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01. Sep 2003

Neue Erfahrungen, neue Maßstäbe

Gestalt und Gestaltungskraft deutscher Außenpolitik

Die Gestalt der deutschen Außenpolitik hat sich, so der Marburger Politikwissenschaftler Wilfried von Bredow, „definitiv verändert“. Die Anforderungen an ihre Gestaltungskraft sind gewachsen und werden weiter zunehmen. Nun gilt es, die deutsche Außenpolitik, so wie es Waldemar Besson für die sechziger bis achtziger Jahre getan hat, konzeptionell neu zu verankern.

Die Gestalt der deutschen Außenpolitik hat sich definitiv verändert. Die Anforderungen an ihre Gestaltungskraft sind gewachsen. Sie werden weiter zunehmen. Die neuen Erfahrungen in der internationalen Politik kristallisieren sich in einem langsamen, aber stetig vorangehenden Prozess zu neuen Maßstäben.

Es ist nun nicht so, dass diese Veränderungen von den professionellen Politikbeobachtern ganz übersehen würden. Man kann einige Publikationen aufzählen, in denen, teils normativ, teils empirisch über die neuen Formbedingungen deutscher Außenpolitik reflektiert wird.1 Zuweilen bleibt es dann aber bei Monita wie dem, die Bundesregierung übe sich noch immer im außenpolitischen Trittbrettfahren, gäbe sich bei der Durchsetzung ihrer Interessen allerdings erheblich rüder als früher.2

Eine eigentlich überfällige diskursive Horizonterweiterung ist bislang ausgeblieben. Aus zwei Gründen hinkt der durchaus spannende Diskurs über die deutsche Außenpolitik ein Stück weit hinter ihrer Praxis her. Erstens haben wir uns aus verständlichen, aber eben nicht mehr tragfähigen Gründen an die Kontinuitätsterminologie gewöhnt, und zweitens fielen die 1990 hochschießenden, häufig sehr optimistischen Erwartungen einer sofortigen und grundlegenden Neufassung nicht nur von internationaler Politik, sondern von Politik schlechthin, bald in sich zusammen. Dadurch wurde dann die Aufmerksamkeit von den tatsächlich stattfindenden Veränderungen abgelenkt. Deren Durchschlagskraft war und ist beträchtlich. Es hat sich nicht alles von heute auf morgen verändert. Aber wenn, wie in der Vorgeschichte des Irak-Krieges im Herbst und Winter 2002/2003, ein Schlüsselereignis internationaler Politik den Kontinuitätsschleier wegweht, wird plötzlich erkennbar, wie viel sich bereits verändert hat.

Es sind die dramatischen Entwicklungen im internationalen System und im Verhältnis Staat/Gesellschaft, die diese Veränderung seit längerem von zwei Seiten her forciert haben. Die Disziplin der Internationalen Beziehungen beschäftigt sich seit längerem damit.3 In einem „dynamischen Prozess wechselseitiger Anpassung und Einwirkung, der sich sowohl auf der internationalen wie auf der innenpolitischen Bühne vollzieht“,4 haben sich die Konturen der neuen Gestalt der deutschen Außenpolitik herausgebildet. All dies ist sozusagen unverblümt sichtbar, wird aber meist nur partiell wahrgenommen.

Die Bipolarität des internationalen Systems war bereits in den achtziger Jahren zunehmend mürbe geworden. Jedoch hielt die Nuklearkonfrontation der „Supermächte“ sie aufrecht. Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts zerbrach sie endgültig; Weltpolitik wurde schlagartig unübersichtlicher. Eine neue Weltordnung, die von den entscheidenden Akteuren, worunter nicht nur Staaten zu zählen sind, gemeinsam durchgesetzt und weiterentwickelt wird, stellte sich nicht ein. Die Rede von der verantwortungsvoll handelnden „internationalen Staatengemeinschaft“ setzt etwas voraus, was es allenfalls in schwachen Ansätzen gibt. Stattdessen gefährden Konfliktzuspitzungen, Kriege und neu formatierte Bedrohungen den Weltfrieden und die internationale Sicherheit. Außen- und Sicherheitspolitik rückten deshalb enger zusammen; neue Akzente und neue Konzepte waren erforderlich, um den neuen Herausforderungen im internationalen System zu begegnen.

