Titelthema

24. Febr. 2025

Neue deutsche China-Politik

Beim Umgang mit der Volksrepublik steht Berlin ein Härtetest bevor. Zeit für eine Revision bisheriger Ansätze: Die Politik gegenüber Peking muss europäischer werden.

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Bild: Bundeskanzler Scholz bei einem Besuch in China
In einer düsteren Großwetterlage entscheidet sich unter anderem, ob Europas Wettbewerbsfähigkeit Zukunft hat und die grüne Transformation gelingt: Bundeskanzler Olaf Scholz in Peking, November 2022.
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Wenn in wenigen Wochen eine neue Bundesregierung das Ruder übernimmt, werden sich die Kontextbedingungen für die deutsche ­China-Politik entscheidend verändert haben. Intern wurde die 2023 im Auswärtigen Amt verfasste China-Strategie von manchen bereits als „Dunkle-Wolken“-Papier bezeichnet. Heute sind es gleich mehrere Gewitterfronten, die Deutschlands Handlungsfähigkeit im Verhältnis zu China massiv herausfordern. 

Die erste Front betrifft die Wirtschaftsbeziehungen. Das frühere Modell komplementärer Handelsverflechtung zwischen Deutschland und China ist schon lange obsolet. Heute sind Verdrängung in Schlüsselbranchen, scharfer Drittmarktwettbewerb und immer stärker sichtbare Schäden – ein „China-Schock 2.0“ – für den europäischen Binnenmarkt durch systematische Marktverzerrungen und Überkapazitäten aus chinesischer Produktion die neue Normalität. 

Während insbesondere deutsche Exporte nach China rasant sinken, beklagen europäische ­Unternehmensverbände ­anhaltende und neue Schwierigkeiten, sich im chinesischen Markt fair zu posi­tionieren. Dabei haben sich die Verhältnisse vielfach umgekehrt: Unternehmen suchen ihr Heil nicht nur in Chinas Marktgröße und günstigen Investitionsbedingungen, sondern profitieren heute als abhängige Partner von der Globalisierung chinesischer Player und deren Innovations­dynamik.

Genauso herausfordernd wirkt die zweite Front, eine fortschreitende technologische Spaltung der Welt. Neue US-Regeln zu Hochleistungs-Chips, die bei Künstlicher Intelligenz (KI) eingesetzt werden, schaffen eine ganz neue globale Machtarchitektur. Die chinesische Chips- und KI-Aufholjagd – zuletzt verkörpert durch den OpenAI-Konkurrenten DeepSeek – wird das Auseinanderdriften der globalen Technologie-Ökosysteme noch beschleunigen. US-Kontrollen, chinesische Einstellungen und konkrete Gegenmaßnahmen aus Peking treiben Entkopplung voran. Deutschland und Europa geraten auf zentralen Technologiefeldern zugleich ins Hintertreffen und zwischen die Mühlen. 

An der dritten Front stehen europäische Sicherheit und Resilienz auf dem Spiel. Die Eskalation Russlands im Ukraine-Krieg wurde von zunehmender chinesischer Unterstützung für Moskau – unter anderem durch Drohnenlieferungen – begleitet. Chinesische Spionage gegen deutsche Unternehmen ist unterschätzter Alltag und nimmt zu. Hackerangriffe beispielsweise auf das Bundesamt für Kartographie oder die CDU-Parteizentrale sind China zuzuordnen. 

Die hybride Bedrohungslage wird in Europa immer ernster, während schwelende Spannungen in der Taiwanstraße und im Südchinesischen Meer geopolitische Bruchlinien markieren. Peking erschließt sich überregional durch autoritäre Partnerschaften und pragmatische Parallelstrukturen neue Räume, stößt in Ordnungslücken vor, die die USA nicht mehr füllen wollen und die die EU überfordern.

In dieser Großwetterlage entscheidet sich nicht nur die Zukunft europäischer Wettbewerbsfähigkeit und Sicherheit, sondern auch, ob die grüne und ­digitale Transformation hierzulande gelingt – und demokratische Gesellschaften resilient bleiben. Das alte Lagebild der China-Strategie hat damit zwar noch nicht ausgedient, aber der Handlungsdruck ist immens gestiegen. Erneut ein chinapolitisches Grundsatzdokument aufzuschreiben, würde aber niemandem helfen. Wo also kommen Impulse her?


