Dominanter Drache
Handel, Produktion, Kapital, Währung: Das Geflecht der ökonomischen Abhängigkeiten in Asien verschiebt sich massiv zugunsten Chinas. Mit welchen Folgen? Die USA werden nur sehr bedingt mit einer immer stärker durch China beherrschten Region leben können. Und auch in der Region selbst bleibt die Akzeptanz von Chinas Führungsrolle umstritten.
Eine asiatische Regionalmacht stößt mit neuen finanzpolitischen Initiativen auf amerikanischen Widerstand und sorgt mit ihren Avancen zur Internationalisierung der eigenen Währung für Wirbel in der Region. Ein Szenario, das wir kennen – Japan Ende der neunziger Jahre – und das wir heute wieder erleben – mit China. Doch Geschichte wiederholt sich nur bedingt. Trotz oberflächlicher Gemeinsamkeiten unterscheidet sich das vormals „Japan-zentrierte“ Ostasien (einschließlich der ASEAN-Staaten, China und Südkorea) stark von der heutigen Region. Die Bedingungen, unter denen Japan eine prominente Rolle in der Region einnahm und China heute nach Vormacht strebt, sind fundamental andere. Durch die Verschiebung des Zentrums weltwirtschaftlicher Aktivitäten in den asiatisch-pazifischen Raum ist die Bedeutung Ostasiens in den vergangenen 15 Jahren rasant gewachsen. Eine Dominanz in Ostasien heute hat also globalpolitisch ein viel größeres Gewicht als noch im 20. Jahrhundert.
Japan war und bleibt außerdem militärisch abhängig von den USA, wohingegen China und die USA sich einen immer schärfer geführten sicherheitspolitischen Wettstreit liefern, der zugleich ein Kampf um Wirtschaftsinteressen ist. Auch das natürliche Gewicht der chinesischen Volkswirtschaft in der Region ist um einiges größer als das Japans. Die Wirtschaftsbeziehungen vieler Staaten in der Region sind bereits stärker auf China ausgerichtet, als dies mit Japan jemals der Fall war. Viel wichtiger noch: Der wirtschaftspolitische Strukturwandel, die langsame Abwendung vom Modell des Entwicklungsstaats, den Japan zur Jahrtausendwende schon eingeleitet hatte, steht in China erst bevor. Und die damit einhergehende Transformation der außenwirtschaftlichen Beziehungen mit den Nachbarstaaten wird weiter dazu beitragen, Chinas Bedeutung in Ostasien zu vergrößern. Als kontinentale „Catch-all“-Ökonomie kann China „Werkbank“ bleiben (vor allem in westlichen Provinzen), während es gleichzeitig zum asiatischen Innovationstreiber und Kapitalgeber wird.
Ostasien im Takt Chinas
Das Geflecht der ökonomischen Abhängigkeiten in der Region verschiebt sich massiv zugunsten Chinas. Das betrifft nicht nur den Handel, sondern auch Kapitalflüsse, Wechselkurs- und Währungsbeziehungen. Ausgangspunkt und Ursache dieser Verschiebungen sind regionsübergreifende Produktionsprozesse, in denen China schon lange das zentrale Scharnier ist und jetzt in wachsendem Maß seinen Wertschöpfungsanteil erhöht. Wo Anfang der 2000er Jahre Japan oder die USA die wichtigsten Handelspartner für die meisten Staaten in der Region waren, ist dies heute fast ausnahmslos China.
So macht etwa Südkoreas Handel mit China mehr als ein Viertel des gesamten südkoreanischen Außenhandels aus. Seit der globalen Finanzkrise sind es zudem verstärkt chinesische Unternehmen, die in der Region erhebliche Summen investieren. Die Suche nach Ressourcen, Absatzmärkten und Produktionsstandorten spült immer mehr chinesisches Kapital vor allem nach Südostasien. Und schließlich baut China seine Finanzmacht aus, indem es Kredite für Infrastrukturprojekte von der Mongolei bis Myanmar vergibt.
Dann ist da noch Pekings Projekt der Währungsinternationalisierung. Nicht nur wickeln Chinas Nachbarstaaten einen immer größer werdenden Anteil ihrer Handels- und Investitionstransaktionen mit der Volksrepublik in chinesischer Währung ab. Geschäfte mit dem Yuan bestimmen auch immer stärker den Erfolg von Finanzzentren und -unternehmen in der Region. Ein noch subtilerer Wandel hat sich derweil in den Wechselkurspolitiken in der Region vollzogen. Eingebettet in die globale Dollardominanz wurde der Yuan in den vergangenen Jahren zur regionalen Ankerwährung (vor dem japanischen Yen), an deren Wechselkursbewegungen sich andere Währungen ausrichten.
