Not macht erfinderisch
Europa hatte noch nie so wenige Alternativen wie jetzt. Aber genau deshalb wird es nicht scheitern – eine Entgegnung.
Der erneute Amtsantritt von Donald Trump ging mit dem Risiko einher, dass europäische Länder statt einer gemeinsamen Strategie die Bilateralisierung der Beziehungen zu den USA suchen würden. Das hätte zu einem Schönheitswettbewerb führen können, bei dem jedes einzelne europäische Land versucht, im Vergleich zu anderen Europäern besser dazustehen und Trump so zu schmeicheln. Nicht nur für die EU, sondern für die globale Rolle ganz Europas hätte dies einen herben Machtverlust bedeutet. Einige, wie beispielsweise Josef Janning in der IP 2/2025, haben eine unmittelbar bevorstehende Katastrophe, ja ein gänzliches Scheitern Europas prognostiziert.
Doch das befürchtete Szenario eines Schönheitswettbewerbs blieb aus. Wenige Monate nach Trumps Amtsantritt zeigt sich Europa so entschlossen wie seit dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr. Die europäischen Staats- und Regierungschefs sind sich einig, dass jetzt mehr Europa gefragt ist. Der Mehrwert der EU ist Bürgerinnen und Bürgern so klar wie selten zuvor. Ihre gestiegene Anziehungskraft reicht sogar über die eigenen Grenzen hinaus: Die EU und Großbritannien verhandeln über eine umfangreiche Sicherheits- und Verteidigungspartnerschaft, und knapp die Hälfte der Kanadierinnen und Kanadier würden gerne der EU beitreten.
Das „Rally around the flag“-Momentum verdankt Europa US-Präsident Trump und seinem Vize J.D. Vance. Insbesondere die Fehlkalkulation des Vizepräsidenten, ausgerechnet auf der Münchner Sicherheitskonferenz eine Rede zu halten, die Europa bloßstellt, hat einen unverhofften europäischen und zugleich antiamerikanischen Konsens herbeigeführt. Am stärksten hat Trump Europa jedoch mit seiner Ukraine-Politik vor den Kopf gestoßen. Insgesamt scheint es der Trump-Administration an einem grundlegenden Verständnis für die Funktionsweise Europas zu mangeln.
Falls die Erwartung war, dass Europa die transatlantischen Beziehungen und nicht die Ukraine priorisieren würde, muss die Überraschung in Washington recht groß gewesen sein. Denn Europa hat klar signalisiert, dass es die Ukraine nicht aufgeben wird. Und das gilt nicht nur in Europa. Auch weitere US-Verbündete wie Kanada, Japan, Australien und Neuseeland sind bei europäischen Ukraine-Runden dabei, wie etwa Mitte März in Paris beim Treffen hochrangiger Militäroffiziere. Trump hat nicht nur Europa, sondern ein erweitertes Europa+ gegen sich vereint.
Weil Donald Trump, J.D. Vance und das gesamte MAGA-Lager ihrem eigenen Narrativ über ein dekadentes und unfähiges Europa anscheinend glauben, entfaltet Trumps Politik – wohlwollend interpretiert – unbeabsichtigte Konsequenzen, die eher das Gegenteil bewirken und Europa stark machen, im schlimmsten Fall auf Kosten der Machtposition der USA. Es gibt drei wesentliche Entwicklungen, die diese These stützen.
1. Die Integration der Ukraine
Seit Beginn des vollständigen russischen Angriffskriegs hat sich die Stellung der Ukraine in Europa radikal verändert. Wurde die sogenannte Ukraine-Krise nach der Krim-Annexion und dem Kriegsausbruch in der Ostukraine 2014 noch als Randproblem betrachtet, gilt die Ukraine heute als zentraler Pfeiler europäischer Sicherheit.
