Buchkritik

06. Aug. 2011

Neu-Delhi, Peking, Tokio

Vorschläge für Deutschlands Partnersuche in Fernost

„Mehr Indien, weniger China“, fordert der NZZ-Korrespondent Urs Schoettli für die deutsche Asien-Politik. Dass neben den beiden aufstrebenden Mächten in Asien noch ein weiteres Land stärkere Aufmerksamkeit verdiente, hat die Reaktorkatastrophe in Japan wieder ins Bewusstsein der Welt gebracht. Zwei Neuerscheinungen.

Japan dominierte in diesem Frühjahr die weltweite Berichterstattung. Es bedurfte einer beispiellosen Naturkatastrophe, der alles verschlingenden Kraft eines Tsunami und nicht zuletzt einer für ein hochentwickeltes Technologieland beispiellosen Atomkatastrophe, um diesen offenbar schlummernden Wirtschaftsgiganten zurück auf die Agenda der weltweiten Berichterstattung zu bringen.

Es ist lange her, dass Japan diese Rolle spielte. Zur Erinnerung: Vor inzwischen zwei Jahrzehnten, nach dem Ende des Kalten Krieges, war das Land auf dem Höhepunkt seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Wenn es um die japanische Außenpolitik ging, zeichnete man in dieser Zeit zumeist ein düsteres, mystisches Bild, das mitunter die Vision eines aggressiven Superstaats mit Atomwaffen heraufbeschwor. Japans Außenhandelspolitik wurde als merkantilistisch und über die Maßen wettbewerbsorientiert beschrieben, mit dem Ziel, die Kontrolle und den Einfluss über seine Umgebung auszuweiten. Internationalen Abmachungen, die den autonomen Handlungsspielraum des japanischen Staates in den internationalen Beziehungen einschränken könnten, verweigere sich das Land, so die Lesart.

Dieser Logik folgend sprach man seinerzeit in Wissenschaft und Medien von Japan als einer „Netzwerkmacht“, konstatierte die „Neuauflage einer japanisch dominierten ostasiatischen Ko-Prosperitätssphäre“ oder erblickte einen „Yen-Block“. Eine Mischung aus Bewunderung und Furcht, von der allerdings nach der langanhaltenden Stagnation der neunziger Jahre nicht viel übrig blieb; im vergangenen Jahrzehnt verschwand sie fast vollständig aus den Medien. Japan ist in der Berichterstattung zu einem „normalen“ Staat geworden, zu einem Land wie Südkorea, Kanada oder Island.

Die Entwicklung hat viel mit dem vermeintlichen Aufstieg anderer Staaten zu tun. Wirtschaftlich aufstrebende und politisch selbstbewusst auftretende Länder wie China, Indien, Südafrika oder Brasilien stießen in Wissenschaft und Medien auf ein immer größeres Interesse, auch weil das Wissen über demografische und ökonomische Gewichtsverschiebungen zwischen etablierten und aufstrebenden Staaten deutlich zugenommen hatte.

Wie sie zu etikettieren sind – „Neue regionale Führungsmächte“, „Ankerländer“, „Asian Drivers of Global Change“, „Emerging Powers in Global Governance“ und „Intermediate Powers“ rangieren auf der terminologischen Popularitätsskala weit oben –, oder wie man sie kategorisieren kann, darüber gehen die Meinungen auseinander: Die BRICs (Brasilien, Russland, Indien, China) gehören hier zu den üblichen Verdächtigen.

Ein wenig Licht in diesen Etikettendschungel bringen zwei neue Bücher, die sich mit China und Indien auf der einen sowie Japan auf der anderen Seite beschäftigen. Den Blick auf die beiden „aufstrebenden Giganten“ richtet das neue Buch des ehemaligen Asien-Korrespondenten der Neuen Zürcher Zeitung, Urs Schoettli; mit Japan beschäftigt sich ein jüngst erschienener Band des Direktors des Deutschen Instituts für Japanstudien in Tokio, Florian Coulmas, das er mit der niederländischen Japan-Korrespondentin Judith Stalpers vorgelegt hat. Um die für Europa so bedeutsamen Dynamiken in Asien besser zu erfassen, lohnt die vergleichende Lektüre beider Bände.

Mit dem im Titel formulierten Imperativ „Mehr Indien, weniger China: Deutschland braucht eine neue Asienpolitik“ entwirft Schoettli auf rund hundert Seiten eloquent und unmissverständlich ein politisches Programm, das eine Gewichtsverlagerung von China zu Indien postuliert. In zehn gut lesbaren Kapiteln wird dieses Programm auf der Folie der „komplexen Hintergründe“ des indischen Aufstiegs der vergangenen Jahre entwickelt.

Schoettli lobt unter dem Stichwort „Kontinent der Circe“ die Fähigkeit der indischen Gesellschaft zur friedlichen Absorbierung fremder Einflüsse, die auch Ausländern das Leben auf dem Subkontinent erleichtert. Der Titel des Buches weist darauf hin, dass die Traditionen des indischen Staates den europäischen und nordamerikanischen näher stünden als die chinesischen. Politiker, Investoren und auch Touristen täten gut daran, diese Unterschiede zu erkennen und zu nutzen.