Systemkonflikt im Vordergrund

Im kurzen Wahlkampf Anfang 2025 skizzierte CDU-Parteichef Friedrich Merz eine außenpolitische Neuaufstellung, die auch einen anderen Ansatz gegenüber China beinhalten müsste. Mit der Betonung der Achse der Autokratien zwischen China, Russland, dem Iran und Nordkorea rücken Risiken und der Systemkonflikt klar in den Vordergrund. Ein Nationaler Sicherheitsrat verspricht einen Rahmen, in dem Interessenkonflikte ressortübergreifend abgewogen und so auch Leitlinien für den Umgang mit China intern aktualisiert werden könnten. Und das Weimarer Dreieck – also die vertiefte Zusammenarbeit zwischen Berlin, Paris und Warschau – soll als neue Kraftquelle für eine geeinte Europapolitik wiederbelebt werden. 

Der Härtetest für solch einen theoretischen Ansatz steht allerdings unmittelbar an. Wie kalibriert die nächste Bundesregierung konkret ihre China-Politik, während sie massiven externen Druck der zweiten Trump-Regierung verarbeitet und intern viele in der Industrie auf ein besseres Verhältnis mit China drängen?

Wer immer noch auf  Pekings Unterstützung  gegen Moskau hofft, gibt sich Illusionen hin

Das Pendel darf jedenfalls nicht einfach zurückschwingen: Vertiefte Beziehungen mit China erweitern unter den aktuellen Bedingungen nicht mehr den strategischen Handlungsspielraum Deutschlands. Hier kann es kein geopolitisches Lavieren geben. 

Wer immer noch auf Pekings Unterstützung für europäische Sicherheitsinteressen gegen Moskau hofft, China für einen verlässlichen Stabilitätsfaktor im Welthandel hält oder auf politische Veränderung setzt, gibt sich Illusionen hin. Die Abwicklung der globalen Nachkriegs­ordnung durch die Trump-­Regierung ist zwar ebenso wenig im deutschen Interesse. Die weiter bestehenden Konvergenzpoten­ziale, überlappende strategische Interessen und sicherheitspolitische Realitäten sollten jedoch einen Berliner Flirt mit merkantilistischer Äquidistanz verbieten. 

Wenn Teile der Industrie die Zukunft der Automobil- und grünen Energiewirtschaft vor allem in China oder mit chinesischen Investitionen in Europa sehen, oder Rohstoffabhängigkeiten so ausgeprägt sind, dass sie nur langsam abgebaut werden können, müssen die gesamtwirtschaftlichen Risiken nüchtern analysiert und klar benannt werden. Mehr deutscher Handel und Investitionen mit China können immer noch im europäischen Interesse sein – aber nur unter bestimmten Bedingungen. 


„Hausaufgaben-Politik“

China-Politik bleibt damit zuallererst „Hausaufgaben-Politik“: Deutschland sollte sich mit der EU strukturell neu aufstellen. Nur so ließen sich europäische Relevanz in globalen Wertschöpfungs­ketten und geopolitische Eigenständigkeit langfristig sicherstellen und der Industriestandort sowie die eigene Innovationsfähigkeit in Konkurrenz und harter Auseinandersetzung auch mit China neu absichern. 

Es sind dicke Bretter zu bohren, wenn eine integrierte Bearbeitung von Wirtschaftssicherheit und Außenwirtschaftspolitik im deutschen System effektiver werden soll. Die Silos in der Regierung sind verfestigt – die strategische Koordination mit der Wirtschaft gelingt nur beschränkt. Dabei müsste gerade Deutschland in dieser Phase der Globalisierung intern neue Wege gehen (siehe auch den Beitrag von Thorsten Benner et al.). 

