IP Special

26. Juni 2023

Das Ende 
der Grauzonen

Finnland und Schweden treten der NATO bei und machen ihre eigenen Zeitenwenden durch. Während Stockholm einen ähnlichen Nachholbedarf wie Berlin hat, bietet Helsinki schon seit Langem ein Modell für einen integrierten Sicherheitsansatz.

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Bild: Die finnische Flagge wird vor dem NATO-Hauptquartier gehisst
Finnland hatte sich auch nach Ende des Kalten Krieges auf einen potenziellen Angriff Russlands vorbereitet: Flaggenzeremonie am Tag des Beitritts, dem 4. April 2023, vor dem NATO-Hauptquartier in Brüssel.
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Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine hat in Nordeuropa eine zügige und entschlossene Reaktion hervorgerufen: Weniger als drei Monate nach Beginn der russischen Invasion beantragten Finnland und Schweden die ­NATO-Mitgliedschaft. Die beiden nordischen Länder waren zwar bereits seit Jahrzehnten enge Partner des Atlantischen Bündnisses – und als militärisch fähige Länder begehrte Neumitglieder. Bis zu dem Zeitpunkt hatte Schweden jedoch an seiner 200 Jahre lang bewährten militärischen Bündnisfreiheit festgehalten, und Finnland, wenngleich weniger ideologisch motiviert, war um der gutnachbarschaftlichen Beziehungen mit Russland willen außerhalb der NATO geblieben.



Auf den ersten Blick wirkt der NATO-Beitritt Finnlands und Schwedens wie eine der größten unbeabsichtigten Konsequenzen des russischen Krieges. Aber eigentlich hätte Präsident Wladimir Putin genau wissen müssen, dass zumindest Helsinki in einem solchen Fall die sogenannte „­NATO-Option“ wählen würde. Diese war lange ein wichtiger Teil der finnischen Sicherheitspolitik und bedeutete, dass Finnland sich das Recht vorbehielt, die Bündnisfreiheit zu überdenken, sollte sich die Sicherheitslage verändern. Genau das trat mit Russlands Überfall auf die Ukraine ein. Die Reaktion war eindeutig: Über Nacht änderten die Finninnen und Finnen ihre Meinung, die öffentliche Unterstützung für die NATO-Mitgliedschaft schoss hoch von etwa 20 auf 53 Prozent; im Mai 2022 kletterte sie weiter auf 76 Prozent.



Die politische Führung Finnlands musste sich beeilen, um mit der entschlossenen öffentlichen Meinung Schritt zu halten. Noch vor Beginn des Angriffskriegs waren nur zwei ­politische Parteien für einen ­NATO-Beitritt, von den fünf regierenden Parteien mussten dann vier ihre Position schnell an die neuen Rahmenbedingungen anpassen.



Schweden war derweil vom Tempo der finnischen Kehrtwende überrascht. Der sozialdemokratischen Regierung fiel es nicht leicht, sich von der alten Doktrin der Bündnisfreiheit zu lösen. Aber auch in Schweden lautete letztendlich die Schlussfolgerung, dass nach gründlicher Erwägung aller Möglichkeiten – darunter war zum Beispiel eine noch engere finnisch-schwedische Verteidigungsunion zunächst eine ernsthafte Alternative – es keinen anderen Weg gab, als sich Finnlands NATO-Gesuch anzuschließen.



Neues Momentum

Der gemeinsame NATO-Prozess hat Finnland und Schweden, die füreinander bereits die wichtigsten Partner waren, noch enger zusammenrücken lassen. Das Ziel der nordischen Nachbarn war deshalb, der NATO „Hand in Hand“ beizutreten. Der Wunsch ist jedoch nicht in Erfüllung gegangen, weil die Türkei Stockholm vorwirft, kurdische Terroristen zu unterstützen, und deshalb den schwedischen Beitritt sehr lange verhindert hat.



Aber auch der Alleingang Finnlands, das am 4. April 2023 das 31. Mitglied der NATO wurde, hat keinen Bruch in den bilateralen Beziehungen verursacht. Die ­tägliche Koordination der NATO-Prozesse ist durchweg und auf allen politischen Ebenen so eng gewesen, dass Schweden den NATO-Beitritt Finnlands als eine positive Entwicklung für die regionale Sicherheit ansah. Für Finnland ist nun Schwedens schnellstmöglicher Beitritt die oberste Priorität, und Helsinkis erste offizielle Amtshandlung als NATO-Mitglied – etwa 15 Sekunden nach der Vollendung des eigenen Beitritts – war die Ratifizierung der Mitgliedschaft Schwedens.



