Scheitert Europa?
Zum ersten Mal ist ein Ende der EU ein realistisches Szenario. Die Substanz der Integration erodiert, zentrifugale Dynamiken verstärken den Zerfall. Eine Bestandsaufnahme.
Die Malaise der europäischen Einigung liegt in ihrer Unfertigkeit. Ihr Organisationsgrad ist hoch, ihre Regelungsdichte in den Augen vieler noch höher, und ihr rechtlicher Besitzstand füllt viele tausend Seiten – und doch ist die Europäische Union ein Torso geblieben, dem wesentliche Instrumente zur Bewahrung von Wohlfahrt und Sicherheit der europäischen Völker fehlen. So ist der Binnenmarkt unvollendet; so fehlt ihm der gemeinsame Kapitalmarkt oder die volle Handelskompetenz für die EU. Es gibt keinen Binnenmarkt für Rüstungsgüter und kaum gemeinsame Beschaffung, keinen effektiven gemeinsamen Grenzschutz und keine gemeinsame Einwanderungspolitik, keine gemeinsame Verteidigungspolitik, ganz zu schweigen von integrierten Streitkräften.
Nach dem Ende der Teilung des Kontinents hat der EU-Magnetismus der Integrationsidee ungeahnte Schübe verliehen. Groß wurde gesprochen über das neue Europa, auch dann noch, als die auf den Vertrag von Maastricht folgenden Reformverträge entweder inhaltlich oder formal scheiterten. Doch zunehmend weniger wurde groß gedacht und groß gehandelt. Die Feiertagsrhetorik europäischer Zusammenkünfte gibt es noch, aber diese bewegt kaum noch jemanden. Der Alltag europäischer Einigung folgt längst den Regeln situativen Politikmanagements, auch dann noch, wenn große Krisen das Gefüge auszuhebeln drohen. Finanz- und Staatsschuldenkrise 2008, Migrationskrise 2015, Corona-Pandemie 2020 – jede dieser Herausforderungen hat intensive Politikprozesse und zahlreiche Krisenentscheidungen ausgelöst, doch eine dauerhafte Verstärkung europäischer Handlungsfähigkeit, eine engere Union oder tiefere Integration wurden nicht erreicht, ja nicht einmal ernsthaft versucht. Ein Scheitern zu verhindern, war den Akteuren Erfolg genug. So trifft Europa der doppelte Umbruch seines Milieus absehbar unvorbereitet.
Zusammenhalt oder Vereinzelung
Einerseits exponiert und verschärft Russlands geopolitische Wendung gegen Europa und den Westen das Problem europäischer Unfertigkeit. Es ist kein isolierter Vorgang, sondern Teil eines globalen Umbruchs: Der Vorrang der Macht vor dem Recht und die Verfolgung des Eigeninteresses zu Lasten des Interessenausgleichs überlagern das werte- und regelbasierte Ordnungskonzept der jüngeren internationalen Beziehungen. Rivalisierende Großstaaten mit überlegener militärischer Macht, Wirtschaftsleistung oder Ressourcenausstattung transformieren die Staatenwelt und deren Kooperations- und Allianzstrukturen.
Machtakteure bevorzugen bilaterale Beziehungen, die sie leichter dominieren können, anstelle multilateraler Prozesse. Die Rivalität mit anderen Mächten führt sie zu Nullsummenkalkülen. Die oft revisionistische Agenda dieser Mächte, die Zuspitzung der Auseinandersetzung zwischen den größten unter ihnen, und der Eintritt der Vereinigten Staaten in diesen Kreis können Europas Einigung brechen. Zum ersten Mal seit den 1950er Jahren erscheint ein Scheitern und Zerfall der Europäischen Union als realistisches Szenario.
Nach dem Ende des Kalten Krieges wurde groß gesprochen über Europa. Groß gedacht oder gehandelt nicht
Andererseits hat sich über das zurückliegende Jahrzehnt die Balance zwischen Integration und Fragmentierung dramatisch verschoben, die John Lewis Gaddis bereits 1991 als die neue Dichotomie nach dem Ende der Blockkonfrontation erkannte. Gaddis erwartete Fragmentierung vor allem infolge von drei Triebkräften: zuerst und vor allem aus einem alt-neuen Nationalismus, in wirtschaftlicher Hinsicht aus neuem Protektionismus und kulturell aus der Zuspitzung religiöser Unterschiede — heute würde man wohl breiter von identitären Bewegungen sprechen. Diese Kräfte beschreibt Gaddis als wesentlich älter als die der Integration, sodass er selbst im Augenblick des westlichen Triumphs letztere nicht für dauerhaft gesichert hält.