Dieses Umdenken ist das Ergebnis von drei Jahren Krieg. Selbst zu Beginn der Vollinvasion im Februar 2022 war die Wahrnehmung, dass die Ukraine ein fester Teil Europas ist, noch nicht weit verbreitet. Auch heute gibt es Unterschiede in der Vehemenz, mit der europäische Länder bereit sind, die Ukraine zu unterstützen. Doch in den vergangenen drei Jahren hat sich ein breiter Konsens geformt: Die Ukraine einfach fallen zu lassen, wäre für ganz Europa gefährlich. Mit seinem hybriden Krieg hat Russland wesentlich dazu beigetragen, dass sich die Bedrohungswahrnehmung in Europa gefestigt hat.
Institutionell manifestiert sich die neue Insider-Stellung der Ukraine in ihrem EU-Kandidatenstatus, der ihr wenige Monate nach dem russischen Überfall 2022 verliehen wurde. Damit gelang es der Ukraine, sich aus der Grauzone zwischen der EU und der von Russland definierten Interessensphäre zu befreien. Für die EU war dieser Schritt zwar eine recht kostengünstige symbolische Geste, doch zugleich markierte er einen Wandel in der Logik der EU-Erweiterung – von einem marktwirtschaftlich-technokratischen hin zu einem geopolitischen Ansatz.
Zudem hat die Ukraine selbst dafür gesorgt, dass der Kandidatenstatus kein leeres Versprechen bleibt. Trotz des Krieges hat Kyjiw beachtliche Fortschritte in der für den EU-Beitritt notwendigen Reformarbeit erzielt. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zeigte sich daher optimistisch, dass die Ukraine – sollte sie dieses Tempo bei den Reformen beibehalten – bereits vor 2030 EU-Mitglied werden könnte. Der Krieg hat das Kosten-Nutzen-Kalkül eines ukrainischen EU-Beitritts nicht nur für die EU, sondern auch für die Ukraine verändert. Selbst in zuvor reformresistenten Bereichen wie Justiz, Korruptionsbekämpfung und Gleichstellung der Geschlechter sind nun deutliche Fortschritte zu erkennen.
2. Die EU wird konsensfähiger
Winston Churchill hat einst gesagt, dass die USA immer das Richtige tun, nachdem sie zunächst alle anderen Optionen ausgeschöpft haben. Das Gleiche gilt auch in angepasster Form für die EU: Sie findet immer einen Konsens, nachdem sie zuvor alle möglichen Konflikte ausgetragen hat.
Gleichzeitig muss man anerkennen, dass ein vollständiger Konsens in der Europäischen Union wohl nie zu erreichen sein wird. Derzeit arbeitet die EU intensiv daran, übliche Vetospieler wie Ungarn und aktuell auch die Slowakei zu umgehen, damit Beschlüsse zu Russland-Sanktionen oder Ukraine-Hilfen nicht jedes Mal von einigen wenigen Mitgliedstaaten blockiert werden können. Es zeichnet sich ab, dass etwa die Beteiligung an der Unterstützung für die Ukraine freiwillig gemacht wird, sodass einstimmige Beschlussfassungen umgangen werden können. Dies würde Ungarn sein Veto entziehen und letztlich diejenigen Länder irrelevant machen, die sich nicht beteiligen wollen.
Die Bedeutung des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán sollte man ohnehin nicht überschätzen. Ungarn verfügt weder über wesentliche wirtschaftliche noch militärische Stärke; Orbán kann seinen Einfluss außerhalb der ungarischen Grenzen nur durch sein Veto auf der EU-Ebene ausüben. Dass er sich der Grenzen seiner Macht bewusst ist, zeigt sich etwa darin, dass Ungarn der Verlängerung der Russland-Sanktionen rechtzeitig vor dem dritten Jahrestag des Angriffskriegs gegen die Ukraine zustimmte.