Der Bundestag sollte der Regierung einen regelmäßigen „Resilienz-Audit“ vorschreiben – oder die Regierung auf europäischer Ebene Benchmarks für die Verringerung von Abhängigkeiten, auch von China, erarbeiten. Zugleich sollten der Austausch und die Zusammenarbeit zwischen den EU-Staaten intensiviert werden. In der nächsten Legislaturperiode kann das KRITIS-Dachgesetz endlich verabschiedet werden, um Infrastrukturen besser zu schützen. Bei „Outbound-­Investitionen“ in hochsensiblen Sektoren müsste ein europäischer Prüfrahmen so konzipiert werden, dass er Lücken der Exportkontrolle schließt und auch deutschen Unternehmen Orientierung bietet. Klare und regelmäßige Attribution belegbarer chinesischer Cyberangriffe sowie Aufklärungskampagnen sollten zum Standardrepertoire gehören, um Wirtschaft und Gesellschaft für Formen hybri­der Konfliktführung zu sensibilisieren. Die Zusammenarbeit zwischen den Sicherheitsbehörden gleichgesinnter Staaten muss intensiviert werden, während Investitionen in die China-Kompetenz auf breiter Basis weiter nötig bleiben. 

Den Anspruch, europäischer zu agieren, hat die vorige Bundesregierung nicht eingelöst. Viele in Deutschland bleiben blind dafür, dass das deutsche Geschäftsmodell maximaler Globalisierung zwar Europas Stärke mitbegründet hat, aber heute – gerade im Verhältnis zu China und den USA – Verwundbarkeit mit sich bringt und damit Verantwortung für ganz Europa. Nationale Abstimmung und europäische Koordination in der China-Politik werden außerhalb sehr beschränkter Kreise, wenn überhaupt, immer noch nachrangig behandelt. Eine neue Regierung muss erst beweisen, dass sie das nicht nur anders handhabt, sondern auch in Initiativen, Strukturen und Kapazitäten investiert, die Brüssel stärker wirken lassen.


Von G7 zu G11

Als mögliche Antwort auf autokratische Zusammenarbeit weltweit könnte die neue Bundesregierung deshalb anstreben, den G7-Mechanismus zu einer G11 auszuweiten, so europäische Handlungsfähigkeit gegenüber China zu stärken und in trans­atlantische Kooperation einzubetten. Es wäre im deutschen und europäischen Interesse, Australien, Indien und Südkorea einzubeziehen und der Europäischen Union einen eigenen Sitz einzuräumen, um den drängenden sicherheits- und wirtschaftspolitischen Realitäten – auch in der China-Politik – gerecht zu werden. Eine solche Struktur würde reflektieren, dass Europa und der Indo-Pazifik über Lieferketten, Investitionsströme und sicherheitspolitische Belange immer enger verbunden sind. Indien als aufstrebende Wirtschaftsmacht und Südkorea mit seiner Spitzentechnologie könnten gemeinsam mit Australien den Horizont und die Resonanz europäischer China-Politik beträchtlich ausdehnen.

Eine solche Erweiterung des G7-Formats wird auf Widerstände stoßen: Wa­shington könnte in ihr eine Verwässerung amerikanischer Machtpolitik sehen. Dabei hat Präsident Trump eine G11 schon 2020 vorgeschlagen – allerdings mit Russland. Indien verfolgt eine komplexe „Multi alignment“-
Außenpolitik und wird sich nicht leicht einbinden lassen. Seoul navigiert in einem sensiblen Spannungsfeld mit China, und an einem Machtzuwachs der EU haben nur wenige Interesse. Dennoch: Eine G11 könnte Handlungsfähigkeit in Konkurrenz und Widerstreit mit China erhalten und steigern – sei es bei der Absicherung des Zugangs zu kritischen Rohstoffen oder bei Technologie-Initiativen. 

Die neue Bundesregierung steht vor der Aufgabe, deutsche China-Politik in einer Zeit tiefgreifender globaler Umbrüche neu zu gestalten. Trotz aller eigenen internen Schwächen: China wird noch stärker zu einer systemischen Herausforderung. Bestehende Strukturen und Ansätze reichen nicht aus. Es bedarf einer entschlossenen Neuausrichtung. Nur durch eine enge, strategische Zusammenarbeit in der EU und mit Partnern weltweit können deutsche Interessen im Verhältnis zu China langfristig gewahrt werden.    
 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2025, S. 39-42

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Mehr von den Autoren

Dr. Mikko Huotari ist Direktor des Mercator Institute for China Studies (MERICS) in Berlin.