Über das bilaterale finnisch-schwedische Verhältnis hinaus haben sowohl der NATO-Beitritt als auch die starke Unterstützung der Ukraine aus allen nordischen Ländern die nordische Gruppe von Dänemark, Finnland, Island, Norwegen und Schweden bei der Sicherheits- und Verteidigungspolitik weiter konsolidiert. Die fünf Länder arbeiten bereits seit 2009 im Rahmen der NORDEFCO (Nordic Defence Cooperation) zusammen; mit dem NATO-Beitritt Finnlands und Schwedens öffnen sich aber neue Möglichkeiten. Ein Zeichen, wie ernst die nordischen Länder die Bedrohung durch Russland nehmen, ist die Absichtserklärung der vier nordischen Luftstreitkräfte (Island hat keine eigenen Streitkräfte), die insgesamt ca. 250 Kampfjets starke nordische Flotte operativ zu integrieren. Im hohen Norden üben die finnischen, schwedischen und norwegischen Luftstreitkräfte bereits seit bald 15 Jahren nahezu wöchentlich gemeinsam.



Auch bei der Unterstützung der Ukraine spielt nordische Kooperation eine wichtige Rolle. So haben beispielsweise Finnland und Schweden ihre enge bilaterale Verteidigungskooperation ganz konkret für die Ukraine eingesetzt: Im Januar 2023 unterzeichneten die Länder eine Absichtserklärung, die schnellen Nachschub aus Schweden für Finnland ermöglicht, sodass Finnland die Ukraine weiterhin unterstützen kann, ohne die eigene Verteidigungskapazität zu gefährden. Im Mai besuchte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj Helsinki zu Beginn einer längeren Europa-Reise, als dort gerade ein nordisches Gipfeltreffen stattfand. Das zeigt, dass die nordischen Länder immer mehr als eine kohärente und sich eng koordinierende Gruppe wahrgenommen werden.



Interoperabilität auf hohem Niveau

Finnlands NATO-Beitrittsprozess war mit einer Dauer von weniger als einem Jahr der schnellste in der Geschichte der NATO. Und ohne den türkischen Widerstand hätten Finnland und Schweden bereits im Oktober 2022 Mitglieder sein können: Alle anderen NATO-Staaten, mit Ausnahme Ungarns, hatten den Beitritt der beiden im Rekordtempo bereits bis Ende September ratifiziert. Den schnellen Prozess ermöglichte die hohe Kompatibilität Finnlands und Schwedens mit sowohl den politischen als auch militärischen Standards der NATO. Normalerweise würde für die Kandidatenstaaten zunächst ein „Membership Action Plan“ (MAP) entworfen, der die Länder schrittweise an die ­NATO-Standards heranführt. Finnland und Schweden hatten jedoch bereits durch die jahrzehntelange enge Kooperation mit der NATO sowie eine bewusste Priorisierung der Interoperabilität mit dem Bündnis bei Beschaffungsentscheidungen gewissermaßen einen „MAP-Prozess“ auf eigene Faust durchgemacht. Darüber hinaus hatten beide bereits vor der Beitritts­entscheidung bi- und trilateral eng mit den USA kooperiert, was die Eingliederung zusätzlich erleichtert und beschleunigt.



Militärisch ändert der Beitritt für Finnland und Schweden wenig. Die finnischen und schwedischen Streitkräfte haben die Interoperabilität mit künftigen Bündnispartnern weiter durch Übungen erhöht, während der Ratifizierungsprozess noch im Gange war. Finnland führte beispielsweise nach der Übermittlung des Beitrittsgesuchs am 18. Mai 27 neue oder modifizierte Übungen für den Rest des Jahres 2022 durch. Schweden hielt im April 2023 die größte internationale Übung in 30 Jahren ab, in der künftige Bündnispartner die Verteidigung Schwedens und das Land selbst die Aufnahme der Partnertruppen übten.



Für Finnland und auch für Schweden ist es dennoch eine große mentale Veränderung, dass aus Landesverteidigung Bündnisverteidigung wird. Für die deutsche Bundeswehr ist das selbstverständlich, insbesondere für Finnland aber eine regelrechte Revolution. Die Finnen hatten auch nach dem Kalten Krieg eine hohe Verteidigungskapazität aufrechterhalten und sich auf einen potenziellen Angriff durch Russland vorbereitet – selbst im optimistischen Moment Anfang der 2000er Jahre wurde die Möglichkeit eines militärischen Angriffs in den außen-, sicherheits- und verteidigungspolitischen Regierungsberichten nie ganz ausgeschlossen.



Nach 80 Jahren der Konzentration auf die eigene Landesverteidigung ist es eine große Veränderung, die eigene Sicherheit aus der Perspektive des gesamten Bündnisses zu denken. Für Schweden, das seine Streitkräfte nach dem Kalten Krieg stark reduzierte, ist vor allem die personelle Aufrüstung eine mittelfristige Heraus­forderung.