Gleichermaßen drängen Entwicklungen in und zwischen den Gesellschaften seit längerem darauf, Ziele und Methoden außenpolitischen Handelns zu modifizieren. Es handelt sich dabei um sehr heterogene Vorgänge und Faktoren. Als Stichworte seien nur aufgeführt: die Globalisierung mit ihrer selektiven und asymmetrischen Horizonterweiterung für kulturelle Wahrnehmung und politisches Handeln; die Renaissance eines Werte und Normen betonenden Außenpolitikdiskurses; die Ausweitung der Aktivitäten von transnational agierenden Nichtregierungsorganisationen und nicht zuletzt schließlich die Europäisierung einer wachsenden Zahl von Politikbereichen.

Beides zusammen hat bewirkt, dass sich die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik schon bald nach der Vereinigung und nach den ersten problematischen Erfahrungen mit der neuen internationalen Unübersichtlichkeit im Jahr 1991 (Nichtteilnahme am zweiten Golf-Krieg im Frühjahr; vorgezogene Anerkennung der Unabhängigkeit Sloweniens und Kroatiens im Dezember) auf die neuen Bedingungen internationaler Beziehungen einzustellen begann. Dem lag kein „großer Plan“ zugrunde; vielmehr bot sich als pragmatisches Vorgehen die Methode des „trial and error“ an. Obwohl es auch eine Menge „error“ gegeben hat, sind die Bundesregierungen unter Kanzler Helmut Kohl ein beachtliches Stück vorangekommen. Die seit 1998 amtierende Bundesregierung unter Kanzler Gerhard Schröder hat das Tempo zielgerichtet noch weiter gesteigert.

Rückblick

Freilich, die Außenpolitik eines Staates muss permanent neuen Handlungsbedingungen angepasst werden. Aber nur selten treten solche Verschiebungen derart massiv auf wie am Ende des Ost-West-Konflikts. In der Geschichte der Bundesrepublik hat es das bis dahin nur einmal gegeben, nämlich 1969/70 mit der Durchsetzung der neuen Ost- und Deutschland-Politik der sozial-liberalen Koalitionsregierung. Ganz so tief wie 1990 war die Zäsur damals aber nicht – in der Mitte Europas begann die Ost-West-Entspannung, und in der westdeutschen Gesellschaft setzte ein folgenreicher Wertewandel ein. Von den Zeitgenossen wurde das damals als grundstürzend empfunden.

Zu den „großen Büchern“, den einfühlsam-abwägenden Analysen der damaligen Veränderungen, die den „wind of change“ prüften (und auch die Angst davor verringerten), gehört die systematische Bestandsaufnahme der westdeutschen Außenpolitik, ihrer Ziele und Optionen, Möglichkeiten und Gefährdungen, die Waldemar Besson 1970 publiziert hat. Sie galt in den beiden folgenden Jahrzehnten als maßgebendes Standardwerk. Besson arbeitete die existenzielle Abhängigkeit der Bundesrepublik Deutschland vom Zustand des Ost-West-Konflikts heraus und besaß damit ein Messinstrument, um die außenpolitischen Prioritäten Bonns sinnvoll gewichten zu können.

Der Politikprofessor charakterisierte die Bundesrepublik als eine Mittelmacht mit klarer weltpolitischer Position: „Sie ist der westdeutsche Teil der amerikanischen Einflusssphäre; sie ist ein Glied der westeuropäischen Region; auf ihrem Boden müssen die Pfeiler ruhen, die der Brückenschlag nach Osteuropa braucht; diese werden erst dann völlig sicher gegründet sein, wenn auch auf deutschem Boden die scharfe Ost-West-Konfrontation nachlässt und das Bewusstsein nationaler Zusammengehörigkeit der Deutschen auch in praktische Politik umgesetzt werden kann.“5 Gegen drei Versuchungen müsse sich diese Mittelmacht im Herzen Europas wappnen: Erstens gegen eine Art politischen Quietismus, ein künstliches Sich-Klein-Machen, denn kein Land könne auf Dauer seiner geopolitischen Lage entgehen und sein wirtschaftliches Potenzial politisch neutralisieren. Zweitens gegen einen vergangenheitsbefangenen Revisionismus, der verkenne, was 1945 an Unwiderruflichem geschah. Und drittens gegen die Sirenenklänge einer europäischen Supermacht mit antiamerikanischer Ausrichtung in ihren weltpolitischen Bestrebungen.

