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01. Juli 2014

Moldaus langer Weg nach Westen

Zwischen Russland und EU: Eindrücke aus einem eingeklemmten Land

Über zwei Jahrzehnte nach Erlangung der Unabhängigkeit strebt die Republik Moldau Richtung Westen. Doch weit vorangekommen ist man auf diesem Weg bislang nicht. Kann das Land zum europäischen Wohlstands- und Freiheitsniveau aufschließen? Wird Moskau die ehemalige Sowjetrepublik gehen lassen? Oder droht ein Krim-Szenario? Ein Reisebericht.

„Russland kennt keine Grenzen mehr“, erklärt uns der führende moldauische Politiker. Beim Hinausgehen bittet er die Vorzimmerdame um eine Landkarte der Schwarzmeer-Region. „Hier und hier und hier“, fährt er mit dem Finger über die Karte, das sei es, was Putin wolle: Kontrolle über die gesamte nördliche Schwarzmeer-Küste, über den Süden der Ukraine und die Krim bis hinunter zur rumänischen Grenze, den Süden Moldaus eingeschlossen. Eine Einschätzung, die viele der Politiker, Diplomaten und Beobachter teilen, die wir in Chisinau, der Hauptstadt von Moldau, treffen. Russland wird sich, so die herrschende Auffassung, nicht mit der Annexion der Krim zufriedengeben. Nicht nur in der Ukraine, auch im benachbarten Moldau wird der Kremlherr testen, wie seine Chancen stehen, Kontrolle über Länder der ehemaligen Sowjetunion zurückzugewinnen, die in Richtung Westen streben.

Und seine Chancen stehen gar nicht schlecht. Denn wie die Ukraine ist auch Moldau nicht weit gekommen auf dem Weg zu einem stabilen und prosperierenden Staat. Die Frustration ist groß. Wirtschaftlich ist das Land weitgehend stehengeblieben, seit die Sowjetrepublik im Jahre 1991 ein eigenständiger Staat wurde. „Zwei Jahrzehnte Unabhängigkeit und nichts ist passiert“, mit diesem Satz begrüßt uns unser Fahrer, ein ehemaliger Militär. Ein Satz, den wir immer wieder hören werden in diesen Tagen. Moldau ist eines der ärmsten Länder Europas, mit einem BIP pro Kopf in Höhe von 3600 Dollar pro Jahr, irgendwo zwischen Indien und dem Sudan (zum Vergleich Deutschland: 40 000 Dollar). Dass dazu geschätzte 40 Prozent Schattenökonomie kommen, macht die Sache nur unwesentlich besser.

Dahin gehen, wo die Arbeit ist  

Da die Arbeit nicht nach Moldau kommt, müssen die Moldauer dahin gehen, wo Arbeit ist, legal oder illegal. Ein Viertel der 3,6 Millionen Moldauer lebt und arbeitet entweder in Russland oder in der EU. Die von den Arbeitsmigranten zurückfließenden Gelder sind eine der Haupteinkünfte des Landes, sie machen mindestens ein Fünftel des BIP aus. Was jedoch keine Statistik verzeichnet, ist der emotionale Preis der Arbeitsmigration: Zerrissene Familien, Verfall lokaler Gemeinschaften. Im Human Development Index der Vereinten Nationen steht Moldau auf Rang 113.

Die Wirtschaft des Landes bleibt agrarisch geprägt, Wein und Obst sind eine wichtige Einkommensgrundlage. Nicht weniger als die Hälfte der Exporte stammt aus landwirtschaftlicher Produktion. So langsam kommt eine Industrieproduktion in Gang, unter anderem mit einem sich entwickelnden IT-Sektor. Doch die Investitionshindernisse sind vielfältig. Auf dem Korruptionsindex von Transparency International für 2013 steht Moldau auf Rang 102, auf dem „Doing Business“-Index der Weltbank auf Rang 78.

Kein Wunder, dass die ausländischen Direktinvestitionen im Jahr 2012 gerade einmal 159 Millionen Dollar betrugen (2011 waren es noch 281 Millionen). Als wir einen hochrangigen Politiker fragen, was Moldau denn tun könne, wenn Russland die Arbeitsmigranten zurückschicken sollte – als Strafe für die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU –, präsentiert er uns sogleich einen Plan für große In­frastrukturprojekte. Finanzieren soll den Plan: die EU. Plan statt Markt.

Wenn es um Wirtschaft geht, ist Energie das vorherrschende Thema der Gespräche. Der Gaspreis ist einer der wichtigsten Hebel Moskaus, um das Land zu bestrafen oder an sich zu binden. Während der Herrschaft der proeuropäischen Koalition seit 2009 hat sich der Gaspreis mehr als vervierfacht, auf annähernd 400 Dollar pro Barrel. Derzeit wird der Gaspreis auf Druck Moskaus jedes Jahr neu verhandelt, mit immer neuen Unsicherheiten für Chisinau.