So ergibt sich eine Situation, in der Pekings wirtschaftspolitische Entscheidungen und Chinas „Business-Zyklen“ in wachsendem Maß den Takt in der Region vorgeben. Der Umbau des chinesischen Wachstumsmodells, das anhaltend verlangsamte Wachstum, die Industrie-, Geld- und Wechselkurspolitik Chinas: All das ist maßgeblich für wirtschaftliche Aussichten und beeinflusst die alltäglichen Entscheidungen von Regierungen und Unternehmen in den benachbarten Ökonomien.
Wirtschaftliche Gravitationskraft übersetzt sich allerdings nicht automatisch in Steuerungsmöglichkeiten und Einfluss für Peking. Abhängigkeiten mögen sich im Einzelfall für gezielte Interventionen nutzen lassen – so schränkte China 2010 die Ausfuhren von Seltenen Erden unter anderem nach Japan ein und begrenzte 2012 Bananenimporte von den Philippinen.
Dauerhaft in Form gießen – und damit auch politisch instrumentalisierbar machen – lassen sich solche Abhängigkeiten nur durch Institutionen und Regelwerke. Chinas wirtschaftliche Anziehungskraft hat dabei eine paradoxe Wirkung. Gerade wegen der rasant wachsenden Abhängigkeiten zugunsten Chinas verliefen wirtschaftliche und (sicherheits-)politische Beziehungen in Ostasien zweigleisig – während sich der wirtschaftliche Austausch verdichtete, blieb eine substanzielle und institutionell vertiefte Kooperation aus. Im Gegenteil: Viele Staaten in der Region versuchen, die wachsende wirtschaftliche Abhängigkeit von China dadurch zu kompensieren, dass sie sich sicherheitspolitisch durch die USA absichern lassen.
Prekäre Balance zwischen China und Japan
Während diese übergeordnete geopolitische Konstellation sich weiter verschärft, gab es – von vielen Beobachtern ignoriert – zwischen 2009 und 2011 eine ganze Reihe bedeutsamer regionaler Integrationsschübe. Der entscheidende Faktor war dabei die Verschiebung im Machtverhältnis zwischen Japan und China. Beide Länder hatten ein Interesse daran, den Status quo – ein relatives Machtgleichgewicht – gewissermaßen einzufrieren. So gelang es 2010 zum ersten Mal im Rahmen der Chiang-Mai-Initiative (CMIM), Beiträge, Stimmengewichtungen und damit Machteinfluss in Ostasien vertraglich festzulegen.
Der diplomatische Clou dabei: Wenn der Anteil Chinas mit dem Hongkongs zusammengerechnet wird, kommen sie auf das gleiche Gewicht wie Japan. Gegenüber dem Festland alleine genommen bleibt Japan formal einflussreicher. Gleichzeitig wurde für die Bestimmung des Führungspostens des „Büros“ zur Beobachtung der gesamtwirtschaftlichen Lage in der Region („ASEAN+3 Macroeconomic Surveillance Office“) ein geschickter Kompromiss gefunden: Zwar konnte Peking stolz verkünden, den ersten Direktor zu stellen, es wurde jedoch vereinbart, dass ein japanischer Kandidat bereits nach zwei Jahren verkürzter Amtszeit folgen würde.
Was regionale Handelsabkommen angeht, so hatten Japan und China lange Zeit ebenfalls konkurrierende Projekte vorangetrieben. Während Peking auf der „ASEAN+3“-Vision bestand, die bestehende Freihandelsabkommen zwischen ASEAN und den drei großen Ökonomien im Norden zusammenfassen sollte, drängte Tokio auf eine Einbeziehung weiterer Staaten. Immerhin einigte man sich 2010/11 auf eine gemeinsame Initiative, die nun in diesem Jahr als „Regional Comprehensive Economic Partnership“ (RCEP) zum Abschluss gebracht werden soll.
Auch wenn beide Projekte, CMIM und RCEP, weiterhin relevant für die institutionelle Ausgestaltung Ostasiens bleiben, hat sich die regionale Dynamik mittlerweile doch deutlich verändert. Chinas regionale Anziehungskraft hat ein Niveau erreicht, das den Handlungsdruck und -spielraum für Chinas Außenwirtschaftspolitik erhöht. Pekings neue Außenpolitik seit der Machtübernahme von Xi Jinping hat sich darauf eingestellt und die aktive wirtschaftspolitische Bearbeitung der Region zur obersten Priorität erhoben. Nicht nur die von den Nachbarn praktizierte Entkopplung von wirtschaftspolitischer Integration mit China und sicherheitspolitischem Schutz durch die USA, sondern auch die prekäre Balance zwischen Japan und China scheinen aus Pekings Perspektive immer weniger tragfähig.