Die außenpolitische Zäsur um 1970 hatte eine längere Vorgeschichte. Die sozial-liberale Ost- und Deutschland-Politik war eine Antwort auf den Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961 und auf seine Auswirkungen auf das Ost-West-Verhältnis in Europa und auf die nationale Frage. Darüber gab es im politischen Establishment der Bundesrepublik und in der Öffentlichkeit jahrelange heftige Auseinandersetzungen. In demokratischen Gesellschaften braucht es seine Zeit, bis sich eine andere Wahrnehmungsweise der politischen Gegebenheiten und eine ihnen angemessene Neukonzeption der Politik durchsetzen. Das sollte man nicht als Schwäche ansehen. Die Arbeiten von Besson, Richard Löwenthal6 oder die in drei Bänden zusammengefassten Studien zu den „Außenpolitischen Perspektiven des westdeutschen Staates“ von einer Arbeitsgruppe der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik unter Leitung von Ulrich Scheuner und Löwenthal7 kann man noch heute mit großem Gewinn lesen, weil sie die Grundkonstellation der westdeutschen Außenpolitik am Beginn der Entspannung treffsicher beschrieben und analysiert haben. Diese Grundkonstellation änderte sich zwar in den beiden folgenden Jahrzehnten; aber ihre entscheidenden Parameter blieben gültig – bis 1990.

Kontinuität

Der „Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland“ von 1990, auch Zwei-Plus-Vier-Vertrag genannt, schreibt in seinem Artikel 7 fest, dass die Alliierten ihre Rechte und Verantwortlichkeiten in Bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes beenden. Im Absatz 2 dieses Artikels heißt es dann lakonisch: „Das vereinte Deutschland hat demgemäß volle Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegenheiten.“8 Nun ist der Inhalt des Begriffs der Souveränität in Politikwissenschaft und Völkerrecht nicht ganz unumstritten, was nicht zuletzt strukturelle Langzeitentwicklungen der inter- und transnationalen Beziehungen bewirkt haben. Man darf ihn keinesfalls mit Autonomie oder uneingeschränkter Handlungsfreiheit gleichsetzen, dafür ist die gegenseitige Abhängigkeit von Staaten und Volkswirtschaften – und sei sie auch noch so asymmetrisch – schon lange viel zu weit fortgeschritten.

Für Deutschland bedeutete die Zuerkennung seiner vollen Souveränität aber eines ganz bestimmt: nämlich die Notwendigkeit, seine außenpolitischen Grundmaximen zu überprüfen und ganz in eigener Verantwortung zu bestätigen oder neu zu fassen. Dass dies nicht sofort passierte, hat strukturelle und zeitgeschichtliche Ursachen. Was erstere betrifft, so können akademische Beobachter der Politik in demokratischen Gesellschaften zuweilen ihre Ungeduld mit den Praktikern nicht verhehlen. Sie haben damit Recht und Unrecht zugleich. Denn in der Tat scheint die zeitliche Lücke zwischen politischen Veränderungen und einer angemessenen Wahrnehmung oft über Gebühr groß.

Es gab allerdings schwerwiegende Gründe dafür, in der Umbruchphase nach 1990 die Kontinuität deutscher, d. h. westdeutscher Außenpolitik zu betonen. Die Vereinigung Deutschlands weckte nämlich auch Befürchtungen. Kamen sie aus den Nachbarländern, war das bis zu einem gewissen Grade nachvollziehbar. Sie kamen aber auch aus der Feder manch eines westdeutschen Politikintellektuellen, was schon ein wenig irritiert. Kurz, das Gespenst eines entfesselten, erneut regionale Hegemonie anstrebenden Deutschlands machte die Runde. Da schien es klug, wenn die Bundesregierung nicht nur ein ums andere Mal wiederholte, es bestehe nicht die geringste Absicht, am bisherigen außenpolitischen Kurs etwas zu verändern. Es schien nicht nur klug, es war es auch – bis zu einem gewissen Grad. Denn selbstverständlich blieben die soliden Grundentscheidungen der westdeutschen Nachkriegsaußenpolitik unangetastet: transatlantische und europäische Westintegration, Ausgleich mit den östlichen Nachbarn, Sonderverhältnis zu Israel, Multilateralismus.