Heute haben Konzept, Momentum und Akzeptanz von Integration breit an Boden verloren, in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik. Vor diesem Hintergrund kann das institutionalisierte Europa auch von innen zerfallen, angesichts einer politischen Klasse, die nicht mehr weiß, wohin Europas Union führen soll, und angesichts europäischer Gesellschaften, welche die Konsequenz von kruder Machtpolitik und populistischem Nationalismus für ihren Zusammenhalt nicht wahrhaben wollen oder nicht verstehen.
Vor dem doppelten Risiko dieser Vereinzelung steht das vereinigte Europa heute. Zu keiner Zeit seit den 1950er Jahren war die zentrifugale Dynamik stärker und sichtbarer als in der gegenwärtigen Lage. Während Institutionen und Abläufe funktionieren wie gewohnt, erodiert die Substanz der Integration unter der Oberfläche. Fünf Veränderungen markieren den schleichenden Verfall.
1. Die fehlende Integrationsidee
Über die verschiedenen Stufen ihrer Entwicklung war die europäische Integration nie ein Selbstläufer, sondern stets ein Aushandlungsprozess, in dem unterschiedliche Interessen und Zielvorstellungen zusammentrafen. Dabei wirkte die Vorstellung einer schrittweise fortschreitenden Gemeinschaftsbildung als Wegweiser. Dass die Verträge die „Finalität“ des Prozesses recht offen umschrieben, wurde so lange nicht zum Problemfall, wie die Optionen der Vollendung in der europapolitischen Debatte präsent blieben.
Seit der Jahrhundertwende hat sich diese Präsenz zunehmend verdünnt. Joschka Fischers Rede vor der Humboldt-Universität vom Mai 2000 markiert den Schlusspunkt der Debatte in Deutschland. Spätestens mit dem Scheitern des Verfassungsvertrags von 2004 ist das in Artikel 1 der geltenden Verträge benannte Zielbild einer „immer engeren Union der Völker Europas“ aus der europäischen Politik verschwunden und taucht nur noch in Festakten, Preisverleihungen und Koalitionsverträgen auf.
Stattdessen regiert pragmatisches Politikmanagement, das ohne längerfristige Zielbilder auskommt. Die Ausnahme sind gelegentliche Grundsatzreden französischer Präsidenten, deren Wirkung jedoch mangels Resonanz in der Sache gering bleibt. Es scheint, als habe die Europapolitik den Gedanken eines großen Schrittes nach vorn zu den Akten gelegt. Damit geht der Integrationspolitik ihre strategische Dimension verloren; mehr noch, ohne weiterreichende Zielvorstellungen können selbst die kleinen Schritte nicht mehr in ihrer vollen Bedeutung als Teile eines großen Weges verstanden und vermittelt werden.
2. Keine Gestaltungskoalitionen mehr
Die Entwicklung der Europäischen Union ist nicht denkbar ohne längerfristig beständige Koalitionen unter Mitgliedstaaten. Nicht nur war das deutsch-französische Tandem unverzichtbar, sondern ebenso die Integrationsallianz der Benelux-Staaten und der Beitrag Italiens. Der Konsens der Gründerstaaten hat die Union in den Stufen ihrer Erweiterung begleitet, auch wenn nicht immer alle in allen Stufen beteiligt waren. Andere Staaten wie Spanien oder Polen kamen über die Zeit hinzu, Großbritannien und nordeuropäische Mitgliedstaaten nahmen aktiv an der Gestaltungskoalition Binnenmarkt teil.
In der XXL-EU heutiger Tage fehlen solche Koalitionen angesichts der stark gewachsenen Heterogenität der Interessen. Im Politikmanagement geht es vielmehr um Mehrheitskonstellationen, die situativ und je nach Dossier unterschiedliche Staaten zusammenführen können. Dabei dominiert das Nutzenkalkül. Es finden sich keine strategischen Gestaltungsgruppen mehr, sondern eher Vetokoalitionen, die bestimmte Entscheidungen oder Weichenstellungen zu verhindern suchen.