Das Buch von Urs Schoettli eignet sich hervorragend als Einstieg in die Diskussion um diese beiden „künftigen Weltmächte“. Kenntnisreich werden hier die mannigfaltigen Facetten von Bildung, Wirtschaft, Finanzen und Sicherheit auf dem Subkontinent entschlüsselt und mit den Gegebenheiten in der  Volksrepublik China verglichen. In dem aus Sicht der Politikberatung besonders relevanten Schlusskapitel werden die demokratische Verfasstheit, die ethnische und kulturelle Vielfalt Indiens, die euroindische Wertegemeinschaft, die Transparenz des Finanzsektors und die geopolitische Bedeutung Indiens als Orientierungskategorien künftiger deutscher Außenpolitik identifiziert.

Indien werde künftig als Ziel deutscher Direktinvestitionen vielleicht noch wichtiger als China. Der Subkontinent weise eine vergleichsweise günstige demografische Entwicklung auf und biete so langfristige Absatzchancen. Das werde durch verlässliche Traditionen im Finanzwesen und das hoch entwickelte Verkaufsmanagement bei den indischen Konsumgüterproduzenten weiter erleichtert. Schließlich dürfe man die Kooperationsmöglichkeiten, die sich aus der rechtsstaatlichen Verfasstheit Indiens ergäben, nicht unterschätzen: So sei ein Abgeordnetenaustausch zwischen Bundestag und indischem Parlament aufgrund ähnlicher Strukturen einfacher als mit dem Nationalen Volkskongress Chinas. Hinzu komme das föderale System Indiens, das Chancen zur Zusammenarbeit mit den deutschen Bundesländern biete.

Sicher eignet sich das Buch aufgrund seines mitunter metaphorischen Stils weniger für universitäre Hauptseminare oder gar Examenskolloquien. Als Einführung in die aktuellen wirtschaftlichen Probleme der beiden größten Staaten in Ostasien und als brillant verfasstes Plädoyer, der wachsenden Bedeutung Indiens Rechnung zu tragen, ist es jedoch fast unverzichtbar. Der Band ist gerade für jene Leser empfehlenswert, die sich tiefe Einblicke in die für uns sehr fremden Strukturen der indischen Gesellschaft erhoffen.

Dass Japan in Schoettlis Buch abermals ausgespart wird, entspricht dem Zeitgeist. Um die japanische Jahrhundertkatastrophe dieses Frühjahrs in einen breiteren soziokulturellen Kontext zu stellen und damit den Umgang der Japaner mit diesem Elend verständlicher zu machen, eignet sich das schlanke Büchlein „Japan: Die 101 wichtigsten Fragen“ von Florian Coulmas und Judith Stalpers wie kaum ein anderes.

Was wie ein Ratgeber für orientierungslose Hobby-Orientalisten klingt, entpuppt sich als präzise recherchiertes, Geschichte, Geografie, Umwelt, Religion, Sprache, Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Technik gleichermaßen packend analysierendes Einführungswerk, das aufgrund der im deutschen Sprachraum einmaligen Sachkenntnis seiner Autoren eine wichtige Lücke füllt.

Vor der Naturkatastrophe dieses Frühjahrs entstanden, richtet sich das Buch von Coulmas und Stalpers noch mehr als der Band von Schoettli an den an Aktualität interessierten Leser. Es beantwortet grundlegende Fragen, darunter auch solche zu den derzeit viel diskutierten Themen Energie- und Umweltpolitik, Erdbebenaktivität oder Architektur. Mit diesen Informationen wird der Leser befähigt, sich ein Bild von einer noch stark im Fluss befindlichen und von tagespolitischen Entscheidungen bestimmten Entwicklung wie der nach Fukushima zu machen.

Alles in allem lohnt es sich daher, die beiden hier besprochenen Bücher im direkten Zusammenhang zu lesen. Allzu oft kommt Japan vor allem gegenüber China in der medialen Berichterstattung zu kurz. Nach der Lektüre dieser Bücher wird klar, dass Deutschland künftig eine ausgewogene Asien-Politik entwickeln muss, die den wichtigsten Akteuren in Asien gleichermaßen gerecht wird.

  • Urs Schoettli: Mehr Indien, weniger China: Deutschland braucht eine neue Asienpolitik. Hamburg: edition Körber-Stiftung 2011, 110 Seiten, 10,00 €
  • Florian Coulmas und Judith Stalpers: Japan: Die 101 wichtigsten Fragen. München: Verlag C.H. Beck 2011, 160 Seiten, 9,95 €
  •  

Prof. Dr. DIRK NABERS lehrt Internationale Politik und Gesellschaft an der Christian-Albrechts-Universität Kiel.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, April 2011, S. 137-139

Teilen

Mehr von den Autoren