Als Moldau sich 2012 entschloss, das Dritte Energiepaket der EU zu übernehmen, bei dem es um die Entflechtung von Produktion, Transport und Distribution bei Erdgas geht, bot die russische Seite an, im Gegenzug für eine Nichtübernahme dieser Maßnahmen den Gaspreis massiv und dauerhaft zu senken. Chisinau lehnte ab und zahlt seither einen hohen Gaspreis für den Weg nach Westen.

Ein kommunistischer Parlamentsabgeordneter rechnet uns vor, dass fast vier Fünftel seines Einkommens für die Nebenkosten seiner Wohnung draufgingen. Wenn Moldau dagegen der Zollunion beitrete – also der Vorstufe von Putins Eurasischer Union –, dann werde es weitaus weniger für Erdgas zahlen müssen. Der Gaspreis ist das Hauptargument, das der Abgeordnete gegen das EU-Assoziierungsabkommen ins Feld führt. Wenn die Kommunisten die Wahlen im Herbst gewinnen sollten, so erzählt er uns, würden sie das Abkommen nicht umsetzen. Über die Annexion der Krim und Russlands Destabilisierung der Ostukraine dagegen möchte der Abgeordnete nicht mit uns sprechen: Bei diesen Themen sei er „kein Experte“.

Die Übersetzerin des Abgeordneten erzählt uns anschließend, dass ihre Eltern kürzlich von Chisinau nach Transnistrien gezogen seien, wo sie ursprünglich herkamen. Der Hauptgrund dafür seien aber nicht nostalgische Gefühle gewesen, sondern die erheblich niedrigeren Kosten für Energie in dieser russisch kontrollierten Zone. Das Geschäftsmodell Transnistriens, einer an die Ukraine angrenzenden, nach einem kurzen Krieg mit Russland 1992 abgespaltenen Region, beruht in der Tat auf billigem Gas aus Russland.

Vergleichsweise bunt

Wir haben das Glück, eine Einladung der – international nicht anerkannten – Regierung Transnistriens erhalten zu haben. Als wir nach einer Stunde Fahrt die drei Checkpoints hinter uns gelassen haben – moldauisch, russisch, transnistrisch – und nach Tiraspol ­hineinfahren, sind wir überrascht: Die Stadt sieht vergleichsweise aufgeräumt und bunt aus, weniger grau und düster als die Vorstädte Chisinaus.

Geld ist hier vorhanden; das Pro- Kopf-Einkommen ist ein wenig höher als in Moldau (auch wenn angesichts der enormen Schattenwirtschaft alle Zahlen mit großer Vorsicht zu genießen sind). Empfangen werden wir von einem Regierungsvertreter, einem jungenhaft wirkenden Mann um die 30, der anderswo vielleicht Vorstandsassistent wäre. Er rechnet uns sein Dilemma vor: 40 Prozent der Industrieproduktion Transnistriens gehen in die EU, ein Großteil davon sind Textilien. Die Industrie spielt seit Sowjetzeiten eine viel größere Rolle als in Moldau; der Umfang der landwirtschaftlichen Produktion ist dagegen marginal.

Wenn Assoziierungs- und Freihandelsabkommen mit der EU Wirklichkeit werden sollten, dann, befürchtet der Regierungsvertreter, sei der EU-Handel Transnistriens massiv bedroht. Sein Land brauche dringend einen „Spezialmechanismus“, um in die Abkommen integriert zu werden. Versuche, mit der EU ins Gespräch zu kommen, blieben bislang unerwidert (und es mag mit diesem Kommunikations-bedürfnis zusammenhängen, dass wir als Abgesandte eines Brüsseler Think-Tanks hier empfangen werden).

Auf der anderen Seite macht Transnistrien keine Anstalten, sich aus dem Schatten Moskaus zu befreien. Die Region hat 2006 um Anschluss an Russland gebeten und diesen Wunsch kürzlich wiederholt. An diesem Punkt bleibt unser Gesprächspartner vage: „Ja“ zur Russischen Föderation, der Zollunion mit Moskau möchte man beitreten, zugleich aber auch ein „Ja“ zu einer UN-Mitgliedschaft. All das passt nicht zusammen. Es entsteht der Eindruck, dass Transnistrien eigenständige Staatlichkeit bevorzugen würde, wenn es wählen könnte. Angesichts der Abhängigkeit von Russland jedoch kann man es sich nicht leisten, eine eigene Position zu beziehen.