3. Das Konzept des Souveränismus
Gaddis hatte recht; der Nationalismus ist zurückgekehrt nach Europa – zunächst in einer konstruktiv wirkenden Variante als Betonung nationaler Identität. Sie vermochte Akzeptanz und Zusammenhalt in den Gesellschaften Ostmitteleuropas zu stiften angesichts der Wucht des Wandels hin zu Demokratie und Marktwirtschaft im früheren Ostblock mit seinen sozialen Verwerfungen. Schnell zeigten sich jedoch auch Brüche und Konflikte: in der Frage des Minderheitenschutzes in einer Reihe von Staaten und massiv in den Desintegrationskonflikten und Kriegen des ehemaligen Jugoslawien.
Die darin liegende Tendenz zur Fragmentierung blieb jedoch begrenzt, da für alle der zu nationaler Selbstbestimmung gelangten Staaten der Beitritt zur Europäischen Union und zur NATO an der Spitze ihrer außenpolitischen Agenda stand. Im Alltag der Mitgliedschaft, vor allem aber in den Verteilungskonflikten und Krisen, wurden die Folgen supranationaler Politikverflechtung spürbarer. Rechtsnationale Strömungen und Parteien gewannen an Gewicht in vielen der zuletzt beigetretenen Staaten im Osten und Norden Europas, aber auch in „alten“ Mitgliedstaaten wie Frankreich mit dem Rassemblement National, Deutschland mit der AfD, den Niederlanden oder Italien.
Gemeinsam ist diesen Parteien die Betonung nationaler Souveränität, das Streben nach Bewahrung von bzw. Rückkehr zur Einstimmigkeit und das Postulat des Vorrangs nationalen Rechts vor dem europäischen Recht. Das Programm des Souveränismus ist die Dekonstruktion der Europäischen Union zu einer freiwilligen Zusammenarbeit unabhängiger Staaten mit eigenen Grenzen, eigenen Institutionen und eigener Währung.
4. Populistisch verstärktes Unbehagen
Die Resonanz nationalistischer Parteien in Europa lässt sich schwerlich aus der Stringenz ihrer Argumentation oder der Attraktivität ihrer Alternativen erklären. Viele Menschen in Europa artikulieren in den Befragungen des Eurobarometer weiterhin positive Einstellungen zur EU, seit einer Schwächephase um 2011/12 herum sogar mit deutlich steigenden Werten – erstaunlich angesichts der erheblichen Zunahme europakritischer Stimmen in der öffentlichen Debatte. Dies mag Indiz für eine zunehmende Polarisierung innerhalb europäischer Gesellschaften sein, weist möglicherweise aber auf Kontingenzerfahrungen vieler Menschen hin, in Reaktion auf die enorme Zunahme von wirtschaftlicher, politischer und gesellschaftlicher Integration im globalen Maßstab.
Die Entgrenzung von Wirtschaft in der Globalisierung von Lieferketten und Produktionsstandorten, die Entgrenzung von Gesellschaft durch globale Kulturindustrie, Mobilität und Digitalität sowie die Entgrenzung des Staates durch supranationale Verflechtung und global agierende Politik haben nicht nur neuen Wohlstand und neue Möglichkeiten geschaffen, sondern auch Vertrautheitsverluste, Ängste und Sinnkrisen ausgelöst. Integration evoziert ihr Gegenteil, so scheint es, forciert Begriffe wie Heimat, Nation oder Religion als den nichtmateriellen Kategorien der Selbstbeschreibung, die Beständigkeit, Zugehörigkeit und Abgrenzung versprechen. „Take Back Control“ – dieser Slogan aus der Brexit-Kampagne bringt das Unbehagen an der Entgrenzung auf den Punkt.
Es gehört zur Ironie der Integrationsgeschichte, dass die EU in den Augen vieler Menschen heute zum Teil des Problems geworden ist, wo sie Lösung sein sollte, konzipiert als Schutzraum, der einer kleinräumigen, oft dysfunktionalen Staatenwelt Europas ein Überleben in Wohlstand und Sicherheit erlauben sollte.
5. Die USA ohne europäische Rolle
Politik und Rolle der Vereinigten Staaten waren mitentscheidend für den Aufbau Europas. Die Bereitstellung der Mittel aus dem Marshall-Plan knüpften die USA an die Bedingung der Zusammenarbeit der Empfängerstaaten, und sie waren seit Gründung der NATO unbestrittene Führungsmacht und Sicherheitsgarant der Europäer. Die intergouvernementale Struktur der Allianz entsprach den Präferenzen der amerikanischen Außenpolitik mehr als die sich entwickelnden supranationalen Elemente der heutigen Europäischen Union.
