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01. Jan. 2016

Neustart in Buenos Aires

Mit seinem knappen Wahlsieg beendet Präsident Macri die Ära Kirchner

Erstmals seit 70 Jahren wird Argentinien von einem konservativen Präsidenten regiert. Mauricio Macri, der zehn Jahre lang Bürgermeister von Buenos Aires war, verspricht auch außenpolitisch einen echten Neustart. Dazu muss er aber langjährige Altlasten aus dem Weg räumen – im Verhältnis zu den USA sowie zu Venezuela.

Leger steht Argentiniens neu gewählter Präsident Mauricio Macri im Schatten ausufernder Bäume im Botanischen Garten von Buenos Aires. Um ihn herum auf dem Rasen sind seine Minister und engsten Mitarbeiter versammelt. Das Ambiente ist locker, wenig formell. Es ist der Tag, an dem der liberal-konservative Macri seine neue Regierung vorstellt. Macri spricht von einem „Experten-Kabinett“ mit weniger Politikern, dafür mit Ministern, die Erfahrungen aus der Privatwirtschaft mitbringen. Am 22. November gewann Macri in einer Stichwahl gegen den Regierungskandidaten von der linksgerichteten „Frente para la Victoria“ Daniel Scioli die Präsidentschaft.

Macri verspricht eine „Politik der offenen Tür“, wie er es bereits in den vergangenen zehn Jahren als Stadtoberhaupt von Buenos Aires praktiziert habe. „Die Minister sollen aus ihren Büros raus auf die Straße gehen“, sagt er den anwesenden Journalisten. Ausführlich beschreiben argentinische Medien danach jedes Detail der ersten Kabinettssitzung. Wer von den Ministern zu spät kommt, muss beispielsweise einen Obolus zahlen. Schon beim ersten Treffen füllte sich die „Strafkasse“, hieß es.

Was wie eine Selbstverständlichkeit klingt, ist für das südamerikanische Land eine absolute Neuheit. Macris Vorgängerin, die linksgerichtete Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner (2007 bis 2015), pflegte einen wenig transparenten und schrillen Politikstil. Mit den Medien stand die eigenwillige Staatschefin ohnehin auf Kriegsfuß. Pressekonferenzen gab sie fast nie, auch Interviews waren ihr suspekt. Ihre Entscheidungen gab Kirchner vom Pult bekannt, Fragen unerwünscht. Auch Kabinettssitzungen fanden in der Ära Kirchner nicht statt. Die Präsidentin beriet sich mit ihren Ministern lieber einzeln.

Es ist ein anderer Politikstil, der jetzt am Rio de la Plata Einzug hält und für einen Neuanfang steht. Nicht nur äußerlich wird sich vieles in ­Argentinien ändern. Der Wahlsieg des 56-jährigen Macri kommt einer Revolution gleich. In Lateinamerika ist es immer noch keine Selbstverständlichkeit, dass Machtwechsel ohne einen Putsch zustande kommen. Argentinien hat es geschafft.

Erstmals seit Jahrzehnten wird Argentinien von einem Präsidenten regiert, der nicht aus dem peronistischen Lager kommt. Viele Beobachter sehen darin das Ende dieser populistischen, ideologisch breit gefächerten Bewegung, die in ihren Anfängen einen „dritten Weg“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus suchte. In den zehn Jahren an der Spitze der Stadtverwaltung von Buenos Aires schmiedete Macri beharrlich ein breites Bündnis aus Konservativen, Liberalen und abtrünnigen Peronisten. „Cambiemos“ („Auf zum Wandel“) soll für die neue Kraft der Mitte stehen, für einen Ausgleich der stark polarisierten argentinischen Gesellschaft sorgen.

„Mauricio Macri ist ein Politiker des 21. Jahrhunderts. Das Modell des Peronismus hat sich überholt“, sagt die Journalistin und Autorin Silvia Mercado. „Er wird integrieren und rational agieren.“ Das ist nach zwölf Jahren Kirchnerismus ein durchaus neues Politikverständnis. Cristina Kirchner habe Politik immer mit Melodramatik verbunden und so die gesellschaftlichen Gruppen gegeneinander ausgespielt, meint Mercado. „Darin war sie eine Meisterin.“

Doch die Präsidentschaftswahl hat Argentinien tief gespalten. Der Vorsprung von drei Prozentpunkten vor seinem Herausforderer aus dem Regierungslager Daniel Scioli war knapp. Die sozialen Bewegungen befürchten schmerzhafte Kürzungen der Sozialausgaben, die vor allem die Bedürftigen treffen. Sie erinnern sich an Konflikte und Auseinandersetzungen mit Macri als Bürgermeister der Hauptstadt. „Es gab keinen Dialog. Macri hat es immer abgelehnt, mit uns zu verhandeln“, sagt Florencis Puente von der Basisbewegung „Frente Popular Darío Santillán“.