Es wäre falsch, aus den nationalen Vetos zu schließen, dass Europa gescheitert ist oder scheitern wird. Die EU funktioniert gewissermaßen durch Gruppenzwang, der auch in widerwilligen Mitgliedstaaten Lernprozesse anstoßen kann. Einen entscheidenden Wandel im Hinblick auf die Ukraine gab es in Deutschland und Frankreich, den Architekten des gescheiterten Minsk-Prozesses. Der französische Präsident Emmanuel Macron hat eine beeindruckende Lernkurve durchlaufen – von der Aussage im Jahr 2022, dass man Putin einen Ausweg bieten müsse, hin zur führenden Stimme in der Diskussion über europäische Truppen in der Ukraine, was immer wahrscheinlicher wird. Der scheidende deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz hat sich lernresistenter gezeigt und ist seinem Primat, stets „besonnen“ zu handeln, durchweg treu geblieben – was meistens Verzögerungen bei Beschlüssen zur militärischen Unterstützung der Ukraine zur Folge hatte. Doch der Druck traditioneller Verbündeter, vor allem aus Nordosteuropa, hat Deutschland auf dem richtigen Kurs gehalten. Das proukrainische Narrativ ist inzwischen so dominant, dass selbst die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni sich klar proukrainisch positioniert und die portugiesische Bevölkerung in Eurobarometer-Umfragen regelmäßig stärker hinter der Ukraine steht als die Befragten in Estland.
3. Verärgerte Bündnispartner
Auch der Antagonismus, den Trump mit seinen Äußerungen über einzelne europäische Länder schürt, erweist sich immer mehr als strategischer Fehler. Mit feindseligen Initiativen, wie etwa den wiederholten Drohungen, Grönland notfalls mit militärischen Mitteln zu annektieren, hat Amerika treue Verbündete wie Dänemark verärgert. Die Niederlande arbeiten daran, alternative europäische Zahlungsmethoden zu entwickeln und im Finanz- und digitalen Bereich von den USA unabhängiger zu werden. Und der künftige deutsche Kanzler Friedrich Merz, ein überzeugter Transatlantiker, hat eine regelrecht gaullistische Kehrtwende gemacht und nicht nur strategische Autonomie, sondern Unabhängigkeit für Europa gefordert.
Selbst am rechten politischen Rand werden die Aktionen der Trump-Regierung nicht vorbehaltlos positiv aufgenommen. Der Vorsitzende der rechten französischen Partei Rassemblement National, Jordan Bardella, hat seine Rede auf der amerikanischen Conservative Political Action Conference nach Steve Bannons Hitlergruß abgesagt. Der norwegische rechtspopulistische Politiker Christian Tjybing-Gjedde, der Donald Trump zweifach für den Friedensnobelpreis nominiert hat, hat inzwischen seine Meinung geändert – aufgrund Trumps offenbarer Absicht, die Ukraine aufzugeben. Auch die schwedische euroskeptische Rechtspartei Schwedendemokraten schlussfolgerte aus Trumps Feindseligkeit gegenüber Europa und dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, dass in der aktuellen Lage mehr auf die EU gesetzt werden muss. Und wenn Trumps rechte Hand Elon Musk erwartet hat, dass die AfD dank seiner Wahlkampfhilfe in Deutschland die neue Regierung führen wird, hat er europäische Koalitionspolitik grundlegend falsch verstanden.
Mit feindseligen Initiativen hat Donald Trump treue amerikanische Verbündete wie Dänemark verärgert
Die vermutlich ungünstigste Konsequenz für die USA ist der in Europa entflammte Eifer, die Forderungen des US-Verteidigungsministers Pete Hegseth tatsächlich umzusetzen. Bei seiner ersten Reise zum NATO-Hauptquartier in Brüssel im Februar 2025 forderte Hegseth unter anderem, dass Europa volle Verantwortung für seine eigene Sicherheit übernehmen, entsprechend in die Verteidigungsfähigkeit des Kontinents investieren und dafür eine effiziente europäische Verteidigungsindustrie aufbauen müsse.
An all diesen Punkten arbeitet man in der EU jetzt mit Hochdruck: Momentan wird über die Details der jüngst beschlossenen „Readiness 2030“-Initiative verhandelt, die große Summen für Verteidigungsinvestitionen sowie eine Lockerung der EU-Fiskalregeln beinhalten soll. Konsens besteht über die Notwendigkeit, Europa schnellstmöglich militärisch zu ertüchtigen – angesichts der Sorge, dass die USA nicht nur Europa den Rücken kehren, sondern sogar gegen europäische Interessen agieren könnten. Doch im guten europäischen Stil sind die Verhandlungen über den richtigen Weg zum Ziel noch längst nicht vollendet. Insbesondere die möglichen Eurobonds für Verteidigung bleiben umstritten.