Washingtons Verhältnis zum „other place“ in Brüssel blieb ambivalent. Die Abgabe von Souveränität an gemeinsame Institutionen und die daraus entstehende Verhandlungsmacht der Europäer führte bereits in den 1960er Jahren zu ersten Handelskonflikten. Auch die Frage der Lastenteilung in der NATO im Sinne einer Entlastung der USA begleitet die transatlantischen Beziehungen seit Jahrzehnten. Das strategische Interesse der Vereinigten Staaten an einem stabilen, prosperierenden und kooperativen Europa überwog jedoch eindeutig.
Politische Gebilde können institutionell weiter bestehen, ihre Bedeutung und Bindekraft aber verlieren
Die Rückkehr Donald Trumps ins Weiße Haus ändert alles. Mit ihm beschleunigt sich der Konstellationswandel in den transatlantischen Beziehungen rasant. Für Trump ist die EU ein Instrument der Europäer zur wirtschaftlichen Übervorteilung der USA, die Größe und Organisation des EU-Binnenmarkts eine Waffe vor allem in den Händen exportstarker Mitgliedstaaten wie Deutschland. Die EU-Institutionen erschweren den transaktionalen Charakter seiner Politik. Das Trump-Lager hat schon den Brexit gefeiert und unterstützt die EU-kritischen Parteien und Regierungen in Europa. Dass Europas Nationalisten häufig stark antiamerikanische Ressentiments pflegen, scheint den Trumpisten zweitrangig zu sein gegenüber der Chance einer Spaltung der EU.
Um diese Gemeinschaft aufzubrechen, dürfte die Trump-Administration gefügige Staaten mit Ausnahmen im Handelskrieg belohnen und zugleich das Sicherheitsdilemma der Europäer verschärfen wollen. Angesichts der deutlich gewachsenen Verteidigungsausgaben hat Trump bereits die Zielmarke auf 5 Prozent des Sozialprodukts angehoben, wobei er diese Ausgaben als Schulden der Europäer gegenüber den Vereinigten Staaten sieht. Aus seiner Sicht wären die vor allem durch Waffenkäufe in den USA im großen Stil abzutragen. Kommt es daneben zu der von ihm angekündigten raschen Beendigung des russischen Krieges gegen die Ukraine auf der Basis des heutigen Status quo, dürften die Bedrohungsvorstellungen in Ostmitteleuropa stark steigen – Trump hätte sie in der Hand. Schutz gegen Geld, Rabatt gegen politische Gefolgschaft – dies trüge nicht nur neue Konflikte in die Beratungen der EU, sondern veränderte zugleich den Charakter der militärischen Allianz. In seinem Ausblick auf die kommenden Jahre hat Thomas Kleine-Brockhoff diese Staaten kürzlich als Camp der „Anpasser“ charakterisiert und neben der Ostflanke auch Deutschland hinzugezählt (IP 1/2025, „Wie umgehen mit einem Bully?“). Akzeptieren sie diese Rolle, wird ihre Schwäche zur Achillesferse der EU.
Kann die EU das Jahr 2040 erleben?
Es steht also nicht gut um die Zukunft der Europäischen Union, und dies nicht nur aufgrund der Renaissance von Großmachtpolitik, De-Globalisierung und gesellschaftlicher Polarisierung. Brüssel sei das neue Moskau, lautet eine der Sottisen des ungarischen Premiers Viktor Orbán, die von vielen seiner souveränistischen Gesinnungsfreunde geteilt wird. Orbán spielt damit sowohl auf die von ihm behauptete Unterdrückung nationaler Hauptstädte durch die EU-Institutionen als auch auf das Schicksal der Sowjetunion an. Die Rede vom neuen Moskau erinnert an den berühmten Essay von Andrei Amalrik und dessen These, die UdSSR werde an ihrer inneren Erstarrung im Krieg gegen einen äußeren Gegner (hier: China) zugrunde gehen.