Raus aus der Isolation

Auch außenpolitisch spart Macri nicht mit Superlativen und verspricht nichts weniger als ein neues Zeitalter. Macri will Argentinien aus der internationalen Isolation holen. Umsetzen soll die neue Strategie Susana Malcorra. Sie ist eine der erfahrensten Diplomatinnen Argentiniens und war zuletzt Kabinettschefin von UN-Generalsekretär Ban Ki-moon. Die Außenministerin wird für ihre weltweiten Kontakte geschätzt und soll für die neue Öffnungspolitik stehen.

Unter Kirchner wurden China und Russland zu bevorzugten Partnern; andere traditionelle Verbündete wie Europa dagegen vernachlässigt. Für das harsche Vorgehen der autoritär agierenden Kirchner zahlte Argentinien international einen hohen Preis: Investoren hielten sich zurück und die Wirtschaft schlitterte in den vergangenen zwei Jahren erneut in eine schwere Rezession.

Einer Reparatur bedarf vor allem das Verhältnis zu den Vereinigten Staaten. Hintergrund ist ein erbitterter Kampf von Kirchner gegen die zwei New Yorker Hedgefonds NML Capital und Aurelius. Diese hatten nach der Staatspleite Argentiniens 2002 günstig ausfallbedrohte Anleihen gekauft und klagten dann auf ­volle Rückzahlung. Mehr als 90 Prozent der anderen Gläubiger akzeptierten hingegen einen Schuldenschnitt. Im Juni gab ein New Yorker Gericht den Hedgefonds recht. Kirchner, die in diesem Streit das argentinische Volk an ihrer Seite wusste, holte zu einer Verbalattacke aus und beschimpfte die „Geierfonds“ bei der UN-Vollversammlung als „wirtschaftliche Terroristen“. Dem neuen Präsidenten obliegt es nun, den Konflikt weniger emotional aufgeheizt zu lösen. „Macri hat mich eindringlich um eine Wiederbelebung der Beziehungen zu den USA gebeten“, sagt der neue Botschafter in Washington, Martín Lousteau. „Der Aufbau von neuem Vertrauen steht an oberster Stelle.“

Wiederbelebung des Mercosur

Doch auch innerhalb Südamerikas ist der erste Konflikt schon da. Macri will das Regionalbündnis Mercosur wiederbeleben, aber Venezuela ausschließen. Die Meinungsfreiheit sei in Venezuela nicht gewährleistet und die Opposition unterdrückt, betont er. Macri sieht die so genannte Demokratieklausel des Mercosur verletzt, die in den Statuten bei der Gründung 1991 festgeschrieben wurde. „Es ist klar, dass die Klausel verletzt wird, die Vorwürfe sind eindeutig und keine Erfindung“, sagt er knapp zwölf Stunden nach seiner Wahl auf einer Pressekonferenz. Neben ihm sitzt Lilian Tintori, die Ehefrau des seit mehr als anderthalb Jahren inhaftierten venezolanischen Oppositionsführers Leopoldo López. Dieser wurde in einem international als nicht rechtsstaatlich kritisierten Prozess zu knapp 14 Jahren Haft verurteilt. Macri stellte einen entsprechenden Antrag auf Ausschluss Venezuelas aus dem Mercosur.

Das Begehren sorgt für Zündstoff, vor allem unter den linksgerichteten Regierungen. Natürlich sehen auch Präsidentinnen wie Dilma Rousseff aus Brasilien oder ihre chilenische Amtskollegin Michelle Bachelet das Vorgehen der sozialistischen Regierung gegen die Opposi­tion in Venezuela kritisch. Brasilien bot mehrfach an, in dem Konflikt zu vermitteln. Doch zu einem Ausschluss Venezuelas wird es aufgrund der Machtverhältnisse nicht kommen. Dennoch ist es der erste außenpolitische ­Aufschlag von Macri, der ihm auch über Lateinamerika hinaus Gehör verschafft.

Obwohl Rousseff im argentinischen Wahlkampf den unterlegenen Regierungskandidaten Scioli unterstützt hat, gehen beide Länder von einer guten Zusammenarbeit aus. Rousseff, zwar politisch schwer angeschlagen und von einer Amtsenthebung bedroht, agiert außenpolitisch pragmatisch. „Macri wird exzellente Beziehungen zu Brasilien aufbauen. Es gibt keine alten Rechnungen zu begleichen“, sagt die Journalistin Silvia Mercado.

Auch dem auf Eis liegenden Abkommen zwischen der EU und dem Mercosur will Macri Aufwind verleihen. Argentinien galt für das seit 1999 diskutierte Freihandelsabkommen stets als Bremser. Brasilien, der mit Abstand wichtigste Handelspartner für Europa, will dagegen eine rasche Umsetzung.

