IP

01. Juli 2002

Nach den Wahlen in Frankreich

Fünf Jahre lang hat die Kohabitation zwischen einem rechten Präsidenten und einem linken Premierminister die Außenpolitik und insbesondere die Europa-Politik Frankreichs gelähmt. Nun verfügt die Partei von Jacques Chirac über die absolute Mehrheit in der Nationalversammlung und sie könnte, mit gutem Willen, die Probleme in der EU dynamisch angehen.

Nun gibt es keine Ausreden mehr. Fünf Jahre lang hat die Kohabitation zwischen einem rechten Präsidenten und einem linken Premierminister die Außenpolitik und insbesondere die Europa-Politik Frankreichs gelähmt. Nach offiziellem Sprachgebrauch redete Frankreich mit einer einzigen Stimme – aber es sagte so gut wie nichts. Seine Partner wussten nicht, an wen sie sich wenden sollten: an den Präsidenten der Republik, in der Fünften Republik von jeher zuständig für die  Außen- und die Verteidigungspolitik, oder an den Regierungschef, der laut Verfassung den Auftrag hat, „die Politik der Nation festzulegen und zu leiten“.

Diese Epoche ist abgelaufen. Nach einer Wahlprozedur, die sich über zwei Monate hinzog und die am 16. Juni 2002 mit dem zweiten Wahlgang der Parlamentswahlen endete, verfügt Jacques Chirac nun über alle Vollmachten. Zum ersten Mal seit 20 Jahren hat eine einzige Partei die absolute Mehrheit in der Nationalversammlung. Der Premierminister, Jean-Pierre Raffarin, verdankt alles dem Präsidenten der Republik und hat vor allem in der Außenpolitik nichts zu sagen. Der Außenminister, Dominique de Villepin, kommt direkt aus dem Elysée-Palast, wo er der engste Berater von Chirac gewesen ist. Kurzum, alle Voraussetzungen sind erfüllt, damit Frankreich dynamisch handeln kann.

Welches sind nun die Absichten des Staatschefs? Der Wahlkampf brachte in dieser Hinsicht keine Aufklärung. Die Außenpolitik und Europa spielten in der Debatte so gut wie keine Rolle, es sei denn bei sehr provinziellen Anlässen, wie etwa der Eröffnung der Jagdsaison. Chirac hat eine einzige Rede über Europa gehalten, in Straßburg, und dies weniger, um eine Politik vorzustellen, als vielmehr, um die europäische Berufung der Stadt zu bekräftigen.

Es wäre ungerecht zu sagen, dass er gar nichts getan hat. Als er zwischen den beiden Wahlgängen der Parlamentswahlen den deutschen Bundeskanzler, Gerhard Schröder, empfing, präsentierte er die Idee eines „neuen Grundlagenvertrags“ zwischen Frankreich und Deutschland für den Januar 2003,  d.h. zum 40. Jahrestag des Elysée-Vertrags. Dies ist eine Art, um sein Festhalten an der deutsch-französischen Zusammenarbeit zu beweisen, aber es ist eine formelle, wenn nicht künstliche Art. Die deutsch-französische Zusammenarbeit, im Laufe der letzten Jahre an einem toten Punkt angelangt, litt nicht unter dem Mangel an Texten, sondern an dem Fehlen politischen Willens.

Die ersten Initiativen, die die von  Chirac nach seinem Sieg bei den Präsidentschaftswahlen ernannte Regierung angekündigt hat, drohen schwere Konflikte mit den europäischen Instanzen heraufzubeschwören. Die Senkung der Einkommenssteuer um fünf Prozent, die Erhöhung der Ausgaben für das Gesundheitswesen (um den Ärzten im Vorfeld der Wahlen einen Gefallen zu tun) und die angekündigte Erhöhung der Militärausgaben werden das Defizit der öffentlichen Ausgaben vergrößern und die Absicht, den Haushalt bis zum Jahr 2004 auszugleichen, unmöglich machen. Im Übrigen versichert Chirac, sich nicht daran erinnern zu können, beim europäischen Gipfel von Barcelona im März 2002 eine derartige Verpflichtung eingegangen zu sein.

Zankapfel Europa?

Die starrsinnige Ablehnung jeglicher Änderung der Gemeinsamen Agrarpolitik behindert die im März 1999 in Berlin beschlossene Durchführung der Agenda 2000, führt zu einer Erhöhung des Haushalts der Gemeinschaft und damit des deutschen Beitrags oder zu einer Verschiebung der Erweiterung – in beiden Fällen jedenfalls in eine Sackgasse.