Aber wegen der veränderten Rahmenbedingungen und angesichts neuer Erwartungen aus dem internationalen System an Deutschland mussten diese Grundentscheidungen neu justiert werden, und zwar alle. Die Bundesregierungen nach 1990 waren sich über diese Aufgabe auch im Klaren. Weil aber Kontinuität ein so mächtiges und wichtiges Zauberwort war, konnte der Prozess der Neujustierung nur in ganz kleinen Schritten angegangen werden. In Deutschland gehört reformerischer Wagemut überall zu den knappen Ressourcen, in der Außen- und Sicherheitspolitik ist das nicht anders. So kann man sich leicht vorstellen, wie manche dieser kleinen Schritte auch verzögert oder sogar wieder zurückgenommen wurden.

Wenn dann – im Bereich der Sicherheitspolitik kann man das am deutlichsten studieren – viele kleine Anpassungen in einer Art qualitativem Sprung ein weitgehend neues Bild ergeben, bleibt die öffentliche Verwunderung nicht aus.

Entwicklungsschübe

Manchmal werden mittel- und langfristige politische Abläufe in Schlüsselereignissen verdichtet, die dadurch eine enorme symbolische Bedeutung gewinnen. Für die amerikanische Politik hat der 11. September 2001 eine solche Bedeutung gewonnen, weil mit den Anschlägen von New York und Washington der Mythos der eigenen territorialen Unverwundbarkeit zerschmettert wurde. Dass es sich um einen Mythos handelt, „wusste“ man auch vorher bereits, aber es bedurfte dieses tragischen Schocks, um alle Implikationen dieses Sachverhalts wahrnehmen zu können. Auch für die Regierungen und Öffentlichkeiten der westlichen und anderer Gesellschaften wurde der 11. September zu einem wichtigen Datum mit erheblichen Konsequenzen für ihre Politik. Aber nur in den Vereinigten Staaten hat er die öffentliche Wahrnehmung weltpolitischer Spannungen so tief verändert.

Auf ein Schlüsselereignis von solcher Wucht stoßen wir nicht, wenn wir die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik der letzten Jahre betrachten. Indes gibt es mindestens zwei Ereigniskomplexe, die, wenn sie auch für einen Vergleich mit dem 11. September 2001 nicht in Frage kommen, für einen plötzlichen Schub in der politischen Selbst- und der Weltwahrnehmung Deutschlands gesorgt haben – übrigens nicht nur Deutschlands, sondern der meisten Mitgliedsländer der Europäischen Union. Beide Schübe haben allerdings nicht in die gleiche Richtung gewirkt.

1. Der Kosovo-Konflikt mit Serbien, die dabei einmal mehr demonstrierte Unfähigkeit der europäischen Länder, ihre humanitären Konzepte zur Verhinderung weiterer interethnischer Morde und Massaker mit dem nötigen diplomatischen und militärischen Druck durchzusetzen, und die militärische Intervention der NATO 1999 haben den Ausschlag dafür gegeben, den Aufbau der zwar schon lange auf dem Papier eingeführten, aber bis dahin noch weitgehend Absicht gebliebenen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik voranzutreiben. An den Beschlüssen des Europäischen Rates in Köln (Juni 1999) und Helsinki (Dezember 1999) war die Bundesregierung führend beteiligt. In der Berichterstattung über diese und folgende europäische Konferenzen stand im Vordergrund die Aufstellung einer Europäischen Schnellen Eingreiftruppe. Aufschlussreich ist dabei auch, dass die Vorstellung eines eigenständigen europäischen Krisenmanagements nicht nur militärische Schlüsselfähigkeiten umfasst, sondern auch eine ganze Reihe ziviler Maßnahmen. Diese sind nicht nur konzipiert als Ornamentierung der Europäischen Eingreiftruppe, sondern bilden mit dieser zusammen ein zivil-militärisches Deeskalationsinstrumentarium zur Erfüllung der schon 1992 reklamierten Petersberg-Aufgaben.

