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01. Nov. 2015

Neue Unberechenbarkeit

Putin verfolgt in Syrien eigene Ziele, Teil einer Lösung ist der Kreml nicht

Mit dem Eingreifen zugunsten Assads geht es Putin um zweierlei: Er will Washington zwingen, die Isolation Moskaus aufzugeben, und er will sich als Alternative zum westlichen Ordnungsmodell präsentieren. Allerdings mangelt es ihm an Unterstützung im eigenen Land und an Ideen für eine echte Lösung.

Wenn es einen Fixstern gibt, um den die russische Außenpolitik kreist, dann sind es die Vereinigten Staaten. Der Kreml will von US-Präsident Barack Obama als zentraler Mitspieler in der internationalen Politik anerkannt werden, mit dem man reden muss, auch und gerade wenn es um die Lösung globaler Konflikte geht.

Ende der Isolation

Russlands Syrien-Engagement hat vor diesem Hintergrund insbesondere zwei Ziele: Erstens möchte Moskau den USA und dem Rest der Welt vorführen, dass Russland „wieder da ist“. Washington soll die Isolation Russlands beenden, die in Reaktion auf die Ukraine-Krise begann, und Russland als Weltmacht anerkennen. Moskau fordert Washington damit nicht nur in der Ukraine heraus, wo die Interessen der Vereinigten Staaten begrenzt sind, sondern auch im Nahen und Mittleren Osten, der für die USA von entscheidender Bedeutung ist. Russlands Präsident Wladimir Putin nutzt die Tatsache, dass das Weiße Haus kein Konzept für Syrien hat, um Obama zum Gespräch mit ihm zu zwingen. Die unterschwellige Botschaft lautet: Während der amerikanische Präsident zögert, schafft Putin Fakten. Nun muss sich das US-Militär mit der russischen Führung koordinieren, wenn es weiter Luftangriffe in Syrien fliegen will.

Das zweite Ziel hängt mit dem russischen Verständnis von Außenpolitik und der Rolle von Staaten in den internationalen Beziehungen zusammen. Russland will die Lücke, die die USA hinterlassen haben, nicht nur militärisch, sondern auch ordnungspolitisch füllen. Wie das aussieht, hat Putin in zwei Reden deutlich gemacht, die er Mitte September vor der Organisation des Vertrags über kollektive -Sicherheit (OVKS), dem russisch geführten Militärbündnis postsowjetischer Staaten, und zwei Wochen später vor der UN-Vollversammlung in New York gehalten hat. Putin warb hier für einen anderen Ansatz in der Bekämpfung des internationalen Terrorismus. Aus russischer Perspektive hat die amerikanische Politik der Verbreitung von Demokratie mittels Regimewechseln nicht nur die Ukraine destabilisiert, sondern auch den Irak, Syrien und Nordafrika.

Ein klares Signal

Indem Putin Baschar al-Assad unterstützt, sendet er ein klares Signal, dass aus seiner Sicht nur „legitime“ (autokratische) Regime für Ordnung und Sicherheit in der Welt sorgen können. Alle Gruppen, die solche Regime und die Souveränität von Staaten untergraben, sind Terroristen, die bekämpft werden müssen – und damit auch alle syrischen Oppositionsgruppen, die gegen die „legitime“ Regierung in Damaskus kämpfen. Assad ist nicht nur Moskaus wichtigster Verbündeter in der Region; er steht auch für das Rational des Putinschen Regimes, das eine von außen (sprich: den USA) inspirierte gesellschaftliche Gegenbewegung für seine größte Gefahr hält. Putin signalisiert autoritären Regimen, gerade den postsowjetischen: Ich komme euch zu Hilfe, falls ihr unter Druck geratet. 

Assad zu stabilisieren, bedeutet auch, autoritäre Herrschaft jenseits des Nahen Ostens zu stärken – nicht zuletzt das russische Regime selbst – und einer Alternative zum amerikanischen Krisenmanagement sowie dem US-Verständnis internationaler Beziehungen den Weg zu bereiten. Dies schließt nahtlos an die allgemeine russische Außen- und Sicherheitspolitik an, die sich gegen „Farben-Revolutionen“ und Regimewechsel innerhalb und außerhalb des postsowjetischen Raumes wendet, auf staatliche Souveränität pocht und das Konzept der „Responsibility to Protect“ ablehnt – es sei denn, es geht um den Schutz von Russen außerhalb Russlands.

