IP

01. Mai 2022

Jongleur im Orkan

Der Ukraine-Krieg zwingt Recep Tayyip Erdoğan, den Kurs des Lavierens zwischen Moskau und dem Westen zu hinterfragen. Steht eine Wende in der türkischen Außenpolitik bevor?

Bild
Bild: Russische Touristen am Flughafen von Antalya
Reich an Russen: Nicht nur die fossile Abhängigkeit lässt Ankara zögern, sich an Sanktionen gegen Moskau zu beteiligen. Auch die türkische Tourismusindustrie (hier: am Flughafen Antalya) wäre betroffen.
Lizenz
Alle Rechte vorbehalten

Zum Schicksal einer Mittelmacht gehört die Frage: Ist sie Spieler oder Spielball? Kann sie den Lauf der Dinge beeinflussen oder werden die weltpolitischen Plattenverschiebungen, wie sie sich seit Russlands Überfall auf die Ukraine vollziehen, sie einfach mitreißen? Das gilt für die meisten Mittelmächte, auch für Deutschland, das allerdings fest eingebunden ist ins westliche Bündnisgefüge. Für die Türkei, die an der Schnittstelle extrem unruhiger Weltregionen zwischen allen Stühlen sitzt, die nicht der EU angehört und deren NATO-Zugehörigkeit schon mehr als einmal infrage stand, ist die Lage viel komplizierter. Man könnte sagen, dass Komplexität das prägende Prinzip türkischer Außenpolitik darstellt.

Mit dem Ukraine-Krieg sind die Komplikationen noch einmal exponentiell gewachsen, auch weil er die Türkei in einem empfindlichen Moment trifft. Der Zustand der Wirtschaft ist desolat, der Verfall der Lira und explodierende Lebensmittel- und Energiepreise machen den Menschen zu schaffen, immer wieder gibt es Proteste. Das Land steuert außerdem auf die Wahlen 2023 zu, traditionell eine Zeit heftigster Verwerfungen. Als Wahlkämpfer ist Recep Tayyip Erdoğan berüchtigt, nun aber ist er angezählt. Schon jetzt ist absehbar, dass die Eskalation in der Ukraine und die internationalen Sanktionen gegen Russland die türkische Wirtschaft belasten werden. Das könnte ihm zum Verhängnis werden.



Von „null“ zu „nur“ Problemen

Im Inneren ist die Lage also angespannt, nicht anders sieht es außenpolitisch aus. Der Ukraine-Krieg ist auch für die Türkei ein Einschnitt. Gnadenlos hat er die Widersprüchlichkeit von Erdoğans Kurs offengelegt, sein Lavieren und Taktieren zwischen Moskau und dem Westen. Bis dahin hatte sich Ankara ganz gut in diesem Zwischenraum eingerichtet. Nun aber sind die Widersprüche zu groß geworden; der Druck auf die Türkei wächst, sich eindeutiger zu positionieren. Bedeutet der Ukraine-Krieg eine strategische Wende in der türkischen Außenpolitik? Und vor allem: Was bedeutet das dann für Erdoğans Zukunft?

Lange gab es auf die Frage, wie es die Türkei mit Russland und dem Westen hält, eine einfache Antwort. Sie war ins westliche Bündnis einbetoniert, als anti­kommunistisches Bollwerk der NATO. Ab Mitte der 1990er Jahre drehte sich dann alles um den angestrebten EU-Beitritt, ein Projekt, das Erdoğan und seine Partei, die islamisch-konservative AKP, in ihren ersten Regierungsjahren stark vorantrieben. 2005 eröffneten die Europäer offiziell Verhandlungen, doch schon bald stagnierte der Prozess, und die Türkei entdeckte ihre Nachbarn im Süden und Osten. Es war die Stunde Ahmet Davutoğlus, dem späteren Ministerpräsidenten, der unter dem griffigen Slogan „Null Probleme mit den Nachbarn“ eine Öffnung der Türkei in alle Richtungen und stärkeres Engagement in der Region propagierte. Der Westen war nicht mehr einziger Ankerpunkt.