2. Die Vorgeschichte des Irak-Krieges 2003 und die Entscheidungsfindung darüber, welche Rolle die Vereinten Nationen und damit andere als die beiden zum Krieg entschlossenen Staaten USA und Großbritannien spielen sollten, entwickelte sich in der zweiten Jahreshälfte 2002 zu einer innerwestlichen Krise. In ihrem Verlauf wurden Frankreich und Deutschland aus verschiedenen, wenn auch parallel geschalteten Gründen zu diplomatischen Kontrahenten der „Kriegspartei“ in der NATO. Die Entscheidung der gerade im Wahlkampf befindlichen Bundesregierung Schröder, sich nicht an einem Angriff auf Irak zu beteiligen, dies auch mit kräftigen Worten kundzutun und sich darüber hinaus einer Legitimierung des amerikanisch-britischen Vorgehens in den Vereinten Nationen aktiv in den Weg zu stellen, ist nicht nur in den Vereinigten Staaten auf erst ungläubige, dann auch erbitterte Kritik gestoßen. Sie hat auch hier zu Lande viele außenpolitische Experten überrascht und sie dann, je nach Standort, zu einem preisenden (selten) oder zu einem abweisenden (häufiger) Urteil veranlasst.9

Darüber lässt sich in der Tat trefflich streiten.10 Hier kommt es aber auf etwas anderes an: Die transatlantischen Querelen um den Irak-Krieg haben schlagartig deutlich gemacht, dass es zwischen den Vereinigten Staaten und wichtigen europäischen Akteuren, aber auch zwischen den europäischen Akteuren gewichtige Unterschiede in der weltpolitischen Lagebeurteilung und bei der Präferenz bestimmter Methoden außenpolitischen Handelns gibt. Die innereuropäischen Differenzen einmal beiseite lassend, kann man feststellen, dass es solche transatlantischen Schwierigkeiten schon längere Zeit gibt, dass es aber der Dramatik des Irak-Krieges bedurfte, um sie offen zu legen.11

Europäische Handlungsfähigkeit

Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts und ursächlich mit ihm verbunden hat die Einigung Europas einen neuen Schub erhalten. Wirtschafts- und Währungsunion, Europäisierung einer wachsenden Zahl von Politikbereichen, Ansätze zu einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) sowie der Konventsentwurf einer Europäischen Verfassung, dies alles und dazu die Aufnahme neuer Mitglieder in die EU addiert sich zu einem singulären Fall zwischenstaatlicher und supranationaler Integration. Von welcher Seite her man immer die nationalen Interessen Deutschlands auch betrachtet, sie sind in einer handlungsfähigen Europäischen Union am besten zu verwirklichen.

Dabei wird vorausgesetzt, dass die Bundesregierung die Chance nicht ungenutzt verstreichen lässt, die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union mitzuprägen. Dass sie genau das tut, diesen Vorwurf hört man schon einmal, etwa wenn die Personalpolitik für europäische Gremien und Verwaltungsbehörden in Rede steht. Aber wenn es auch auf einzelnen Feldern Verbesserungen geben könnte, so ist doch die allgemeine Bilanz der europäischen „performance“ deutscher Politik eher positiv, vom Zuschnitt der Europäischen Zentralbank angefangen bis zur Kontur des europäischen Verfassungsentwurfs. Seit 1998 hat die Bundesregierung sukzessive die Meinungsführerschaft im so genannten Finalitätsdiskurs übernommen. Wer die Konzepte und Kontexte wichtiger politischer Debatte vorzugeben versteht, hat deswegen zwar noch keine Entscheidungen vorweggenommen, aber er hat eine hervorragende Ausgangsposition für diese Debatte.

Die Herausbildung Europas als eines international handlungsfähigen Akteurs liegt auch im Interesse der anderen europäischen Staaten, wobei die Begründungen dafür von Fall zu Fall variieren. Aber grundsätzlich trifft dieses Urteil für die größeren und die kleineren europäischen Staaten gleichermaßen zu.

Ein Sonderproblem der Europäisierung – gewöhnlich wird seine Etikettierung als Problem vermieden – bildet das deutsch-französische Verhältnis. Es ist richtig, dass die deutsch-französische Freundschaft12 ein entscheidendes Antriebsmoment der Integration Europas war und ist. Das Problematische daran ist, dass diese dynamische Tandemfigur nicht so sehr auf Gemeinsamkeiten, vielmehr in wichtigen Fragen auf Unterschieden zwischen beiden Ländern beruht.13

Bisher konnten diese Unterschiede (in den europapolitischen Prioritäten, in dem Verhältnis zu den Vereinigten Staaten, in der Beurteilung von Krieg als Mittel der Politik usw.) häufig so ausgeglichen werden, dass dadurch ein integrationspolitischer Impuls entstand. Dieses Ergebnis grenzte zuweilen an ein kleines Wunder.14 So etwas ist aber nicht zwingend. Immer dann, wenn die Akteure in Paris und Bonn oder Berlin sich über das Ausmaß ihrer Differenzen täuschten und ihre Politik auf mehr Gemeinsamkeit aufbauen wollten, als tatsächlich vorhanden war, ist es zu Rückschlägen gekommen. In letzter Zeit hat es hier wechselseitige Anpassungen gegeben, z.B. in der Sicherheitspolitik. Diese voranzutreiben und sich zugleich von anderen europäischen Akteuren, in erster Linie von Großbritannien, nicht zu entfernen, ist eine vordringliche Aufgabe deutscher Außenpolitik in der nächsten Zukunft.

