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01. Apr. 2006

Moralische Doppelzüngigkeit

John Maynard Keynes’ Beobachtungen in Versailles bleiben aktuell

Endlich ist dieses mitreißende, düster funkelnde Werk wieder da: John Maynard Keynes’ 1919 erschienene Streitschrift „Die wirtschaftlichen Folgen des Vertrags von Versailles“ war als Meisterwerk der Prosa in der englischen Welt immer greifbar, in Deutschland aber nicht einmal antiquarisch leicht aufzutreiben. Nun hat sie der Berenberg-Verlag wieder herausgebracht, klug eingeleitet und akzeptabel gekürzt von Dorothea Hauser. Das Buch glüht leidenschaftlich wie am ersten Tag, und voller Schrecken gewahrt man seine ungebrochene Aktualität. Diese betrifft weniger das, was längst Gemeingut der Historie ist, Keynes’ Analyse der ökonomischen Widersinnigkeiten der Versailler Friedensordnung: dass man ein volkreiches Kernland Europas niederhalten wollte, obwohl man doch gigantische Tribute zur Wiedergutmachtung von ihm verlangte; sowie die Fortsetzung der weltwirtschaftlichen Störung nach dem Weltkrieg durch das ungelöste Schuldenproblem sämtlicher Kriegsteilnehmer. Den klinischen Verlauf bis 1929 mit Inflation und Börsenkrach hat Keynes glasklar vorhergesehen.

Wer sich dieser Analyse aussetzt, begreift die kalte Wut eines Fachmanns über die Torheit kurzsichtiger Taktiker und Stimmungspolitiker; dass auf deutscher Seite diese Kritik begierig aufgenommen und propagandistisch verschärft wurde, ändert nichts an ihrer sachlichen Richtigkeit. Die Versailler Bestimmungen blieben in zentralen Punkten unausführbar, weil sie, um ein Bild zu gebrauchen, das Wasser aufwärts fließen lassen wollten. Aus solch ökonomischer Unmöglichkeit entstand eine dauerhafte Unsicherheit im neuen Staatensystem, bis 1932 das ganze Konstrukt der Wiedergutmachung fallengelassen wurde – um den Preis einer nachhaltigen Diskreditierung der internationalen Ordnung.

Damit ist man beim zweiten von Keynes’ Themen, das viel weniger bewusst geblieben ist. Niemanden verfolgt Keynes mit so tiefer Verachtung wie den amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson. Sein bissiges Porträt von Clemenceau ist im Vergleich damit von urbanem Humor und nicht ohne Sympathie für den zynischen alten Haudegen, der nie ohne derbes Schuhwerk und hellgraue Lederhandschuhe in den Verhandlungen auftrat. Doch Wilson ist für Keynes eine Hassfigur, weil er den Frieden moralisch verspielt hat. Und hier liegt die Entdeckung, die zu machen ist: in der nüchternen, dabei leidenschaftlichen Aufmerksamkeit, die der Ökonom den moralischen Faktoren widmet. Ernst weist der noble Brite darauf hin, dass Deutschland im November 1918 auf Grundlage der Wilsonschen „Vierzehn Punkte“ die Waffen niederlegte und mehr noch: sich wehrlos machte. Doch wurde, wie Keynes nachweist, keiner dieser Punkte von der Friedenskonferenz realisiert.

Keynes stellt diesen Vorgang in einem Kabinettstück, das seinesgleichen in aller historischen Literatur sucht, als Seelendrama eines überforderten Frömmlers dar. Der als Heilsbringer gefeierte amerikanische Präsident wird in Paris teils über den Tisch gezogen, teils eingewickelt, den Ränken der Franzosen und Briten ist er hilflos unterlegen. Doch kann der starre, biblisch denkende Mann sich das nicht eingestehen. So ist es am Ende auch nicht mehr möglich, „ihn wieder auszuwickeln“, also ihm eine etwas konziliantere Haltung den Deutschen gegenüber abzugewinnen. Denn um ihm den Verrat seiner eigenen Prinzipien schmackhaft zu machen, war moralische Verteufelung des geschlagenen Gegners nötig gewesen. So stellt Keynes den seelischen Vorgang dar: überzogene Härte aus verdrängter, getäuschter Güte, aus irregeleiteter Moral.

