Nach den Sternen greifen
Technologie
Vom Klettverschluss bis zum Strichcode: Was die Welt der Weltraumforschung verdankt
Die Faszination war schon immer da: die Sterne über uns, das Weltall – wow! Da wird alles andere winzig: der Alltag, die Staatsschulden, der Welthunger. Von jeher hat der Mensch gern himmelwärts geblickt, seine Mythen um Sternbilder gestrickt und handfeste Erklärungen gesucht. Auch wenn solche Tätigkeit manchem, der sie ernsthaft betrieb, sehr schadete; damals, als die Erde eine Scheibe war. Galileo Galilei etwa wurde erst 1992 rehabilitiert – 359 Jahre nach seiner Verurteilung zu lebenslänglichem Hausarrest durch die kirchliche Inquisition.
Diese Gefahr zumindest scheint gebannt. Wiewohl George W. Bushs ultra-christlichen Freunden die Sache mit dem Urknall nicht wirklich schmeckt. Ebenso wenig wie die Evolutionstheorie. Oder der Gedanke, wir – bekanntlich die Krone der Schöpfung – könnten im All nicht allein und einzigartig sein.
Doch natürlich wollen wir wissen, wo wir stehen in dieser Milchstraße, dieser gigantischen Scheibe, an die 100 000 Lichtjahre breit, gefüllt mit etwa 250 Milliarden Sternen. Wir wohnen, soviel steht fest, recht ruhig – sozusagen im Vorort, in Milchstraßen-Suburbia, etwa 26 000 Lichtjahre weg vom Zentrum der Galaxie. Nah genug dran, um eine große Atomvielfalt zu genießen, wie man sie für komplexes Leben braucht. Und doch weit genug weg vom destruktiven Treiben der Supernovae. Eine Toplage.
Es gibt kein kolossaleres Hobby als die Erkundung des Universums. Wie anrührend und sympathisch ist dabei die ruhige, oft demütige Neugier der Astronomen, die Nacht für Nacht geduldig ausharren, ihren Blick endlos schweifen lassen oder scharf fokussieren auf das eine Phänomen, das sie jetzt endlich enträtseln wollen. Pedantisch führen sie Buch, kommunizieren rund um den Globus mit Gleichgesinnten, die immer verwegenere Techniken austüfteln, um noch tiefer in den Kosmos zu dringen, noch ein Geheimnis zu lüften, noch einen Mond, einen Planeten, einen Pulsar, einen Superstern oder ein schwarzes Loch zu entdecken. Wer einmal zwischen den Riesenschüsseln des Very Large Array Radio Telescope gestanden hat, aufgebaut in einem riesigen, viele Kilometer breiten Dreieck in einem schönen Tal New Mexicos, der ahnt die Größe der Aufgabe.
Es ist beeindruckend, was schon alles entdeckt wurde. Wir haben Pioneer, Voyager und Galileo losgeschickt, Cassini, Magellan und den Mars Express, um unser Sonnensystem genauer zu erkunden. Teleskope wie Hubble liefern uns sagenhafte Bilder aus dem All. Die Internationale Raumstation ISS wächst. Wir suchen sogar nach anderem intelligentem Leben.
Oh, wir wissen schon viel. Doch immer wieder knirscht es im Gebälk der großen Theorien, tauchen neue fette Fragezeichen auf. Wer mit ehrlichen Astronomen spricht, erntet spätestens auf die zweite gezielte Nachfrage in der Regel ein Achselzucken, eine wunderhübsche Hypothese oder einen kleinen Scherz. Wenn man sich bei einem Astronomen erkundigt, wann Eta Carinae wohl explodieren wird, sagt der: Bald! In den nächsten 100 000 Jahren! Der Laie erschrickt, wenn er hört, die Andromeda-Galaxie komme uns stündlich 500 000 Kilometer näher. Aber deshalb muss niemand ein Warndreieck herausstellen. Bis zum Zusammenprall haben wir trotzdem noch drei Milliarden Jahre.