Das Verhältnis zu den USA

Die zweite vordringliche Aufgabe ist die Neukalibrierung der Beziehungen zu den Vereinigten Staaten. Sie muss auf zwei Ebenen angegangen werden, einmal bilateral, wo es um das Klima und die Pflege der deutsch-amerikanischen Beziehungen geht, dann aber auch auf der europäischen Ebene, wo es darum geht, als handlungsfähiger Akteur Europäische Union eine Reihe von Kooperationsfeldern mit den Vereinigten Staaten gewissermaßen umzugraben und neu zu bestellen. Dabei gilt als Leitsatz, was Beatrice Heuser knapp und treffend so formuliert hat: „North America and the European Union must be the two poles of a magnet which radiates its shared values throughout the world, until through persuasion and example, and where appropriate through leadership, these values become the underpinning of international order.“15 Diesem Leitsatz kommt nach den Turbulenzen im euro-amerikanischen Verhältnis, die im Gefolge unterschiedlicher Beurteilungen der Lage im Nahen Osten und insbesondere in Irak sowie einiger anderer politischer Divergenzen (Kyoto-Protokoll, Internationaler Strafgerichtshof usw.) entstanden sind, womöglich eine noch höhere Geltung zu.

Allerdings ist solch eine Maxime leichter gesagt als umgesetzt, zumal das binnengesellschaftliche Unterfutter der amerikanischen Außenpolitik schon seit längerem immer weniger europäisch eingefärbt ist. Dies hat nichts mit dem weltpolitischen und wirtschaftlichen Gewicht Europas zu tun, und es wird sich nicht rückgängig machen lassen. Es hat auch, leider nicht unnütz das zu betonen, nur wenig mit spezifischen Präferenzen der gegenwärtigen amerikanischen Regierung oder gar mit der persönlichen „Chemie“ zwischen Präsident George W. Bush und Bundeskanzler Schröder zu tun.

Und schließlich sollte man vielleicht doch ein wenig vorsichtiger mit schartigen Begriffen wie „amerikanisches Hegemoniestreben“ und „europäisches Gegenmachtstreben“ umgehen, weil sie schon jetzt eine Menge intellektueller Kollateralschäden bewirkt haben. Stattdessen ist auf vorsichtige und behutsame Weise ein neuer Leitfaden für das euro-amerikanische Verhältnis zu erarbeiten. Bei dessen Formulierung muss die Bundesregierung, hier deutlich in Konkurrenz zu Frankreich und in Abgrenzung von Großbritannien, eine Führungsrolle übernehmen.

In der Angelegenheit des Irak-Krieges ist die Bundesregierung allerdings von ihrem bis dahin eher vorsichtigen und behutsamen Vorgehen abgewichen und hat prompt übersteuert. Zwar konnte und kann sie bei ihrem „Ohne uns“-Kurs mit öffentlicher Zustimmung rechnen. Über die Motivlage dieser Zustimmung sollte sie sich aber keine Illusionen machen. Auf jeden Fall wird sie eine ganze Strecke weit zurückrudern müssen. Denn auf absehbare Zeit wird noch eine einvernehmliche transatlantische Sicherheitspolitik gebraucht, nicht nur die Fassade davon. Die Diplomatie des Scherben-Aufräumens wird, was das Verhältnis zu den Vereinigten Staaten angeht, einige Energien verschlingen. Die dortigen Irritationen über den seinerzeit vom Vater des jetzigen Präsidenten umworbenen „europäischen Führungspartner“ Deutschland sind beträchtlich.

Auf der anderen Seite kann die Bundesregierung für sich ins Feld führen, dass ihre Lagebeurteilung realistischer war als die der Amerikaner: Der amerikanische Machteinsatz konnte zwar das Regime Saddam Husseins militärisch besiegen. Der demokratische Neuaufbau der Region, einschließlich der langfristigen Linderung des Konflikts zwischen Israel und den Palästinensern, braucht jedoch mehr und andere politische Instrumente als Streitkräfte16 und einen weit gespannten multilateralen Rahmen.