Diese gruselige Seelenschau nimmt vorweg, was sich spiegelverkehrt sogleich und mit unabsehbaren Folgen in Deutschland festsetzte: der Eindruck, moralisch betrogen worden zu sein. Diesen Eindruck kann man als historischen Faktor gar nicht hoch genug einschätzen, auch wenn vieles an ihm hysterisch hochgeputscht war. Schließlich hatten die Invasoren Belgiens und die Urheber des Friedens von Brest-Litowsk wenig Ursache, sich zu entrüsten. Allerdings hatte das Deutsche Reich auch keine „Vierzehn Punkte“ verkündet, und die Enttäuschung in Versailles traf nicht zuletzt auch selbstkritische Deutsche, die auf ein neues Völkerrecht setzten, wie den jüdischen Bankier Melchior, dem Keynes später ein eigenes, berührendes Porträt widmete. Keynes jedenfalls zeigt sich beschämt über das, was auch er als Doppelzüngigkeit seiner eigenen Seite empfand.

Und es kann kein Zweifel daran bestehen, dass die moralische Doppelzüngigkeit, die er so plastisch beschreibt, auf beiden Seiten, bei Siegern und Besiegten, verheerende Folgen hatte: Die besondere Völkerrechtsverachtung, die in Deutschland seit den zwanziger Jahren kultiviert wurde, hat damit zu tun. Und steht nicht die Empfindung, in Versailles etwas falsch gemacht zu haben, auch hinter der verhängnisvollen Schwäche, die die Westmächte Hitler gegenüber zeigten? Man war hart gegenüber der Republik und nachgiebig gegenüber dem Diktator.

Dass nach dem Zweiten Weltkrieg diese Fehler vermieden wurden – auf der wirtschaftlichen und der moralischen Ebene –, ändert nichts an der Brisanz von Keynes Buch. Denn es zeigt, wie heikel es ist, überhaupt allzu explizite moralische Argumente in die internationale Politik einzuführen. Moralische Überheblichkeit und Doppelzüngigkeit verletzen viel mehr als kühle Interessenpolitik. Dass die amerikanische Politik heute so verheerend dasteht, hat vor allem moralische Gründe. Einer Macht, deren Führer unentwegt Gott anrufen, die Freiheit predigen und vom „Bösen“ reden, verzeiht man Verfehlungen besonders wenig, vor allem wenn niemand von Gewicht die Verantwortung dafür übernimmt. So verrutschen die Gewichte insgesamt. Für die Amerikaner war es nur eine Episode, als sie 2003 im Nordirak verbündeten türkischen Soldaten Säcke über den Kopf stülpten – heute ist dieser Vorgang, dessen Ikonographie durch den Kapuzenmann aus Abu Ghraib aufgeladen ist, ein filmtauglicher Mythos. Keynes, der scharfsinnige Ökonom, hatte eine präzise Wahrnehmung für solche scheinbar immateriellen Faktoren.

Denn Keynes war nicht nur scharfsinnig, er besaß Phantasie, jenes Vorstellungsvermögen, das zu Grundausstattung jeder Diplomatie gehören sollte: „Die Wertlosigkeit und Kleinheit des Menschen vor den großen Ereignissen, die Mischung von Wichtigkeit und Unwirklichkeit in den Entscheidungen, Leichtsinn, Blindheit, Unverschämtheit, wirres Geschrei von draußen, alle Elemente der antiken Tragödie waren da. In der Tat, wenn man unter den theatralischen Dekorationen der französischen Staatszimmer saß, konnte man fragen, ob die außerordentlichen Gesichter Wilsons und Clemenceaus mit ihrer gefrorenen Farbe und ihrem unveränderlichen Ausdruck überhaupt Menschengesichter waren und nicht die tragikomischen Masken irgendeines seltsamen Dramas oder Puppenspiels.“ Wo ist der Autor, der uns unser Drama schildern könnte?

Dr. GUSTAV SEIBT, geb. 1959, Historiker und Literaturkritiker, ist Autor der Süddeutschen Zeitung. Seine jüngsten Buchpublikationen sind: „Rom oder Tod“ (2001), „Rudolf Bochardts Leben von ihm selbst erzählt“ (Hrsg., 2002) und „Canaletto im Bahnhofsviertel“ (2005).

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, April 2006, S. 104 - 105

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