Die Null-Probleme-Politik brachte zunächst Erfolge. So näherte sich die Türkei dem verfeindeten Armenien an, versöhnte sich mit Assads Syrien, vermittelte zwischen Israel und den arabischen Staaten, verbesserte ihre Beziehungen zu Russland. Doch Ankara überschätzte die Wirkmacht seiner Soft Power. Rückschläge führten zu Enttäuschungen, Enttäuschung zu Streit und Verwerfungen, etwa mit Israel wegen des Gaza-Krieges 2008/2009.

Ihr endgültiges Ende fand die optimistische Null-Probleme-Phase nach dem Arabischen Frühling. Die Türkei hatte die Massenproteste in der Hoffnung unterstützt, dass Parteien der Muslimbruderschaft, die der AKP nahestehen, an die Macht kommen würden. Spätestens 2013, mit dem Putsch in Ägypten, zerplatzte Ankaras Traum, in der muslimischen Welt zur Führungsmacht aufzusteigen. Als besonders fatal erwies sich die Fehleinschätzung, der Sturz Assads – mit dem Ankara kurz nach Ausbruch des Syrien-Krieges gebrochen hatte – stehe unmittelbar bevor. Stattdessen tobt dort bis heute ein blutiger Krieg, in dem die Türkei Partei geworden ist und der auch den innertürkischen Konflikt mit den Kurden angeheizt hat.

2013 war auch das Jahr der Gezi-Aufstände, ausgelöst durch Proteste gegen ein Einkaufszentrum auf dem Istanbuler Taksim-Platz. Im Westen brachte man den Demonstranten viel Sympathie entgegen, was Erdoğan in der Überzeugung bestärkte, es handele sich um eine aus dem Ausland gesteuerte Aktion. Nach dem Putschversuch 2016 nahm das fast paranoide Züge an. In diesen Jahren wurde die Türkei immer repressiver, Erdoğan ließ Oppositionelle verfolgen und Medien schließen. Mit Europa kooperierte er in der Flüchtlingspolitik, doch ansonsten herrschte Dauerkrise, und Brüssel legte den Beitrittsprozess auf Eis. Dort liegt er bis heute.

Nicht viel anders lief es mit den Amerikanern. Die Liste der Streitpunkte wurde immer länger, insbesondere verlangten die Türken die Auslieferung des in den USA lebenden Predigers Fethullah Gülen, den Erdoğan für das Mastermind hinter dem Putschversuch von 2016 hält. Der jüngste Konflikt entzündete sich daran, dass Erdoğan 2017 trotz NATO-Protesten das russische Flug­abwehrsystem S-400 bestellte. Washington verhängte Sanktionen und beendete unter anderem die türkische Beteiligung am Bau des Kampfflugzeugs F-35 – ein beispielloser Vorgang in der NATO.

Aus „Null Probleme“ war in wenigen Jahren „Verwerfungen überall“ geworden. Dabei verfolgte die Türkei zugleich eine immer unverhohlenere, expansive, oft aggressive Großmachtpolitik. In vielen Ländern ihres erweiterten Umfelds baute sie ihre ökonomische, politische und militärische Präsenz massiv aus, etwa in Afrika.

Im libyschen Bürgerkrieg sieht man, wie die Bündnislinien der türkischen Außenpolitik sich ständig kreuzen, eigentlich ergeben sie ein Gekritzel. In ­Libyen unterstützt die Türkei militärisch die Einheitsregierung in Tripolis, während Russland, Ägypten und die Vereinigten Arabischen Emirate aufseiten des Gegenspielers, General Chalifa Haftar, stehen. Türkische Truppen sind in Nordsyrien und im Nordirak stationiert. Im Streit um Gasvorkommen im östlichen Mittelmeer provozierte Ankara die EU-Mitglieder Griechenland und Zypern mit Probebohrungen in umstrittenen Gewässern. Rund ums Schwarze Meer konkurriert man mit Russland um Einfluss. Im armenisch-aserbaidschanischen Krieg half Erdoğan Aserbaidschan mit Drohnen, während Putin den Armeniern den Rücken stärkte. Russland fungiert als befreundeter Gegner, als verfeindeter Freund.