Ende der Zurückhaltung
Mit ambitionierten Plänen wie der Seidenstraßen-Initiative, der AIIB und neuen Vorschlägen zur Gestaltung des asiatisch-pazifischen Handels im Rahmen der APEC geht es um die Vormachtstellung Chinas in der Region. Die Rhetorik von einer regionalen „Schicksalsgemeinschaft“ und „Win-win“-Kooperation mit seinen Nachbarn verdeckt dabei nur schwerlich die Realität: Peking will und muss dirigieren und nicht nur den Takt vorgeben. Der Erfolg des wirtschaftspolitischen Reformprogramms des Dritten ZK-Plenums der Kommunistischen Partei vom November 2013 hängt ganz entscheidend von einer erfolgreichen vertieften außenwirtschaftlichen Öffnung in die Region hinein ab. Ohne verstärkte Investitionen in Asien, einen produktiven Einsatz der Währungsreserven, regionale Finanz- und Währungskooperationen sowie die Erschließung neuer Absatzmärkte kann der Strukturwandel nicht gelingen.
Xi Jinpings neue Vision für die Umgestaltung der Region und die praktische Umsetzung unterscheiden sich nicht nur von der Politik Japans, wo man sich in Sachen regionaler Ordnungspolitik eher zurückhält. Sie markieren auch eine deutliche Zäsur für die chinesischen Außenbeziehungen. Peking mischt sich ein und ergreift die Initiative. Das Jahr 2014 gibt die Richtung vor: Als Gastgeber hat Peking eine Vielzahl von neuen regionalen Initiativen entscheidend vorangebracht. Keine Rede ist mehr von einem „low profile“; das Diktum des einstigen Reformarchitekten Deng Xiaoping hat ausgedient.
Neue ökonomische Anreize für die Nachbarstaaten werden mit sicherheitspolitischen Angeboten und Forderungen verknüpft. Die chinesische Führung betreibt auch nach außen eine Zuspitzung, wie sie von anderen Großmächten bekannt ist: für uns oder gegen uns. Dabei hat sich die regionale Perspektive aus der Sicht Pekings verlagert und deutlich erweitert. Die kontinentale Dimension, also der Bezug auf Zentral- bzw. Eurasien, hat deutlich an Gewicht gewonnen. Chinas neue Infrastrukturaußenpolitik wirkt stärker „postregional“. Es wird immer deutlicher, dass Pekings Verständnis von regionaler Wirtschaftsintegration zumindest aus europäischer Perspektive ungewöhnlich ist: viel flexibler, instrumenteller und ambivalenter. Wo Japan sich seinerzeit nicht mit der Gründung eines Asiatischen Währungsfonds durchsetzen konnte, wählt China mit der Einrichtung der Asiatischen Infrastruktur-Investitionsbank (AIIB) einen anderen, bislang erfolgreichen Ansatz.
Natürlich hofft Peking dabei darauf, dass die eigenen Initiativen einander ergänzen werden. Investitionen in Infrastrukturprojekte und die Expansion chinesischer Transport-, Energie- und Bauunternehmen in der Region sollen durch neue Instrumente zur Kreditvergabe wie den Seidenstraßen-Fonds und die AIIB gefördert werden. Im Idealfall würden sich dabei Kreditvergabe, Finanzkooperation und Handel mit dem Projekt der Währungsinternationalisierung wechselseitig befruchten.
Schocks und Erschütterungen
Einige Anzeichen wie die positiven Reaktionen auf Chinas AIIB-Initiative sprechen dafür, dass Pekings Pläne aufgehen. Allerdings sind die Konfliktlinien nicht zu übersehen und der Strukturwandel der chinesischen Wirtschaft bleibt höchst fragil. Wenn sich die Lage in China tatsächlich zuspitzen sollte, dann würden die Folgen vor allem eines zeigen: die Abhängigkeit der Region vom Reich der Mitte. Mögliche Begleitschäden wären Schocks und Erschütterungen in den höchst dynamischen Interaktionen mit den Nachbarstaaten, Bündnispartnern der USA und „Modernisierungsnationalisten“ in Japan, Indonesien und Indien.
Die USA werden – diese Prognose ist nicht allzu gewagt – künftig nur sehr bedingt mit einer immer stärker durch China dominierten Region leben können. Auch in der Region selbst bleibt die Akzeptanz von Chinas neuer Führungsrolle höchst umstritten – und wird von Land zu Land unter unterschiedlichen Vorzeichen ständig neu verhandelt. Die Positionierung gegenüber China wird in Zukunft noch stärker die politischen Landschaften in den Nachbarstaaten spalten. Aus europäischer Perspektive sind diese Entwicklungen höchst relevant. Nicht zuletzt, da sie Anpassungsprozesse zeigen, die uns in Europa noch bevorstehen.
Mikko Huotari leitet das Programm Außenpolitik und Außenwirtschaft am MERICS.
IP Länderpoträt 2, Juli-Oktober 2015, S. 62-67