Doch so wunderbar faszinierend das ist, was nutzt es der Menschheit?, fragen die kühlen Rechner bohrend. Es mag hübsch sein, sagen sie, zu wissen, woher wir kommen und wohin wir gehen und ob das All sich ausdehnt oder schon kollabiert. Aber das liebe Geld sei doch leider endlicher als das All. Weshalb es sinnlos wäre, weiter Unsummen für monströse Raumfahrtprojekte zu verpulvern.
Nein, es ist das Wesen der Grundlagenforschung, erwidern da die Astronomen, dass eine konkrete Zweckmäßigkeit nicht sogleich erkennbar ist, schon gar nicht in solch kosmischen Dimensionen. Und auch ein mittelbarer wie unmittelbarer Nutzen sei unübersehbar. Nein, nicht die Teflon-Pfanne – um dieses unausrottbare Gerücht ein letztes Mal zu dementieren: Sie ist kein Produkt der Weltraumforschung. Dafür, ohne besondere Rang- und Reihenfolge: die Solarzelle, die Brennstoffzelle, der Klettverschluss, leichtere Stoffe wie Karbon und Kevlar, das Augendruckmessgerät, der Strichcode, der Taschenrechner, der Nierensteinzertrümmerer, die Gefriertrocknung, die spiegelnde UV-Beschichtung für Sonnenbrillen, der Akkubohrer, der Radialreifen und die „unverwüstliche“ PET-Pfandflasche. Lang lebe die Raumfahrt!
Manch Fortschritt ist unverkennbar, vor allem bei der Satellitentechnik, die uns mehr globale Kommunikation und die ganze dumme Vielfalt des Fernsehens bringt, dazu Daten aller Art: in Form von Navigationssystemen wie GPS, von immer akkurateren Wettervorhersagen, von spektakulären Erdbeobachtungen mit neuen Sensoren. Das amerikanische TOMS-System entdeckte das Ozonloch. Der Sensor SCIAMACHY – made in Germany – spürt umweltschädliche Spurengase in der Atmosphäre auf. Satelliten verfolgen minimale Verschiebungen der Erdkruste. Und der 2002 gestartete amerikanisch-deutsche Kleinsatellit GRACE arbeitet an einem präziseren Modell des Erdgravitationsfelds, das mehr verraten soll über das Schmelzen der Pole und das Schwanken der Meeresspiegel. Raumfahrt tut not.
Futuristen schwärmen von noch fernen Möglichkeiten der Rohstoff- und Energiegewinnung. Und wenn wir eines ferneren Tages mal runter müssen von Mutter Erde – weil es zu kalt wird, ein Komet naht, weil wir uns nuklear gestritten oder den Heimatplaneten auf andere Weise final ruiniert haben, brauchen wir Raumfähren für die Reise in eine neue Heimat.
Viel wichtiger aber als alle Sciencefiction-Träume sind bis heute Prestige und Sinnstiftung für Nationen. Europa habe Kathedralen gebaut, sagte einmal ein kluger Mann, die USA seien dafür auf dem Mond gelandet. Auch China strebt heute nicht zuvörderst ins All, weil es seine Tischtennisplatten neu beschichten will (Chinas Raketen mit dem schönen Namen „Langer Marsch“ fliegen übrigens schon seit einem Vierteljahrhundert). Sondern weil es das Ego einer aufstrebenden Weltmacht verlangt.
So weit das All ist, so unschön sind manch nationale Interessen, die sich auf den Weltraum richten. Hauptgefahr: Eine fortschreitende Militarisierung. Schon umschwirren uns geschätzt etwa 800 Militärsatelliten, davon rund 80 Prozent amerikanischer Herkunft. Im Weißen Haus will man den Weltraum jetzt in die nationale Sicherheitsstrategie einbetten. Auch hier muss die Dominanz verteidigt werden. Zumal schon an die 130 Milliarden Dollar für ein weltraumbasiertes Raketenabwehrsystem verfeuert wurden. Schade: Dafür ist immer Geld da.
Internationale Politik 6, Juni 2005, S. 114 - 115.