Bei der Neuausrichtung der Außenpolitik muss Macri, der aus einer der reichsten Familien des Landes stammt, noch mit weiteren Altlasten aufräumen. International viel kritisiert wurde vor allem die heikle Zusammenarbeit zwischen Argenti­nien und dem Iran. Oppositionspolitiker sind sich sicher, dass die argentinische Regierung dem Mullah-Regime Uran für sein Atomprogramm verkauft hat. Bewiesen werden konnte bislang nichts. Präsidentin Kirchner wies die Anschuldigungen stets als „Komplott der CIA“ zurück.

2013 unterzeichneten Buenos Aires und Teheran ein Abkommen, mit dem offiziell der Anschlag auf das jüdische Gemeindezentrum Amia im Jahr 1994 mit 85 Toten untersucht werden sollte. Ermittler sehen in Regierungsvertretern aus Teheran die Drahtzieher. Kirchner sprach sogar von einer Wahrheitskommission, die eingerichtet werden sollte. Zu einer wirklichen Aufklärung des Bombenanschlags ist es allerdings nie gekommen. „Damit haben wir den Iran salonfähig gemacht“, konstatiert die damalige Oppositionsabgeordnete Elisa Carrió. Das Abkommen sei nicht im Sinne des argentinischen Volkes und schon gar nicht der Opfer. Vielmehr, so die Überzeugung zahlreicher Beobachter, ging es dem international isolierten Iran um den Zugang zu Märkten in Lateinamerika.

„Es muss untersucht werden, ob der Vertrag nicht eigentlich vertuschen will. Das wäre ein riesiges Verbrechen“, sagt auch der Publizist Joaquín Morales Solá in der Zeitung La Nación. Macri kündigte jetzt als einen seiner ersten Schritte im Präsidentenpalast an: „Ich werde dem Kongress vorschlagen, dieses Abkommen aufzuheben.“ Es habe weder die argentinische Nation geeint noch unserem Ansehen geholfen, führt er zur Begründung an.

Noch einen weiteren Fall muss Argentinien aufklären: die mysteriösen Umstände des Todes von Staatsanwalt Alberto Nisman. Der 51-Jährige wurde im Januar 2015 tot in seiner Wohnung aufgefunden. Es sollte wie Selbstmord aussehen; seine Familie spricht jedoch von Mord. Nisman hatte den Anschlag auf das Gemeindezentrum Amia untersucht. Wenige Stunden vor einer geplanten Anhörung im Parlament, in der er der Präsidentin vorwerfen wollte, seine Ermittlungen zu behindern, wurde er mit einem Kopfschuss aufgefunden. Sein Vorwurf: Kirchner habe mit Teheran konspiriert, um die Attentäter zu schonen. Ein Gericht hatte die Staatschefin zwar von diesem Vorwurf freigesprochen. Doch jetzt, da Kirchner keine parlamentarische Immunität mehr genießt, könnte ein neues Verfahren drohen.

Trotz Korruptionsvorwürfen, Klientelismus und der Gängelei der Justiz bleibt Kirchner, die Sonnenkönigin vom Rio de la Plata, wie ihre ­Gegner spotten, ein Phänomen unter den lateinamerikanischen Staatschefs. Cristina Kirchner geht mit hohen Popularitätswerten aus dem Amt: Sie wird entweder geliebt oder gehasst, ein dazwischen gibt es nicht.

Aufarbeitung der Diktatur

Wie immer sitzen die betagten Damen mit ihren weißen Kopftüchern etwas abseits auf der belebten Plaza de Mayo. Links blicken sie auf den Präsidentenpalast Casa Rosada. Gleich gegenüber liegt der Friedhof für die Opfer des Falkland-Krieges. Die Plaza de Mayo im Herzen von Buenos Aires ist Schauplatz der Geschichte Argentiniens und ihrer Konflikte. Seit 38 Jahren ziehen die Mütter des Plaza de Mayo einmal wöchentlich stumm über den Platz, um auf das Schicksal ihrer „verschwundenen“ oder getöteten Kinder während der Militärdiktatur (1976 bis 1983) aufmerksam zu machen.

Die juristische Aufarbeitung der Diktaturverbrechen ist eines der ­großen Verdienste der Kirchner-Ära. Néstor Kirchner (2003 bis 2007) ließ die Amnestiegesetze für die Militärs aufheben und beendete damit das Schweigen über Folter und Mord. Dadurch kamen die Prozesse gegen Menschenrechtsverbrecher erst in Gang. Cristina Kirchner setzte den Weg fort und genießt deshalb auch international hohes Ansehen bei Menschenrechtsgruppen.