Die Rückkehr der Geschichte

Finnland erfüllt das 2-Prozent-Verteidigungsausgabenziel der NATO bereits, Schweden muss einiges nachholen und hat sich zum Ziel gesetzt, bis 2026 die 2-Prozent-Marke ebenfalls zu erreichen. In vielerlei Hinsicht finden sich Schweden und Deutschland in einer vergleichbaren Lage: Beide haben das Ende des Kalten Krieges als ein „Ende der Geschichte“ interpretiert und entsprechend ihre Verteidigungsfähigkeit heruntergefahren. Für Schweden kam der Weckruf jedoch bereits 2013, als russische Kampfjets einen Angriff auf schwedisches Territorium übten und Dänemark beim Abfangen zu Hilfe kommen musste, weil alle schwedischen Piloten gerade im Osterurlaub waren. Im Nachhinein stellte die NATO fest, dass es sich um eine Nuklearübung Russlands gehandelt hatte. Russlands Krim-Annexion im Folgejahr verfestigte in Schweden die Erkenntnis, dass militärische Fähigkeiten wohl doch weiterhin relevant waren. Als Reaktion stellte Schweden das Gotland-Regiment auf der gleichnamigen Ostseeinsel wieder auf, die zwischenzeitlich demilitarisiert gewesen war.



Auch führte Stockholm die Wehrpflicht teilweise wieder ein, die zuvor ebenfalls abgeschafft worden war. Finnland hält derweil bis heute an der vollumfänglichen Wehrpflicht für männliche Bürger fest und hat deshalb eine Truppenstärke von 280 000 im Kriegsfall und eine Gesamt­reserve von 870 000 aufzubieten.



Schweden sieht sich also mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert wie Deutschland, hat aber knapp zehn Jahre Vorsprung bei der eigenen Zeitenwende. Politisch sind sich in Schweden die ­Parteien einig, dass sie allesamt mit der Abrüstungspolitik falsch lagen, was gegenseitige Vorwürfe reduziert und einen Konsens über die Kursänderung verfestigt. Ähnlich wie in Deutschland ist in Schweden der außenpolitische Fokus traditionell stark auf normative Friedensförderung gerichtet; dennoch wird die Notwendigkeit militärischer Mittel durchaus verstanden. In vielerlei Hinsicht ist Schweden also der ideale Zeitenwende-Partner für Deutschland. Finnland kann mit seinem die gesamte Gesellschaft umfassenden Sicherheitskonzept (auch „comprehensive security“ genannt) Deutschland wiederum als ein Modell für den in der neuen Nationalen Sicherheitsstrategie zu entwickelnden integrierten Sicherheitsansatz dienen.



Aus Fehlern lernen

Russlands brutaler Angriffskrieg ist eine eindeutige Absage an die europäische Sicherheitsordnung nach dem Kalten Krieg. Das NATO-Beitrittsgesuch Finnlands und Schwedens als Reaktion darauf zeigt, dass die Zeit der sicherheitspolitischen Grauzonen vorbei ist. Russland zwingt seine Nachbarn dazu, eine Seite zu wählen – und wenn die Entscheidung dem Kreml nicht gefällt, wird versucht, eine andere zu erzwingen.



Auf dem NATO-Gipfel in Bukarest 2008 hat die Ukraine – wie auch Georgien – zwar eine prinzipielle NATO-Beitrittsperspektive bekommen, jedoch keinen konkreten „Membership Action Plan“. Der Grund dafür war, dass einige westeuropäische NATO-Mitglieder, angeführt von Deutschland und Frankreich, die beiden Länder für nicht bereit hielten und die Machtbalance mit Moskau nicht stören wollten. Russlands Invasion Georgiens weniger als sechs Monate später, die Krim-Annexion 2014 und der großflächige Angriffskrieg gegen die Ukraine 2022 zeigen, dass dieses Entgegenkommen vergeblich gewesen ist.



In diesem Jahr wird die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine wieder auf der Agenda des Bündnisgipfels in Vilnius stehen. Zwei Gründe sprechen dafür, dass die Ukraine dieses Mal eine konkrete Perspektive bekommen sollte: Erstens wird die Ukraine wegen Russlands Drohungen mit Atomwaffen Sicherheitsgarantien brauchen, die von nuklearer Abschreckung gestützt sind. Es ist unwahrscheinlich, dass die USA oder europäische Nuklearmächte derartige Garantien auf bilateraler Basis geben wollen. Zweitens ist die NATO-Mitgliedschaft die übliche Sicherheitsgarantie in Europa. Solange die Ukraine hier außen vor bleibt, sendet das ein politisches Signal an den Kreml, dass die Ukraine ein Sonderfall ist, für den andere Regeln gelten.



Dass Russland ein solches Signal als grünes Licht für die Geltendmachung einer selbst beanspruchten Interessensphäre interpretiert, ist inzwischen klar.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special 4, Juli 2023, S. 42-46

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Minna Ålander ist Research Fellow am Finnish Institute of International Affairs (FIIA) in Helsinki.