Das Verhältnis zwischen Europa und den Vereinigten Staaten hat immer auch Auswirkungen auf die innereuropäischen Beziehungen. Der Spalt zwischen einem „alten“ und einem „neuen“ Europa, der sich während der Irak-Turbulenzen aufgetan hat, ist mit einer wichtigen Ausnahme eher akzidentiell und nicht Signal einer Strukturverwerfung. Aber er kann sich vertiefen, und nichts wäre für eine europäische Außen- und Sicherheitspolitik gefährlicher, als wenn dies geschähe.

Proaktiver Multilateralismus

Auch fürderhin werden sich die zwölf nationalsozialistischen Herrschaftsjahre als Last für die deutsche Außenpolitik auswirken. Die Auseinandersetzungen über diese Ära deutscher Geschichte und ihre enormen ideellen und materiellen Folgelasten17 werden keineswegs aufhören. Schon dies allein genügt, um allen Ehrgeiz in Richtung auf eine stärker unilateral ausgerichtete deutsche Außenpolitik auszuhebeln. Im politischen System ist ein solcher Ehrgeiz aber auch nicht einmal ansatzweise vorhanden. Stattdessen kommt als Methode außenpolitischer Interessenwahrnehmung nur ein proaktiver Multilateralismus in Frage, der die beiden vordringlichen Aufgaben deutscher Außenpolitik – die Institutionalisierung eines weltpolitisch handlungsfähigen Akteurs Europa und die Neukalibrierung der deutsch-amerikanischen (und der euro-amerikanischen) Beziehungen – zügig in Angriff nimmt.

Im Grunde ist auch heute die weltpolitische Position Deutschlands klar bestimmt, wenngleich anders, als Waldemar Besson sie vor gut zwanzig Jahren beschrieb. Es ist eine Mittelmacht in der Spitzengruppe der Mittelmächte. Um seine nationalen Interessen im internationalen System optimal zur Geltung bringen zu können, benötigt es einen handlungsfähigen europäischen Akteur auf der weltpolitischen Bühne und eine enge Kooperation und Koordination zwischen Europa und den Vereinigten Staaten. Die Bestellung aller anderen außenpolitischen Felder ist davon abhängig, wie weit man mit dieser Doppelaufgabe kommt. Sie lässt sich, auch wenn es so scheinen mag, nicht mehr im Sinne der Kontinuität herkömmlicher Balancierungen deutscher Außenpolitik in den zwei Kreisen der Westintegration bewältigen.

Was die von Besson erstellte Liste mit „außenpolitischen Versuchungen“ betrifft, denen sich Deutschland gegenübersieht, kommt man zu einer größtenteils erfreulichen Bilanz. Von einem Revisionismus, der dem Bild vergangener und zwiespältiger Größe folgt, kann heute ernsthaft keine Rede sein. Die Vision einer Weltmacht Europa mit einer gegen die Vereinigten Staaten ausgerichteten Weltpolitik taucht zwar gelegentlich an den Stammtischen auf, was schlimm genug ist. Jedoch hat sie überall dort, wo es politisch seriös zugeht, keinerlei Chance.

Die dritte Versuchung auf der Liste, der Traum vom Sich-Klein-Machen – Besson nannte das etwas grob „Verschweizerung“ – hat seine Attraktivität behalten, jedenfalls in abgeschwächter Form. Die Bundesregierungen nach 1990 haben dieser Versuchung widerstanden, wenn auch manchmal nicht ohne Mühe. Die euro-amerikanischen Divergenzen der letzten Zeit haben den Nebeneffekt, dass sie sichtbar gemacht haben, wie unfruchtbar ein solcher Quietismus wäre. Trotz aller innenpolitischen Probleme mit der deutschen Reformmüdigkeit hat die Außenpolitik an innerer Sicherheit gewonnen. Um noch einmal Waldemar Besson zu zitieren: „Wir werden sie brauchen, denn an Gefahren wird es nicht mangeln.“18

Anmerkungen

1  Vgl. etwa Michael Hedtstück/Gunther Hellmann, „Wir machen einen deutschen Weg“. Irakabenteuer, das transatlantische Verhältnis und die deutsche Außenpolitik, in: Bernd W. Kubbig (Hrsg.), Brandherd Irak. US-Hegemonieanspruch, die UNO und die Rolle Europas, Frankfurt/M. 2003, S. 224– 234. Ferner Joachim Krause, Multilaterale Ordnung oder Hegemonie? Zur transatlantischen Debatte über die weltpolitische Neuordnung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 31–32/2003, S. 6–14.