Kann es ein Europa überleben, von maßgeblichen Akteuren derart missverstanden und verunglimpft zu werden? Offensichtlich ist die europäische Integration fragiler als von vielen erwartet; auch eine so konsolidierte und verfasste Struktur kann zerfallen, wenn sie die Bedürfnisse, Interessen und Ambitionen ihrer Mitglieder nicht mehr erfüllt. Politische Gebilde brechen jedoch nur selten so spektakulär zusammen wie die Sowjetunion, erst recht nicht, wenn sie auf frei geschlossenen Verträgen, Schranken und zahlreichen Beteiligungsformen sowie demokratischer Kontrolle beruhen. Zwar können sie institutionell weiter bestehen, ihre Bedeutung und Bindekraft aber verlieren; sie können weder Weiterentwicklung erfahren noch Handlungsfähigkeit bewahren – bis sie eines Tages vollständig obsolet geworden sind und nur der Ewigkeitscharakter ihrer Rechtsgrundlagen ein Verschwinden verhindert.
Viktor Orbán allein kann die EU nicht sprengen, doch die Beteiligung rechtsnationaler Parteien an immer mehr Regierungen in der EU könnte dies auslösen, wenn sie – wie Polen und Ungarn vorgemacht haben – die Gewaltenteilung und Grundfreiheiten in ihren Ländern beschneiden, wenn sie wie einige EU-Staaten europäisches Recht und Mehrheitsentscheidungen im Rat nicht mehr umsetzen oder durch nationale Alleingänge unterlaufen. Die Einwanderungs- und Asylpolitik der vergangenen Jahre hat dazu einige Anschauung vermittelt. Das Ringen um außenpolitische Geschlossenheit liefert weitere Beispiele der Zerbrechlichkeit. Wenn diese Tendenzen die erste Säule der EU erreichen – den Binnenmarkt und die gemeinsame Währung –, dann zerreißt die Union in einer Fülle von Mehrebenenkonflikten zwischen EU-Institutionen und Mitgliedstaaten sowie unter ihnen selbst. Gemeinsam geschaffener Wohlstand und gemeinsame Sicherheit gehen verloren.
Scheitert der strukturierte Interessenausgleich, wird die Durchsetzung nationaler Interessen Vertrauen und Zusammenarbeit zerstören, und das Machtgefälle unter den europäischen Staaten wird neue Gräben aufreißen. Zerbricht die Solidarität innerhalb der EU, wird auch die Solidarität innerhalb der NATO nicht halten. Im Blick auf die großen und mittleren Mächte der Weltpolitik verzwergt Europa im Gestrüpp seiner Anbiederungsversuche. Ein Kontinent der „First-entümer“ wird keinesfalls die Antwort auf Trumps „America First“ sein können.
Dass dieses Szenario, wenngleich möglich, doch nicht hochwahrscheinlich erscheint, ist allein der inhärenten Balance einer multiplen Akteurskonstellation zu verdanken, die plötzliche Ausschläge abpuffern kann und Momentum in den Längen der Prozesse verebben lässt. Dies sollte allerdings niemanden über die Risiken für Integrität und Zusammenhalt täuschen, vor denen die Europäer stehen. Europas Ende kommt schleichend.
Wege aus der Erosion
Die Europapolitik muss aufhören mit dem taktischen Geplänkel. Die EU steckt heute in einer „Politikentflechtungsfalle“ (der Begriff modifiziert die von Fritz W. Scharpf geprägte Analyse, die das Unbehagen an der EU-Politik mit dem Begriff der „Politikverflechtungsfalle“ erklärt), da die Mitgliedstaaten in Krisenfällen – etwa in der Asylfrage – nationale Alleingänge unternehmen, um europäische Lösungen zu erzwingen, diese Lösungen von anderen blockiert oder national nicht umgesetzt werden, was wiederum dritte, integrationswillige Mitglieder zu nationalen Alleingängen provoziert. Aus Angst vor einer Spaltung dann weitere Integrationsschritte, eine Vertiefung der EU zu vermeiden, hat zu mehr Fragmentierung durch den Aufstieg des Souveränismus geführt.
Die EU braucht einen Aufbruch zur politischen Union, sie braucht strategisches Denken
Europa benötigt vielmehr neue Integrationsimpulse, weil die Handlungsfähigkeit der Europäer immer stärker hinter dem Handlungsbedarf zurückbleibt. Die EU braucht einen Aufbruch zur politischen Union, braucht strategisches Denken. Eine Weiterentwicklung muss die Klärung und Abgrenzung der Zuständigkeit ebenso umfassen wie die Effektivierung der Verfahren über Mehrheitsentscheidungen. Vor allem in der Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion, in der inneren Sicherheit und dem Gesamtbereich der Zuwanderung sowie in der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist „Mehr Europa“ nötig.
