In 80 Phrasen um die Welt

01. Sep 2020

„Nicht mit erhobenem 
Zeigefinger“

In 80 Phrasen um die Welt

Als Heiko Maas im vergangenen Jahr seinen türkischen Kollegen Mevlüt Çavuşoğlu besuchen wollte, warnte der vorab, der Deutsche könne gerne kommen – „aber nicht mit erhobenem Zeigefinger“. Maas selber mahnte bei anderer Gelegenheit, zwar müsse man rechtsstaatliche Defizite unter unseren europäischen Nachbarn „klar benennen“. Man dürfe aber „nicht mit dem erhobenen Zeigefinger durch Europa laufen“.



Oft geht es um die drei Großmächte, auf die Deutschland in unterschiedlicher Weise angewiesen ist, wenn vom ausgestreckten Indexfinger abgeraten wird: Russland, China, USA. In Russland, so wird Matthias Platzeck, der Vorsitzende des Deutsch-Russischen Forums, nicht müde zu betonen, herrsche „ein anderes Politikverständnis, dem mit erhobenem Zeigefinger nicht beizukommen“ sei. In China, liest man häufig, könne der Westen nicht „den Wandel von außen mit erhobenem Zeigefinger beschleunigen“. Eine Diktion, die Chinas Botschaft mittlerweile dankend übernommen hat: „Wir brauchen keine erhobenen Zeigefinger von außen“, so schmetterte die Sprecherin der Botschaft im Frühjahr Kritik an Pekings Corona-Maßnahmen ab.



Auch mit Bezug auf die USA wurde die Phrase in der konfliktträchtigen jüngsten Vergangenheit häufiger gebraucht: Angesichts der Eskalationsdynamik von Protest, Aufruhr und Polizeigewalt nach der Tötung George Floyds gab der FDP-Außenexperte Alexander Graf Lambsdorff zu bedenken, auch in Europa fänden gewalttätige Proteste statt (Gelbwesten), darum habe man „keinen Grund, mit erhobenem Zeigefinger herumzulaufen“.



Das ist, auf den ersten Blick, alles nicht ganz falsch: Die Warnung vor der Hypermoral in der deutschen Außenpolitik ist durchaus berechtigt. Es gibt hierzulande eine falsche Scheu, offen darüber zu reden, welche Abwägungen politischen Entscheidungen zugrunde liegen. Doch wer die Zeigefinger-Phrase benutzt, gibt meist nur vor, gegen Moralismus zu kämpfen. In Wahrheit geht es oft darum, Kritik generell zu delegitimieren. Wer Russlands Rückschritt in die Despotie nicht für notwendig hält, wer Polens und Ungarns Attacken auf den Rechtsstaat klar benennt, wer den völkerrechtswidrigen Einsatz der Türkei in Syrien offen anspricht oder Chinas Umgang mit den Uiguren, soll bereits in den Ruch von Heuchelei, Doppelmoral, Oberlehrer-Attitüde gerückt werden.



Ja, Moralismus ist schlecht für den außenpolitischen Diskurs. Aber auch der Amoralismus der Zeigefinger-Kritiker führt in die Irre. Ihre Attacken auf die selbstgerechten Kritiker sind meist Nebelkerzen zur Verdeckung der eigenen Kalküle.



 Die Türkei, das meint Außenminister Çavuşoğlu in Wahrheit, wird als Türhüter gebraucht, weil ihr Europäer nicht willens seid, eure eigenen Grenzen zu schützen. Also machen wir in Syrien, was wir wollen. Heiko Maas’ Warnung lässt sich so übersetzen: Nach dem Abgang der Briten ist die Einheit Europas nach außen für uns wichtiger ist als der Wertekonsens im Innern, darum halten wir uns mit Kritik an Polen und Ungarn lieber zurück. Die Sprecherin der chinesischen Botschaft wiederum hat folgende unterschwellige Message: Bei eurer Abhängigkeit von unserem Riesenmarkt solltet ihr euch zweimal überlegen, wieviel Kritik uns gegenüber ihr euch noch leisten könnt. Und darüber wäre in der Tat zu reden.

 

Jörg Lau ist Außenpolitischer Koordinator im Ressort Politik der ZEIT und Kolumnist der „80 Phrasen“.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2020; S. 13

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