2  Eric Gujer, Die Deutschen sind keine Musterknaben mehr, in: Neue Zürcher Zeitung, 2./3.8.2003.

3  Vgl. dazu den großflächigen Überblick von Christian Hacke, Zuviel Theorie? Zuwenig Geschichte? Eine kritische Zwischenbilanz der Disziplin der Internationalen Beziehungen in Deutschland, Hamburg 2003.

4  Helga Haftendorn, Deutsche Außenpolitik zwischen Selbstbeschränkung und Selbstbehauptung 1945–2000, Stuttgart/München 2001, S. 13.

5  Waldemar Besson, Die Außenpolitik der Bundesrepublik. Erfahrungen und Maßstäbe, München 1970, S. 457.

6  Richard Löwenthal, Vom kalten Krieg zur Ostpolitik, Stuttgart 1974.

7  Außenpolitische Perspektiven des westdeutschen Staates, Bd. 1: Das Ende des Provisoriums, Bd. 2: Das Vordringen neuer Kräfte, Bd. 3: Der Zwang zur Partnerschaft, München 1971–1972.

8  Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Dokumente von 1949 bis 1994, hrsg. vom Auswärtigen Amt, Köln 1995, S. 703.

9  Große Enttäuschung über die „rot-grüne“ Außenpolitik äußert z. B. Hanns W. Maull. Vgl. Maull/ Sebastian Harnisch/ Constantin Grund (Hrsg.), Deutschland im Abseits? Rot-grüne Außenpolitik 1998–2003, Baden-Baden, S. 7-17.

10Kritisch gegenüber dem Verhalten der Bundesregierung hat sich etwa der Generaldirektor für Auswärtige und Politisch-Militärische Beziehungen beim Ministerrat der EU, Robert Cooper, geäußert; vgl. das Interview mit ihm in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.5.2003.

11Einer der unerfreulichsten Aspekte dieser Kumulation transatlantischer Schwierigkeiten unter engen Verbündeten ist die starke Welle eines irrationalen und, man ist versucht zu sagen: primitiven Antiamerikanismus, die in den letzten Monaten in Deutschland hochspülte.

12„Freundschaft“ ist mehr eine Metapher für stabile und fest institutionalisierte Beziehungen als eine politische Kategorie. Im Falle der deutsch-französischen Beziehungen hat der Begriff auch die Funktion einer erfreulichen „self-fulfilling prophecy“.

13Vgl. Peter Schmidt, ESVP und Allianz nach dem Vierergipfel, SWP-Aktuell 20, Berlin 2003.

14Der Begriff „kleines Wunder“ ist auch keine politische Kategorie. Aber mir fällt kein besserer ein, um den Grad der Unwahrscheinlichkeit auszudrücken, der gemeinsames Handeln Frankreichs und Deutschlands kennzeichnet, das in jedem der beiden Länder auf ganz unterschiedlichen, häufig sogar geradezu gegensätzlichen Motiven beruht, vom Pleven-Plan bis zum Vierergipfel (Deutschland, Frankreich, Luxemburg, Belgien) am 29. April 2003. Und meistens ist es auch noch gut gegangen!

15Beatrice Heuser, Transatlantic Relations. Sharing Ideals and Costs, London 1996, S. 113.

16Vgl. dazu die theoretisch fundierte und sehr anregende Studie von Helmut Hubel/Markus Kaim/Oliver Lembcke, Pax Americana im Nahen Osten. Eine Studie zur Transformation regionaler Ordnungen, Baden-Baden 2000, besonders Kapitel VI.

17Jüngstes Beispiel für derartige Folgelasten, die erst spät in den Vordergrund rücken, sind die internationalen Verhandlungen zur Entschädigung von Zwangsarbeitern. Vgl. dazu Stuart Eizenstat, Unvollkommene Gerechtigkeit, München 2003, und Susanne-Sophia Spiliotis, Verantwortung und Rechtsfrieden. Die Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft, Frankfurt/M. 2003.

18Besson, a.a. O. (Anm. 5), S. 460.