Zum ersten Mal in der postsowjetischen Geschichte kämpft Russland außerhalb des postsowjetischen Raumes einen riskanten Krieg. Das bedeutet erstens, dass die russische Führung bereit ist, hohe Risiken und Kosten zu tragen, um von Washington als wichtiger Mitspieler anerkannt zu werden und zugleich für den eigenen „Konfliktlösungsansatz“ zu werben. Selbst wenn der Einsatz von Landstreitkräften weiterhin unwahrscheinlich ist: Der Luftkrieg weitet sich aus, auch wenn eine Mehrheit der Russen gegen ein militärisches Eingreifen in Syrien ist. Was wiederum auch mit tief sitzenden Erinnerungen an den sowjetischen Krieg in Afghanistan zu tun hat. 

Laut einer Umfrage des Lewada-Zentrums sprechen sich nur 14 Prozent der Russen für eine direkte militärische Unterstützung Assads aus, während 69 Prozent dagegen sind. Nur 16 Prozent befürworten technische Militärhilfe. Das dürfte für den russischen Syrien-Einsatz zur Belastung werden, wenn die ersten Soldaten ihr Leben verlieren.

Zweitens ist es in der Tat beeindruckend, dass die russische Armee sich als fähig erwiesen hat, Luftschläge in Syrien durchzuführen und dafür eine komplette Nachschub- und Versorgungskette aufzubauen. Das bedeutet, dass allen gegenteiligen Annahmen zum Trotz die Militärreform Erfolge zeigt, die der Kreml 2008 nach dem Georgien-Krieg in Gang gesetzt hat. Die russischen Streitkräfte sind nicht nur in der Lage, einen hybriden Krieg auf der Krim und in der Ostukraine zu führen, sondern auch weit entfernt von Russland in einem sehr schwierigen Operationsgebiet nach nur kurzer Vorbereitungszeit aktiv zu werden. Auch wenn es militärisch wenig Sinn ergibt, demonstriert die russische Marine, dass sie aus dem Kaspischen Meer mit Langstreckenraketen 1500 Kilometer entfernte Ziele treffen kann. Das hat Konsequenzen für die NATO und insbesondere für das von den USA geförderte Raketenabwehrsystem für Europa.

Assad ist – drittens – ein wichtiger Verbündeter im Nahen und Mittleren Osten; die russische Militärbasis im syrischen Tartus zu erhalten, ist wichtig für das internationale Prestige. Dazu trägt auch die Fähigkeit des russischen Militärs bei, in einer anderen Weltregion mit Luftschlägen einzugreifen, was Putins Verhandlungsposition mit Blick auf andere Krisen wie die Ukraine stärkt. Russland präsentiert sich als Mitspieler, der von den USA nicht ignoriert werden kann.

Kühle Kosten-Nutzen-Rechnung

Zugleich wird Moskau Assad angesichts der geringen heimischen Unterstützung und der Risiken in der Region nicht auf Gedeih und Verderb die Treue halten. Der Kreml kalkuliert nach kühler Kosten-Nutzen-Rechnung: Wird der Preis für die Stützung Assads zu hoch, dürfte die russische Führung den Fall des Regimes hinnehmen.

Viertens hat die russische Führung immer größere Probleme mit Kämpfern aus dem Kaukasus und Zentralasien, die sich dem so genannten Islamischen Staat oder anderen Terrorgruppen im Mittleren Osten anschließen. Laut verschiedener Quellen beläuft sich die Zahl Militanter aus Russland, die in Syrien kämpfen, auf etwa 5000. Über 3000 davon sind nach Schätzungen Tschetschenen. Die Gefahr, die von Rückkehrern nach Russland oder in andere postsowjetische Staaten ausgeht, wächst. Um eine Rückkehr russischer Staatsbürger zu verhindern, die im Nahen Osten kämpfen, so argumentiert der russische Generalstab, müsse man eben möglichst viele dort töten.