Dies schließt die Frage einer gemeinsamen Verteidigung ein. Sie auszuschließen mit dem Argument, dies könne die Garantenrolle der Vereinigten Staaten infrage stellen, überzeugt nicht mehr, denn heute zeigt sich, dass das Nichthandeln der Europäer die Bündnissolidarität der USA gefährdet. Die zur gemeinsamen Verteidigung bereiten europäischen Regierungen sollten vorangehen mit einem gemeinsamen strategischen Konzept, gemeinsamer Beschaffung auf einem gemeinsamen Markt und gemeinsamen Streitkräften an der Ostflanke, wo die Gefahr einer Verletzung der territorialen, politischen und wirtschaftlichen Integrität am größten ist. Dass sie auch in der NATO gemeinsam agieren, liegt auf der Hand.
Das Vorangehen einer Staatengruppe wäre auch für die innere Sicherheit des Raumes ohne Binnengrenzen zu kalkulieren. So wie das Schengener Abkommen eine Vereinbarung von zunächst fünf Staaten war, die außerhalb aber in Bezug auf die Verträge eine Lösung fanden, können Blockaden und Stillstand auch in anderen Bereichen überwunden werden.
Eine neue Europapolitik
Die Stärkung Europas entlang solcher Linien kann nur durch handlungswillige und hinreichend stabile Koalitionen europäischer Staaten herbeigeführt werden. Sie müssen eine neue Sprache finden für die Herausforderungen an Europa, ihre Ziele und Strategien, da die alten Chiffren weder Aufmerksamkeit noch Zustimmung finden. Die politische Kommunikation muss aufhören mit dem „over-selling“ und „under-performing“ in der Europapolitik.
Vieles, wenn nicht alles hängt dabei von Deutschland ab. Wie die deutsche Politik die Lage Europas liest und welche Schlussfolgerungen sie zieht, entscheidet über die Perspektive jeder Gestaltungskoalition zu den genannten Bereichen. Alle sehen das, nur die deutsche Politik nicht, eingemauert hinter ihren roten Linien. Andere Staaten wie Frankreich oder Polen sind ebenfalls wesentlich für ein strategisches Europa, doch ohne Deutschland kommt hinreichendes Gewicht kaum zustande. Bleibt Deutschland integrationspolitisch passiv wie bisher, lehnt die Bundesregierung variables Vorangehen weiter ab, dann bleiben auch andere Akteure im Wartestand. Ein unentschlossenes Deutschland lähmt Europa. Wenn die Einigung Europas zerfällt, wird die Bundesrepublik Deutschland Hauptleidtragender und Sündenbock zugleich sein.
Ein handlungsfähiges Europa liegt im vitalen Interesse des Landes. Wer immer die nächste Bundesregierung bildet, darf sich nicht mit Allgemeinplätzen und diffusen Absichtserklärungen im Koalitionsvertrag begnügen. So wie Europa ein strategisches Konzept seiner Weiterentwicklung braucht, so benötigt die deutsche Politik eine außen-, sicherheits- und europapolitische Strategie. Sie kann sich in der Zielformulierung bei Frankreichs Präsident Macron bedienen, doch sie muss selbst die operativen Schritte und die eigenen Beiträge benennen. Eine nationale Europastrategie muss Angebote zur Partnerschaft und Koalitionsbildung unterbreiten. Deutschland muss das Risiko einer Zurückweisung eingehen und Alternativen planen. Ein „Direktorium“ weniger großer Staaten wird nicht genug Gewicht besitzen; es müssen weitere Mitgliedstaaten aus unterschiedlichen Räumen der EU zur Mitwirkung gewonnen werden.
Die Abstinenz des Auswärtigen Amtes in den Grundsatzfragen der Europapolitik muss überwunden werden. Wo sonst könnte konsequenter und kompetenter an Strategiebausteinen und Partnerschaften gearbeitet werden? Deutschland braucht einen Nationalen Rat für Europastrategie viel mehr als einen Nationalen Sicherheitsrat beim Bundeskanzler. Eine neue Europapolitik benötigt das strategische Zusammenwirken der Schlüsselressorts Kanzleramt, Auswärtiges Amt, Verteidigungs-, Innen-, Finanz- und Wirtschaftsministerium.
Es genügt nicht, eine neue Europapolitik zu wollen; sie muss gemacht werden. Zu oft bestimmte das Regierungshandeln die Hoffnung, es werde nicht so schlimm kommen. Diese Zeiten sind vorbei. Es kommt schlimmer.
Internationale Politik 2, März/April 2025, S. 72-79