Was fehlt, ist die Vorstellungskraft
Beschlussfassung wird in Europa wohl nie so effizient sein wie in den USA, da es vermutlich nie die Vereinigten Staaten von Europa geben wird, die eine solche präsidentielle Effizienz ermöglichen würden. Schaut man aber auf das Tempo, mit dem Trump derzeit die amerikanische Demokratie, den Rechtsstaat und das globale Bündnisgefüge zerstört, kann man sagen: zum Glück. Dank der endlos komplexen Konsensfindungsprozesse und Ausgleichsmechanismen lassen sich Institutionen in Europa nicht über Nacht abbauen, wie es Trump aktuell mithilfe von Elon Musk in den USA anstellt.
Russlands Krieg gegen die Ukraine hat die Machtverhältnisse in Europa verändert. Infolge des innenpolitischen Durcheinanders in den drei großen europäischen Ländern Deutschland, Frankreich und Großbritannien und der daraus resultierenden Führungsunfähigkeit dieser Länder haben kleinere europäische Staaten mehr Verantwortung übernommen. So bildeten etwa die nordischen und baltischen Länder eine kohärente Gruppe, die sowohl gemessen am Anteil ihres BIP und auch in absoluten Zahlen die Ukraine am meisten unterstützt. Dänemark mit Premierministerin Mette Frederiksen nimmt dabei eine herausgehobene Rolle ein: Das Land hat der Ukraine militärische Hilfe im Wert von knapp acht Milliarden Euro zur Verfügung gestellt und war mit den Niederlanden die treibende Kraft in der lange umstrittenen F-16-Kampfflugzeugkoalition für die Ukraine. Tschechien rief die Munitionsbeschaffungsinitiative ins Leben und führt diese immer noch an. Nicht mal der französische Präsident Macron traut sich mehr, die „kleinen“ Länder bei wichtigen Treffen außen vor zu lassen.
Die immer geringere Rolle des deutsch-französischen Tandems räumt zudem auch größeren Ländern wie Polen und Italien mehr Platz im Zentrum europäischer Macht ein. Führungsmacht wird in Europa dadurch fairer verteilt – sie ist aber gleichzeitig auch diffuser geworden. Die große Schicksalsfrage wird deshalb sein, ob Europa sich schnell genug daran gewöhnen und damit arbeiten kann.
Die Idee eines föderalen Europas, die insbesondere unter europäisch gesinnten Deutschen ein beliebter Lösungsansatz für so ziemlich alle Probleme der EU ist, reicht in der jetzigen Lage nicht aus. Den Brexit kann man nicht ohne Weiteres rückgängig machen, und Norwegen scheint noch nicht bereit, der EU beizutreten. Bei Kanada kommt wohl trotz kultureller Affinität die Frage der geografischen Grenzen Europas auf. Deshalb muss die Antwort auf die Herausforderungen ein gesamteuropäisches und darüber hinausreichendes Europa+ sein, das die EU einbezieht, aber sich nicht nur auf sie beschränkt.
Was in Europa jetzt dringend gebraucht wird, ist ein gesundes Maß an Selbstvertrauen, um die Herausforderungen bewältigen zu können. Schließlich gibt es keinen logischen Grund, warum der Kontinent nicht für seine eigene Verteidigung und für die der Ukraine aufkommen könnte: Ressourcen gibt es ausreichend, wenn sie richtig priorisiert werden. Der politische Konsens ist gegeben; die Bürgerinnen und Bürger erwarten mutiges Handeln. Was noch fehlt, ist die Vorstellungskraft, dass der Erfolg greifbar ist.
Dieser Beitrag ist eine Replik auf „Scheitert Europa?“ von Josef Janning, erschienen in der IP 2/2025, S. 72 ff.
Internationale Politik 3, Mai/Juni 2025, S. 61-65
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