Fünftens ist Russland nun nicht nur ein unberechenbarer Akteur im postsowjetischen Raum, sondern auch in anderen Regionen der Welt. Moskau ist nicht bereit, mit dem Westen auf adäquate Weise zu kommunizieren oder seine Schritte mit ihm abzustimmen, wenn das nicht mit den eigenen außenpolitischen Zielen übereinstimmt. Wenn die USA und ihre Verbündeten nicht willens oder in der Lage sind, die Verantwortung für die Konfliktlösung zu übernehmen, scheint Russland immer stärker bereit, diese Lücke zu füllen. Die Koordinierung des russischen Handelns mit dem Irak, Syrien und dem Iran dürfte zu einer alternativen Koalitionsbildung in der Region führen, obwohl dies zunächst mehr Instabilität und mehr Opfer bedeutet. Russland nimmt damit den direkten Wettbewerb mit den USA auf und verändert die Konstellation im Nahen Osten. Es könnte zu einer Alternative für autoritäre Regime in der Region werden, wie sich das im Fall Ägyptens bereits zeigt.

Russische Propaganda und hy-bride Methoden spielen – sechstens – auch in Syrien eine Rolle und sind wichtiger Teil der Kreml-Strategie. Von Anbeginn der Militärintervention setzte die russische Führung darauf, ihr Handeln nur begrenzt transparent zu machen. Präsident Putin nutzte seine Rede vor der UN-Generalversammlung, um die Bildung einer Anti-IS-Koalition anzubieten und verfolgte danach lediglich sein Ziel, Assad zu stabilisieren. 

All das zeigt einmal mehr, dass die russische Führung Angebote taktisch einsetzt, um ihre Verhandlungsposition zu verbessern; an einer Zusammenarbeit mit dem Westen aber hat sie kein ernsthaftes Interesse. Es ist daher eine Illusion zu glauben, Russland sei Teil einer Lösung für Syrien. Diejenigen, die das behaupten, bezeugen damit lediglich die Ideenlosigkeit des Westens im Umgang mit der Instabilität im Nahen und Mittleren Osten.

Fehlende strategische Perspektive

Das größte Problem der westlichen Politik ist, dass sie sich auf Krisenmanagement und kurzfristige Lösungen konzentriert, ihr aber jegliche strategische Perspektive fehlt. Zugegeben:Deutschlands internationales Krisenmanagement steht unter enormer Belastung. Doch wenn man glaubt, Zugeständnisse an Moskau im Ukraine-Konflikt könnten eine Lösung der Probleme bringen, dann ist das ein Irrtum. Putins Eingreifen in Syrien schafft eher neue Probleme in der Region, wird womöglich die Zahl der Flüchtlinge noch weiter erhöhen, weil damit noch ein Akteur in den Krieg eingegriffen hat, der wenig Rücksicht auf Zivilisten nimmt.

Putin kann sich konstruktiv verhalten wie beim Abkommen über das iranische Nuklearprogramm, doch weit öfter verhält er sich destruktiv. Gleichzeitig hat Russland oft genug gezeigt, wie Konfliktlösung nicht funktioniert – siehe Nordkaukasus.

Die Antwort des Westens auf Putins Eingreifen in Syrien sollte mehr Kommunikation mit Russland lauten – und mehr Engagement im Mittleren Osten, ohne vorab Kompromisse einzugehen. Die „Ukrainisierung“ aller Beziehungen zu Russland war ein Fehler; der Westen muss wieder reguläre Kommunikationskanäle mit Moskau aufbauen, was gerade dann wichtig ist, wenn es gilt, brenzlige Situationen zu entschärfen.

Syrien zu stabilisieren, muss nicht bedeuten, den russischen Ansatz, der Assad als Teil der Lösung mit einschließt, zu akzeptieren. Washington und seine Verbündeten müssen aus dem Beispiel lernen, dass sie Länder wie den Irak, Afghanistan oder Li-byen nach einem Regimewechsel nicht sich selbst überlassen können. Denn die russische Führung ist bereit, ein solches Vakuum mit der Propagierung eigener Konfliktlösungskonzepte zu füllen, ohne ein ernsthafter Partner dafür zu sein; auch Moskau mangelt es an Ideen ebenso wie Ressourcen. Der russische Präsident verfolgt seine eigene Agenda, immer stärker in Konfliktstellung mit dem Westen.

Dr. Stefan Meister ist Programmleiter Osteuropa, Russland und Zentralasien im Robert Bosch-Zentrum für Mittel- und Osteuropa, Russland und Zentralasien der DGAP.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2015, S. 66-69

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