In Ankara machte sich allerdings zuletzt die Einsicht breit, dass die Türkei die Probleme in ihrem Umfeld nicht alleine lösen kann. Die Regierung spreche neuerdings von einem „problemfreien Kreis“, schreibt der türkische Journalist Murat Yetkin. „Wir erleben intensive Anstrengungen, die bilateralen Beziehungen zu regionalen Widersachern zu reparieren.“ Ein bisschen klingt das nach einer Neuauflage der „Null Probleme“, wenn auch unter neuen Vorzeichen. Dazu gehört, dass die Türkei seit vergangenem Jahr wieder mit Ägypten spricht. Kurz darauf folgte die Aussöhnung mit Israel. Nachdem das Land mit den Abraham-Abkommen seine Beziehungen zu mehreren arabischen Staaten normalisiert hat, wollte Ankara wohl nicht außen vor bleiben. Auch mit Golf-Monarchien wie den Vereinigten Arabischen Emiraten, mit denen die Türkei seit dem Arabischen Frühling über Kreuz gelegen hatte, gibt es wieder eine rege Besuchsdiplomatie. Feinde muss man sich leisten können – und die Türkei braucht dringend Geld.

Aber natürlich ist es alles andere als ein Zufall, dass die Türkei beständig zwischen Null-Problemen und Nur-Problemen schwankt. Sie ist eine Mittelmacht in maximal komplexer Lage mit einem Mann an der Spitze, der sich verfolgt fühlt und der keinen Plan für das Ende seiner Macht hat. Mit Putin zu gleicher Zeit befreundet und verfeindet zu sein, das ist so ein Widerspruch, der sich ohne die Persönlichkeit beider Männer und ihren Status als alternde Autokraten ohne Exit-Strategie kaum erklären lässt. Beide sind seit rund zwei Jahrzehnten an der Macht, beide verachten die liberale Demokratie. Beide regieren Länder, die bis heute an imperialem Phantomschmerz leiden. Beide unterdrücken Opposition und Zivilgesellschaft, wobei Putin auf diesem Weg weiter vorangekommen ist als der türkische Präsident.

Erdoğan hat in der Vergangenheit keinen Hehl daraus gemacht, dass er die Abhängigkeit vom Westen reduzieren will. Die strategische Freundschaft zu Putin sollte ihm dabei helfen. Die Kehrseite dieser Strategie ist eine neue Abhängigkeit. Rund die Hälfte ihres Erdgasbedarfs deckt die Türkei aus Russland. Ähnlich sieht es beim Öl aus, da beträgt der russische Anteil etwa 40 Prozent. Überdies bezieht die Türkei rund 70 Prozent ihres Weizens aus Russland. Beunruhigt ist auch die Tourismusbranche: Viereinhalb Millionen russische Touristen waren es vergangenes Jahr in der Türkei, in diesem kommen der Krieg und die Sanktionen dazwischen. Kaum ein Russe möchte wohl in Badeschlappen vor dem Geldautomaten stranden. Kein Wunder also, dass sich Erdoğan den Sanktionen zunächst nicht angeschlossen hat.

Die Türkei hat allerdings auch sehr gute Beziehungen zur Ukraine. Zu den russischen Touristen gesellten sich 2021 mehr als zwei Millionen Ukrainer, die Türken importieren ukrainischen Weizen und Sonnenblumenöl. Ankara hat die Annexion der Krim 2014 scharf verurteilt, weil man sich als Schutzmacht der muslimischen Krimtataren sieht. Den jüngsten Überfall hat die türkische Regierung als „inakzeptable“ Verletzung ukrainischer Souveränität bezeichnet. Erst Anfang Februar war Erdoğan nach Kiew gereist, wo er mit Wolodimir Selenskij ein Freihandels­abkommen und eine vertiefte Rüstungskooperation beschloss.



Schwenk Richtung Westen?

In dieses Knäuel von Neujustierungen und Widersprüchen hinein ist nun der ­Ukraine-Krieg geplatzt. Solange sich der Westen in Bezug auf Russland uneinig war, blieb Ankara genug Spielraum, um seine Schaukelpolitik zu betreiben. Nun aber ist der Westen zusammengerückt, und das Land gerät unter Zugzwang.

Entsprechend zögerlich agierte die türkische Regierung zunächst. Mehrere Tage dauerte es, bis sie den Krieg als solchen bezeichnete, weil damit auch die im Montreux-Vertrag 1936 festgeschriebene Pflicht einherging, die Dardanellen und den Bosporus für russische Kriegsschiffe zu sperren. Und als sich der Kreml beklagte, dass türkische Drohnen auf ukrainischer Seite zum Einsatz kämen, beteuerte Vize-Außenminister Yavuz Selim Kıran, Kiew habe die Drohnen von einer privaten Firma gekauft. (Unerwähnt ließ er dabei, dass die Herstellerfirma im Besitz der Familie von Erdoğans Schwiegersohn ist.)