Wie viele soziale Bewegungen haben sich die „Madres“ im Wahlkampf für den peronistischen Kandidaten Scioli ausgesprochen. „Wir lehnen Macri im Präsidentenpalast ab, wir haben das Volk auf unserer Seite“, ruft die 87-jährige Anführerin Hebe de Bonafini kämpferisch ins Mikrofon. Beifall der Umstehenden brandet auf. Bonafini spricht von „Feinden“, die „unser Vaterland wie eine Fabrik regieren wollen“ – eine Anspielung auf eine neoliberale Kehrtwende, die sie von der neuen Regierung erwartet.

Einige konservative Bewegungen verlangen von Macri, die Strafverfolgung der Menschenrechtsverbrechen während der Diktatur auszusetzen. Im Moment scheint er dem Druck zu widerstehen. „Die Justiz hat absolute Unabhängigkeit, den bisherigen Weg fortzusetzen“, erklärt er. Doch die Sorge der Menschenrechtsgruppen ist nicht unbegründet.

Ein häufiger Vorwurf der konservativen Opposition lautete, Kirchner habe die Wähler mit Sozialprogrammen gekauft. Dabei verteilte die Regierung nicht nur Subventionen für Grundnahrungsmittel, Energie sowie Kindergeld- und Rentenerhöhungen. In den „Villas“, den ­Armenvierteln, entstanden durch staatliche Unterstützung zahlreiche Kooperativen und damit Arbeitsplätze. So wie im „Con­urbano“ mit immerhin rund vier Millionen Einwohnern, dem Gürtel aus meist tristen Vorstädten rund um die Hauptstadt. Hier leben die treuesten Anhänger der Kirchners. Néstor und Cristina haben uns unsere Würde zurückgegeben, sagen die Einwohner.

Den Rotstift ansetzen

Inzwischen gehen jedoch rund 28 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Sozialausgaben drauf. Macri wird den Rotstift ansetzen müssen. Das Wort Kürzungen nimmt er jedoch bewusst nicht in den Mund. Die knapp 60 Sozialprogramme will er zusammenführen und nennt sein Projekt „Pobreza Zero“ (Null Armut). „Die Frage ist, was er darunter versteht“, sagt Florencis Puente von der Basisbewegung „Frente Popular Darío Santillán“. „Unsere Befürchtung ist, dass das Programm als Deckmantel für Kürzungen benutzt wird.“ Allerdings ist trotz der Sozialausgaben im vergangenen Jahr die Armut auf knapp 27 Prozent der Bevölkerung angestiegen.

Die Zeiten des Rohstoffbooms sind vorbei, die Argentinien in den vergangenen Jahren einen Aufschwung bescherten. Die teuren Sozialprogramme werden aus Krediten und der Notenpresse finanziert. Das ließ die Inflation auf 25 Prozent klettern. Inzwischen steckt Argentinien in der Rezession fest. Macri verspricht, Argentinien aus den protektionistischen Fesseln zu befreien und Investoren ins Land zu holen. Seine Gegner sprechen schon jetzt von einer neoliberalen Kehrtwende und befürchten einen Ausverkauf.

Die Devisenreserven der Zentralbank sind so gut wie aufgebraucht. 2011 ließ Kirchner den Devisenhandel einschränken. Wie knapp US-Dollar sind, merkt jeder Tourist. Kaum jemand kommt an den „Arbolitos“ (Bäumchen), den illegalen Straßenhändlern in der Einkaufsstraße La Florida, vorbei. Der so genannte „Blue Dollar“ wird offen getauscht und liegt rund 50 Prozent über der offiziellen Rate.

Macri hat im Wahlkampf offen ein Ende des „Cepo“ (Parkkralle), also des doppelten Wechselkurses versprochen. „Der Cepo wird verschwinden, wenn Argentinien wieder wächst“, betont er und verspricht einen einheitlichen Wechselkurs unmittelbar nach seiner Amtseinführung. Allerdings wird eine weitere Abwertung des Peso dafür unvermeidlich sein.

Der Wunsch nach einem Wandel hat in Argentinien überwogen, auch bei enttäuschten Peronisten. Macris Erfolg wird aber ganz wesentlich von der Wirtschaftspolitik abhängen. Er muss breite Mehrheiten schmieden, um mit Reformen das Land wieder auf einen soliden Wirtschaftspfad zu bringen und die galoppierende Inflation einzudämmen. Wenn er das schafft, hätte er zugleich die tief gespaltene Gesellschaft geeint. Und er könnte Vorbild für weitere Länder in Lateinamerika sein.

Susann Kreutzmann ist Journalistin, lebt in São Paulo und berichtet über Südamerika u.a. für den österreichischen Standard und die Deutsche Welle.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2016, S. 98-103

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