Ein weiterer Streit zeichnet sich ab bezüglich der Subsidiarität, einem zentralen Begriff in der politischen Diskussion in Deutschland, der jedoch in Frankreich weitgehend auf Unverständnis stößt. Die Franzosen haben den Eindruck, dass die Subsidiarität, indem sie die Reste der nationalen Politik „vergemeinschaftet“, dazu führt, die gemeinsamen Politiken ihres Inhalts zu berauben, denen sie sich nach wie vor verbunden fühlen, wie zum Beispiel die Außenpolitik.

Es gibt zumindest einen Bereich, über den sich Chirac mit seinen europäischen Kollegen verständigen könnte – und sei es nur, um dem von Valéry Giscard d’Estaing präsidierten Konvent einen Schlag zu versetzen: Indem sie ihre Vorschläge vervielfachen – europäischer Präsident, erneuerter Ministerrat usw. – hätten gewisse Staats- und Regierungschefs der Fünfzehn nichts dagegen, den Mitgliedern des Konvents das Wasser abzugraben und sie vor eine Reihe von vollendeten Tatsachen zu stellen. Anstatt Vorschläge für die kommende intergouvernementale Konferenz zu machen, bliebe dem Konvent nichts anderes übrig, als die im Voraus von den Mitgliedstaaten getroffenen Entscheidungen gutzuheißen. Die Absicht dieser Strategie ist klar: den Führern der Mitgliedstaaten geht es darum, ein gemeinschaftliches Abgleiten einer Mehrheit des Konvents zu verhindern, und zwar zu Gunsten einer Stärkung des Intergouvernementalen.

Doch die Schwarzmalerei sollte nicht übertrieben werden. Für eine Reihe von Entscheidungen benötigen die Staats- und Regierungschefs die Unterstützung des Europäischen Parlaments, das im Konvent sehr gut vertreten ist, genauso, wie der Konvent die Zustimmung des Europäischen Rates braucht, damit seine Vorschläge in die Tat umgesetzt werden können. Es besteht deshalb Grund zu der Hoffnung, dass das Überangebot hier und da dazu beiträgt, die Ausgangspositionen im Hinblick auf einen abschließenden Kompromiss zu stärken.

Ebenfalls zeigt die Erfahrung, dass man nicht zu pessimistisch sein sollte  angesichts der französischen Torheiten im Hinblick auf den europäischen Konsens. Chirac war schon 1995 mit einem Programm in den Elysée-Palast eingezogen, das in weiten Teilen im Widerspruch stand zu den Verpflichtungen, die Frankreich in Maastricht eingegangen war. Im Mai 1995 verkündete er das Ende des „sozialen Bruches“, im Oktober kehrte er aus Bonn gleichsam wie aus Canossa zurück und verkündete eine Wende hin zu einer Politik der finanziellen Strenge. Nachdem die Wahlkampfzeit, die Demagogen jeglicher Art ein Forum geboten hatte, überstanden ist, spricht vieles dafür, dass nunmehr die Realitäten Europas wieder in den Vordergrund treten.

Ob das auch für den Landwirtschaftsbereich gilt? Da steht ein großes Fragezeichen, denn sowohl aus politischen Gründen (das Gewicht der Landwirte bei der französischen Rechten), aus persönlichen Gründen (als Abgeordneter eines ländlichen Wahlkreises hat Chirac seine Karriere als Staatssekretär für die Landwirtschaft begonnen) wie auch aus ideologischen Gründen (die Entscheidung für eine produktive Landwirtschaft) ist der Präsident der Republik ein bedingungsloser Anhänger der Gemeinsamen Agrarpolitik.

Wie schon 1999 könnte dieses Thema zu einem Zankapfel zwischen Frankreich und Deutschland werden.  Um so mehr Grund gibt es, die Lage so schnell wie möglich zu entschärfen, indem man offen und freimütig miteinander spricht, wie zu Zeiten eines François Mitterrand und eines Helmut Kohl, als der Wille zur Verständigung genauso groß war wie das Ausmaß der Meinungsunterschiede. Um dies alles auf einen Punkt zu bringen, nämlich auf den unvermeidlichen Kompromiss, bedarf es keines „neuen Grundlagenvertrags“. Es reicht ein wenig guter Wille.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 7, Juli 2002, S. 60 - 62.

Teilen

Mehr von den Autoren