atatürks Ideal eine westliche türkische Gesellschaft war, ist Erdoğans Wunsch, dass eine religiöse Generation heranwächst.“
Gigantische Schaukel
Dieser Einschätzung würde sich der türkische Autor und Journalist Can Dündar wohl anschließen. Auch er hat eine Geschichte der Türkei geschrieben, sie trägt den Titel „Die rissige Brücke über den Bosporus“. Was zunächst nach abgedroschener Metaphorik klingt, ist dann doch ein treffendes Bild. Dündar schildert Atatürks Bestreben, eine Nation zu erschaffen, und verschweigt nicht, wie brachial der „Vater der Türken“ dabei vorging. Er zeichnet die Wirren nach Atatürks Tod nach, den Übergang zum Mehrparteiensystem – und die fast schon mit unheimlicher Regelmäßigkeit wiederkehrenden Eingriffe des Militärs.
Dündar vergleicht sein Land mit einer gigantischen Schaukel, die zwischen Europa und Asien hin- und herpendele. „Die mitunter blutigen Konflikte zwischen Ost und West, Asien und Europa, Tradition und Moderne, Glaube und Verstand, Frömmigkeit und Laizismus, Religionsgemeinschaft und Nation“ hätten die Türkei in die Spaltung geführt.
Der Autor sieht den größten Fehler Atatürks darin, den Menschen die Modernisierung ohne Rücksicht auf ihre Lebenswirklichkeit aufgezwungen zu haben. Eine derart radikale Kulturrevolution sei von der frommen, ländlichen Bevölkerung nie wirklich angenommen worden. Infolge dieser Fehlentwicklungen taumele die Türkei permanent „zwischen Kaserne und Moschee“. Das Militär habe geputscht, um den laizistischen Charakter des Landes zu bewahren, doch am Ende sei es ihm nicht gelungen, den Vormarsch des politischen Islam aufzuhalten, während das Militär und die säkularen Eliten heute entmachtet seien.
Dündar hat einen unverwechselbaren Stil – bildhaft, anekdotenreich und voller Bonmots (wie immer toll übersetzt von Sabine Adatepe). Dass seine Geschichte der Türkei auch eine sehr persönliche ist, macht den Reiz des Buches aus. 2015 enthüllte Dündar, damals noch Chefredakteur der Zeitung Cumhuriyet, dass der türkische Geheimdienst illegal Waffen an syrische Dschihadisten lieferte. Seither verfolgt ihn die Justiz. Seit 2017 lebt er in Deutschland im Exil, 2020 wurde er in Abwesenheit zu 27 Jahren Haft verurteilt. Dündar beschreibt sein Schicksal mit einer gewissen Lakonie, aber da ist auch viel Schmerz spürbar über die verlorene Heimat.
Bei Dündar gibt es immer eine Geschichte hinter der Geschichte; stets sind da verborgene Kräfte, die andere Interessen verfolgen als die gewählten Volksvertreter. Immer wieder greift nicht nur das Militär, sondern der „tiefe Staat“ gewaltsam ins Geschehen ein. Manches klingt so abenteuerlich, dass man es kaum glauben mag, und einiges ist, wie Dündar selbst einräumt, bis heute nicht aufgeklärt. Vieles aber ist durchaus belegt, auch dank der Beharrungskraft türkischer Investigativjournalisten.
Es wimmelt jedenfalls nur so von politischen Morden, erpresserischen Sex-Tapes, Abhörskandalen und fragwürdigen Herzinfarkten. Das liest sich natürlich sehr saftig, vor allem aber entsteht dabei das trübe Bild eines Staates, der seinen Bürgern nicht traut – und dem auch die Bürger nicht vertrauen können.
Dündar macht keinen Hehl aus seiner Enttäuschung über den Westen, vor allem über Europa. „Um kurzfristiger Interessen willen mischten sich die USA in die Politik ein und setzten gegen den Kommunismus auf die Islam-Karte, ohne die Verhältnisse in der Region zu kennen; (…) die EU hielt ihre Tore viele Jahre verschlossen“, klagt er. Die EU habe nicht die demokratischen Kräfte unterstützt, sondern „Erdoğan in seinem liberalen Kostüm; als man die Wahrheit erkannte, verschloss man um eigener Vorteile willen die Augen vor seinem Repressionsregime“. Vor allem die Kooperation mit Ankara in der Flüchtlingsfrage nach 2015 ist für Dündar ein Sündenfall. Kein Wunder, dass die Zustimmung zu einer EU-Mitgliedschaft so niedrig sei wie nie; Erdoğan nutze diese Stimmung, um sich autoritären Regimen in Russland und Nahost anzunähern.
Veränderte Kalkulation
Buch Nummer drei, „Abschied von Atatürk“, führt das Ende einer Ära bereits im Namen. Erdoğan, schreiben Günter Seufert und Christopher Kubaseck gleich auf der ersten Seite, sehe sich eher in einer Linie mit den osmanischen Sultanen, nicht mit Atatürk. Denn während für ihn das Reich der Osmanen „unwiderrufliche und unrühmliche Vergangenheit“ war, seien für Erdoğan die letzten hundert Jahre „nur eine Art Betriebsunfall der türkischen Geschichte, den es zu reparieren gilt“. Das zeige sich unter anderem in seiner revisionistischen Rhetorik, etwa wenn er den Vertrag von Lausanne und damit die griechisch-türkischen Seegrenzen infrage stelle.