Fürs Erste suchte die türkische Regierung ihr Heil in der Vermittlerrolle, und sie hatte damit einigen Erfolg. Zweimal gelang es ihr im März, die Kriegsparteien in der Türkei zusammenzubringen. Türkische wie internationale Kommentatoren bescheinigten dem Land einen Image­gewinn. „Der Türkei gehen bald die roten Teppiche aus“, konstatierte eine türkische Journalistin, als Bundeskanzler Olaf ­Scholz, der niederländische Premier Mark Rutte, der griechische Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis und NATO-General­sekretär Jens Stoltenberg kurz nacheinander in die Türkei reisten.

Rational betrachtet könnte die Konfrontation zwischen dem Westen und Russland eine Reduktion von Komplexität für die Türkei bringen – dann nämlich, wenn sich das Land wieder mehr dem Westen zuwendet anstatt einem mutmaßlich geschwächten Nachkriegsrussland. Die Frage ist nur, ob Erdoğan mit seiner persönlich gefärbten und getriebenen Außenpolitik dazu in der Lage ist, zumal es innenpolitisch für ihn mal wieder um alles geht.

Manche Beobachter glauben indes, dass der Krieg auch Erdoğans Image aufpolieren könnte. Für die AKP-Führung sei die Krise „eine von Gott gesandte Möglichkeit, die Wahlen 2023 herumzureißen“, schreibt die Journalistin Pınar Tremblay. Erdoğan könnte den Krieg zur Begründung der schlechten Wirtschaftslage heranziehen, während er bisher vor allem selbst für sein mieses Krisenmanagement in der Kritik stand; auch seien die Menschen in Zeiten der Unsicherheit vielleicht weniger geneigt, einer neuen Regierung ihr Vertrauen zu schenken.

Sollte sich Erdoğan wirklich, wie viele hoffen, wieder stärker dem Westen annähern, stellt sich ihm noch ein weiteres Problem: Er muss diesen Schwenk einer in nicht geringen Teilen antiwestlichen Bevölkerung beibiegen. Jahrelang hat Erdoğan Ressentiments geschürt, er kann sie nun nicht einfach zum Verschwinden bringen. In einer Metropoll-Umfrage gaben im März 48 Prozent der Befragten an, Washington und die NATO seien für die Eskalation in der Ukraine verantwortlich.

Hinzu kommt, dass Erdoğans Koalitionspartner, die stramm nationalistische MHP, Kräfte in den Staatsapparat gebracht hat, die sich einem autokratischen Russland näher fühlen als den USA oder Europa. Erdoğans persönliche Machtlogik folgt also nicht unbedingt einem denkbaren neuen Rational türkischer Außenpolitik.

Erdoğan hat sich und die Türkei lange als globalen Player gesehen; als Führungsfigur in einer neuen Weltordnung, in der es auf Russland und China ankommt. Nun sind Europa und die USA unerwartet wieder zusammengerückt und basteln an einer neuen Sicherheitsarchitektur. „Die Türkei ist ein starkes Mitglied der NATO“, beteuert man in Ankara kurz nach dem Einmarsch. Gut möglich, dass die Türkei den Wert der Westbindung wiederentdeckt. Doch viele Fragen bleiben offen. Etwa die, ob die Politik des Brückenschlags Bestand hat oder bei der nächsten Gelegenheit Erdoğans innenpolitischem Kalkül zum Opfer fällt, wie schon so oft. Und auch, welchen Platz die Türkei für sich in der neuen Sicherheitsarchitektur sieht, wenn sie sich absehbar nicht aus der Abhängigkeit von Russland lösen kann.

Ist die Türkei nun Spieler oder Spielball? Weder noch. Sie ist ein Jongleur – in einem Orkan.    

 

Luisa Seeling ist Leiterin Schreiben, Editing und inhaltliche Kommunikation bei der Stiftung Neue Verantwortung. Zuvor hat sie u.a. für die Süddeutsche Zeitung über die Türkei berichtet.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2022, S. 84-88

Teilen

Mehr von den Autoren