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01. Juni 2008

Neue Panik in der Mitte

Es wird immer schwerer – und teurer – in Deutschland, ein traditionelles Mittelschichtleben zu führen. Der Groll darüber

Die Mitte schrumpft. Das war eine der alarmierenden Schlagzeilen im Frühjahr 2008. Alarmierend auch für die Politik. Denn Mitte muss ihr wichtig sein. Mitte bedeutet schließlich Zentrum; und eine Gesellschaft regiert man nicht von den Rändern. Überdies: Mitte verkörpert das Maß aller erstrebenswerten Dinge: Harmonie, Ausgleich, Vernunft.

Und das Gros der Bürger drängt eben deshalb dorthin. Die Mittelständigkeit wird zielstrebig und hartnäckig erarbeitet. Das häusliche familiäre Glück ist in dieser Lebenswelt Fluchtpunkt aller individuellen Anstrengungen. Das eigene, verlässlich Ton in Ton eingerichtete Heim ist wichtig, auch das Mittelklasseauto, die regelmäßige Urlaubsreise und das schulisch-beruflich-familiäre Fortkommen der Kinder. Um Haus, Wohnung und Familie ranken sich überhaupt die Aktivitäten der Menschen in der bürgerlichen Mitte.

Die hochanpassungsbereiten Mitte-Bürger haben in den letzten Jahren mitvollzogen, was die meinungsführenden Eliten ihnen gepredigt haben: Sie haben fremde Sprachen gelernt, haben sich technologische Neuerungen angeeignet, Fortbildungskurse besucht, die Arbeitszeit nach Bedarf gestreckt. Doch hat die bürgerliche Mitte das Gefühl, dass alle ihr abverlangten Adaptionsleistungen wenig honoriert wurden. Sie sieht sich vielfach als den eigentlichen Verlierer der „Sozialreformen“, bei den Korrekturen von Pendlerpauschalen, Eigenheimzulagen, sogar in der Gefahr des raschen Absturzes in das Arbeitslosengeld II, das sie, die notorisch Fleißigen, mit Stadtstreichern etc. zusammenwürfelt.

Die Aversion gegen das, was hierzulande als „Sozialreform“ bezeichnet wird, ist in kaum einer anderen Gruppe so ausgeprägt wie bei den Wechselwählern der Mitte im Bereich zwischen CDU/CSU und SPD. Die Mitte möchte Ruhe an der Front, will nicht mehr von „Change Agents“ in atemloser Permanenz „geclustert“ oder „optimiert“ werden. Die Mitte hat die Nase voll von dröhnenden Ruck-Reden. Die Mitte reagiert misstrauisch, wenn ihr Teleprofessoren der Betriebswirtschaft mit Begriffen wie „Agenda“ oder „Synergien“ kommen. Die Mitte des Jahres 2008 möchte Kalkulierbarkeit, nicht Visionen.

Jetzt zahlt sie in mehreren Bundesländern für ihre Kinder Studiengebühren, obwohl unsicherer denn je ist, ob ihr Nachwuchs trotz einer akademischen Ausbildung den hart erkämpften familiären Status wird halten, gar ausbauen können. In keinem anderen Milieu indes ist der Aufstiegsimperativ identitätsstiftender als in der Mitte; gerade dort aber zweifelt man zunehmend an den Möglichkeiten des weiteren Emporkommens der zum Abitur und Studium getrimmten Sprösslinge. Die soziale Mitte in Deutschland ist in steter Sorge, dass sie für ihre Kinder lebensentscheidende Gelegenheiten verpassen, die Weichen für künftige Karrieren nicht rechtzeitig stellen könnte. In den Haushalten der Mitte findet man Beziehungsratgeber aller Art, Bücher zur frühkindlichen Förderung, Publikationen über Lese- und Lernstoff für den reibungslosen Übergang von der Grundschule zum Gymnasium, Tipps für ein Auslandsjahr von Schülern nach Abschluss der Mittelstufe. Die Mitte will partout nichts falsch machen, will um nichts in der Welt eine Chance zur besseren Ausbildung und Qualifikation ihrer Kinder versäumen.

Die Familien der gesellschaftlichen Mitte gehen dabei bis an die Grenze ihrer Belastungsfähigkeit. Das Förderungs- und Belohnungssystem für die Zukunftsinvestitionen in den eigenen Nachwuchs zehrt an den materiellen und psychischen Ressourcen. Klavier- und Ballettunterricht kosten, die Nachhilfe ebenfalls, die Reitstunde und der Sprachaufenthalt in England erst recht. Das alles erfordert berufliche Anspannung beider Elternteile und mindert so bei ihnen die Zeit für Aufsicht und Erziehung gegenüber den Kindern, was dann durch außerfamiliäre Betreuungspersonen und -einrichtungen kompensiert werden muss. Auch das ist mit hohen Kosten verbunden; und es verschafft den Eltern der sozialen Mitte zugleich ein chronisch schlechtes Gewissen, den Lernprozess ihrer Kinder nicht ausreichend individuell begleitet zu haben.

Dabei hat die Mitte den Eindruck, dass ihr Einsatz weitaus zu wenig gewürdigt wird, dass allein die Leitvorstellungen der Bürger mit Abitur und Studium als Maßstab einer modernen Lebensweise gelten. Der Groll darüber erfolgt nicht laut und elaboriert, aber er existiert ganz unverkennbar. In der Mitte ist der Traum von der Karriere regelmäßig präsent. Doch sind die Aufstiegskanäle durch den Vorsprung der gleichaltrigen Abiturienten/Universitätsabsolventen in den Zeiten der Wissensgesellschaft weitgehend verstopft. Der Rutsch nach unten ist realistischer als der Sprung nach oben. Mitte-Menschen haben das in den letzten Jahren hochsensibel wahrgenommen, sie fürchten um den Erhalt dessen, was im Mittelpunkt ihres Lebensplans steht: eben Ansehen in Beruf und Freundeskreis, eine stabile Familie, ein sicheres Einkommen, ein eigenes Haus, schließlich Kinder, die es einmal noch ein Stückchen besser als man selbst haben sollen.

Nichts fürchtet die Mitte mehr als den Abstieg. Dabei hat fast jeder dort während der letzten Jahre in seinem Nahbereich den sozialen Absturz eines Zugehörigen der eigenen Schicht beobachtet. 1930 schrieb der Soziologe Theodor Geiger von der „Panik im Mittelstand“. Ein wenig von dieser Panik ist unschwer auch gegenwärtig zu erkennen.

Prof. Dr. FRANZ WALTER, geb. 1956, lehrt Parteienforschung an der Universität Göttingen. Zuletzt erschien von ihm „Die ziellose Republik. Gezeitenwechsel in Gesellschaft und Politik“ (2006).

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, Juni 2008, S. 92 - 93

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