Auch was die Bedeutung der Religion angehe, geriere sich Erdoğan als „Anti-Atatürk“. Interessant ist die Ambivalenz, die die Autoren beschreiben: Denn den Staatsgründer allzu offen zu kritisieren, traue sich Erdoğan dann doch nicht – zu populär ist er bis heute bei zu vielen. Erdoğans Lösung: Statt ihn vom Sockel zu stürzen, tritt er in seine Fußstapfen. So deutet die Regierung den versuchten Putsch 2016 als Versuch des Westens, das Land erneut – wie nach dem Ersten Weltkrieg das Osmanische Reich – zu zerschlagen. Die Niederschlagung des Putsches werde so „zur Vaterlandsverteidigung und Erdoğan zu Atatürk 2.0“.
In Umfragen nennen heute viele Türken die Vereinigten Staaten als eine der größten Bedrohungen für ihr Land. Antiamerikanismus gab es auch früher, doch da pflegten zumindest die politischen Eliten ein strategisch enges Verhältnis zu den USA. Auch das Streben nach Europa war eine Konstante – vorbei.
Warum, fragen die Autoren, ist es der EU nicht gelungen, die Türkei an sich zu binden? Sie führen mehrere Gründe an: die geänderte Konstellation nach dem Ende des Kalten Krieges, das Scheitern der Demokratisierung in der Türkei und die Unfähigkeit der EU-Mitgliedstaaten, sich auf eine Linie zu einigen.
Für die Türkei hat Europa längst nicht mehr die Strahlkraft, die es einmal besaß. Der Westen hat seine unangefochtene Vormachtstellung verloren. Seufert und Kubaseck verweisen darauf, dass sich die USA aus Nahost zurückgezogen und Fernost zugewandt haben; die Europäer wiederum seien mit sich selbst beschäftigt. Weder in Syrien noch im Irak, weder in Libyen noch im Kaukasus spiele Brüssel eine entscheidende Rolle – vor allem verglichen mit China, „weshalb sich in der Region die Überzeugung ausbreitet, langfristig sei der Niedergang des Westens schon entschieden“. Nicht nur die Türkei hat sich gewandelt; das globale Kräftegefüge verschiebt sich, und das verändert Ankaras Kalkulation.
Zähe Zivilgesellschaft
Wohin also bewegt sich das Land? Bei Akyol bleibt diese Frage relativ offen. Bisher, schreibt sie, sei es der Türkei stets gelungen, sich von „turbulenten Phasen der Instabilität zu erholen“. Erschienen ist ihr Buch allerdings im Frühjahr 2023, als ein Machtwechsel möglich erschien, der dann doch nicht eintrat.
Seufert und Kubaseck äußern sich pessimistischer. Weder die demokratische Verfasstheit noch der säkulare Charakter der Türkei seien derzeit garantiert. Und die Probleme erschöpften sich nicht darin, dass Bürgerrechte zur Disposition stünden. Die Krise betreffe die Grundlagen der Republik, die bisher trotz aller Defizite westlich ausgerichtet war und eine entsprechende Reformagenda verfolgte. Davon sei heute wenig übrig, „zunehmend ähnelt das Land anderen Staaten des Nahen Ostens“. Für die Europäer heißt das, dass es unbequem bleibt – und dass immer wieder eine Balance gefunden werden muss zwischen Prinzipien und Pragmatismus.
Dündar wiederum mag gar nicht mehr auf Regierungen oder auf die EU setzen. Der Kampf finde weltweit zwischen Vertretern von Autokratie und Demokratie statt: „Hier müssen wir von unten ein Solidaritätsnetz, ein Fundament für Zusammenarbeit, eine Kampfgemeinschaft aufbauen.“ Der Schlüssel sei die Zivilgesellschaft. Und die, da sind sich die Autoren und die Autorin einig, sei in der Türkei beindruckend zäh.
„Unsere Republik ist in Sicherheit und in guten Händen, so wie noch nie zuvor“, hatte Erdoğan am 29. Oktober nach der Kranzniederlegung gesagt, sich direkt an Atatürk wendend. Es hängt vom Standpunkt ab, ob das beruhigend klingt oder bedrohlich.
Çiğdem Akyol: Die gespaltene Republik. Frankfurt/M.: S. Fischer 2023. 400 Seiten, 26,00 Euro
Can Dündar: Die rissige Brücke über den Bosporus. Galiani Berlin 2023. 240 Seiten, 23,00 Euro
Günter Seufert und Christopher Kubaseck: Abschied von Atatürk. München: C.H. Beck 2023. 266 Seiten, 18,00 Euro
Internationale Politik 1, Januar/Februar 2024, S. 124-127
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