Nicht jeder in Delhi sollte Auto fahren
Indien muss globaler Energieakteur werden und lokal weniger verbrauchen
Das Thema der zivilen Nuklearzusammenarbeit hat in den vergangenen Monaten die indische Regierungskoalition in ihren Grundfesten erschüttert. Die strittigen Fragen sind: Inwieweit gefährdet das Atomabkommen mit den USA die strategischen Interessen Indiens? Und wie kann es zur Lösung der Energieversorgungsprobleme beitragen, die mittel- und langfristig auf das Land zukommen? In Indien haben ungefähr 400 Millionen Menschen keinen Zugang zur Stromversorgung, fast 670 Millionen kochen noch immer mit traditioneller Biomasse. Und der indische Wirtschaftsaufschwung braucht Treibstoff. In Anbetracht dessen überrascht es nicht, dass Energie inzwischen zu einer wirtschaftspolitischen Schlüsselfrage geworden ist.
Der Ölpreis liegt schon bei über 100 Dollar pro Barrel, etwa 300 kWh Gas kosten 15 Dollar, die Kosten für Kohle steigen ebenso. Auch wenn man annehmen kann, dass die Regierung die Energieversorgung noch weiter in dem derzeit üblichen irrationalen Ausmaß subventionieren kann, ist ein Blick auf das nicht mehr so weit entfernte Jahr 2030 notwendig. Um ein achtprozentiges Wirtschaftswachstum beizubehalten, braucht Indien in den kommenden fünf Jahren 700 000 MW Strom zusätzlich. Zum Vergleich: Im zehnten Fünfjahresplan, der 2007 endete, ging es um eine Steigerung von 21.000 MW! Um die Stromerzeugung auf diesem Niveau zu halten, müsste Indien fast eine Milliarde Tonnen Kohle importieren (momentan sind es 100 Millionen Tonnen), und ab 2017 – falls die zivile Nuklearkooperation dann umgesetzt ist – 3000 MW jährlich aus Kernkraft zusätzlich gewinnen. Das ist fast so viel wie derzeit insgesamt produziert wird. Unser Land ist auf dem Weg, an der Energiefront extrem verwundbar zu werden.
Wie sollen wir zehnmal so viel Kohle und drei- bis viermal so viel Öl importieren wie bisher? Verschiedene miteinander verknüpfte Faktoren kämen ins Spiel. Zunächst muss Indien sich eingestehen, dass es trotz seines erhöhten Importbedarfs noch immer ein vergleichsweise unbedeutender Akteur auf den globalen Energiemärkten ist. Trotz großer Reden sieht es bisher nicht so aus, als würden die entwickelten Staaten, vor allem die USA, aber auch Europa, ihre Energienachfrage in nächster Zeit so zurückfahren, dass es Auswirkungen auf die Märkte hat. Indiens verstärkter Energiebedarf kommt also zu der erhöhten Nachfrage der entwickelten Welt und Chinas hinzu, was wahrscheinlich zu horrenden Preissteigerungen führen wird. Ebenso wie China investiert Indien in ausländisches Öl und Gas. Doch selbst wenn diese Anstrengungen Erfolg hätten, wären doch die Zusatzkosten für die Belieferung des heimischen Marktes hoch.
Gas könnte eine kohlenstoffarme Alternative für Indien sein, da in letzter Zeit sowohl zu Lande als auch im Meer erhebliche Vorkommen entdeckt wurden. Und es ist anzunehmen, dass die Forscher noch mehr finden. Die neuen Vorkommen könnten die Abhängigkeit von Gasimporten reduzieren, aber wahrscheinlich die Kohleimporte nicht ersetzen. Gas statt Kohle einzuführen bringt geografische Herausforderungen mit sich. Um Gas aus dem Mittleren Osten und Zentralasien zu transportieren, hat Europa bereits wesentlich in Pipelines investiert und sich dadurch einen Wettbewerbsvorteil gesichert. Auf der anderen Seite wären auch bei einer Weiterentwicklung des indischen Marktes enorme Investitionen in ein Pipelinenetz erforderlich.
Im Bereich der alternativen Energien ist in Indien vor allem die Windkraft auf dem Vormarsch. Dank unternehmerfreundlicher Politik ist es derzeit der weltweit viertgrößte Erzeuger von Windenergie. Solarkraft und Biomasse bleiben bisher hinter ihr zurück. Doch für alle Arten erneuerbarer Energien gilt: Investoren können damit rechnen, dass ihr Produkt auf Dauer wettbewerbs-fähig wird. Das schafft Vertrauen.
Schätzungen zufolge könnte der Preis für in Photovoltaik-Anlagen erzeugte Energie bei zehn bis zwölf Cent pro kWh liegen, für solare Thermalenergie bei neun Cent pro kWh – und das bereits 2010! Sämtliche im vergangenen Jahr in Indien produzierten PV-Solarzellen wurden nach Deutschland exportiert. Ähnlich ist die Situation in China. Die europäische Nachfrage hat Chinas Entwicklung zum wichtigen Standort für die Herstellung von Solar- und Windtechnologie beschleunigt. Indien muss sowohl sein Rohstoff- als auch sein Herstellungspotenzial im Bereich der erneuerbaren Energien voll ausschöpfen, um sich den Herausforderungen des Energiemarkts zu stellen und zur globalen nachhaltigen Entwicklung beizutragen.
Die Analyse verschiedener Szenarien zeigt, dass der Energieverbrauch dramatisch gesenkt werden kann – mit den entsprechenden Veränderungen kann Indien die Energieintensität des BIP um 33 Prozent vermindern. Dazu müsste die Energieerzeugung vor allem effizienter werden. Entscheidend dafür wäre die Nutzung von Clean Coal-Technologien. Den Verkehr sollten wir auf die Schiene und den öffentlichen Transport verlagern. Wir haben Glück, dass noch nicht so viele Inder ein Auto besitzen und dazu „erzogen“ werden könnten, den energiesparenden öffentlichen Transport zu benutzen. Die internationale Gemeinschaft muss die Bemühungen der Regierung, die dazu notwendige Infrastruktur auszubauen, dringend mit Entschiedenheit unterstützen.
Indiens energiepolitisches Vorgehen wird bezüglich Nachfrage, CO2-Austoß, Investitionen und Marktmechanismen weltweit Konsequenzen haben. Wir können es uns nicht länger leisten, uns primär und egoistisch auf unsere eigenen Bedürfnisse zu konzentrieren, sondern müssen global Lösungen und Wirkungen bedenken. Indiens Teilnahme an dem multinationalen Projekt ITER zur Erforschung eines Kernfusionsreaktors zeigt, dass es Interesse daran hat, an globalen Lösungen mitzuarbeiten. Als immer größerer Energieverbraucher, Technologieexporteur und Markt für saubere Energie muss Indien die Form und Struktur des wachsenden Energiesektors mitgestalten.
Übersetzung: Dinah Stratenwerth
Prof. Dr. LEENA SRIVASTAVA, geb. 1960, ist Direktorin des TERI Instituts für Umwelt, Energie und Nachhaltige Entwicklung. Sie lehrt auch an der TERI-Universität in Neu-Delhi.
Internationale Politik 4, April 2008, S. 62 - 63