Und diese Abhängigkeit ist umfassend. Moskau nutzt militärische Mittel und Erdgas, um die abgespaltene Region mit ihren rund 550 000 Einwohnern zu kontrollieren. 1200 russische Soldaten sind in Transnistrien stationiert, ein Teil davon als so genannte Friedenstruppen. Billige Gaspreise subventionieren die Industrie indirekt und erhöhen damit ihre Wettbewerbsfähigkeit auch auf westlichen Märkten. Trotzdem sinkt der Anteil der Indus­trie an der Wirtschaftsleistung, von 43 Prozent 2002 auf 30 Prozent 2012; auch die Exporte sind im Sinkflug begriffen. Zugleich, hört man, wird das Staatsbudget massiv subventioniert durch kostenloses Gas, das Tiraspol einträglich weiterverkaufen kann.

Fünfte Kolonne des Kreml?

Transnistrien ist einer der vielen Hebel, den Moskau gegen Moldaus Drang nach Westen einsetzen kann. Ein anderer ist Gagausien, eine Region im Süden des Landes mit rund 150 000 Einwohnern. Gagausen sind türkischstämmig, in Glaubensfragen aber russisch-orthodox. Gagausien hat, wie Transnistrien, nach dem Zerfall der Sowjetunion Unabhängigkeit angestrebt; die Region besitzt seit 1994 einen autonomen Status innerhalb Moldaus. In einem – nicht offiziell anerkannten – Referendum haben die Gagausen sich für einen Anschluss an Moskaus Zollunion ausgesprochen.

Viele Beobachter sehen Gagausien als eine Art fünfte Kolonne des Kreml – jederzeit aktivierbar, um Unruhe zu stiften und Zwischenfälle zu provozieren, die dann dem Kreml als Vorwand nützen könnten, um militärisch einzugreifen. Zugleich aber ist das gespannte Verhältnis zwischen der Zentralregierung und Gagausien auch ein Beispiel für das Versagen des Staates, einen umfassenden Begriff von Bürgerschaft Wirklichkeit werden zu lassen und damit das Land resistenter gegen russische Interventionen zu machen. Unser Gesprächspartner, ein führender Politiker, nickt zustimmend, als wir ihm diese Überlegungen präsentieren. Dass Gagausien nicht stärker in den moldauischen Staat integriert wurde, sei eines der „größten Versagen“ seines Landes.

Auch von anderen hören wir, dass sich die Politik viel zu wenig um das Fünftel der Bevölkerung gekümmert habe, das vorwiegend russisch spricht und sich kulturell wie politisch nach Russland orientiert. In diesen Milieus beziehe man seine Informationen und sein Weltbild vom Propagandaapparat des Kreml, vor allem über das Fernsehen. Man erzählt uns auch, dass Moskau seinen Einfluss in diesen Kreisen und Regionen ausweite. Angeblich sind zahlreiche NGOs von Russland gegründet worden, wir hören von „massiven Aktivitäten“ des Kreml im prorussischen Milieu.

„Binnen Stunden“ könne Moskau ein Szenario schaffen wie auf der Krim, meint ein ehemaliger Militär, der jetzt für einen Think Tank arbeitet. Zugleich versichert er uns, das Land habe ausreichend Kapazitäten, um einem Angriff standzuhalten. 75 oder 80 Prozent der Bevölkerung sprechen vorwiegend die Landessprache Rumänisch (offiziell Moldauisch genannt). Rumänien, zu dem Moldau bis 1940 gehörte, versteht sich als Schutzmacht der rumänischsprachigen Mehrheit und hat diesen Anspruch mit der großzügigen Ausgabe von Pässen untermauert. Der rumänische Präsident Traian Basescu hat wiederholt wissen lassen, er sei offen für ein Anschlussersuchen Moldaus.

Ein westlicher Diplomat schildert uns denn auch ein Szenario, demzufolge die Aufspaltung Moldaus zwischen Russland und Rumänien wahrscheinlich sei. Szenarien werden allerdings viele diskutiert in diesen Zeiten. Nicht wenige Beobachter glauben schlicht an eine Fortsetzung der Politik des Durchwurschtelns. Diese Region hat schon viele Herrscher gesehen: Osmanen, Rumänen, Russen. Geschichte ist hier geduldig; man ist daran gewöhnt, ihr Objekt zu sein. Zwischen den großen Mächten tut sich so manche Nische auf, wenn man sich nur geschickt anstellt und die Möglichkeiten nutzt, die die Ambitionen der Großen den Kleinen ­eröffnen.

Angesichts der geopolitischen Großwetterlage allerdings schrumpft der Raum zwischen der EU und Russland zusammen. Je konfrontativer das Verhältnis zwischen Ost und West, desto schwieriger das Leben in jenen Regionen, die mit beiden Seiten intensiv verbunden sind. Für die Mehrheit im Land jedoch ist die Westbindung der Schlüssel, nach über zwei Jahrzehnten Eigenstaatlichkeit endlich an das Wohlstands- und Freiheitsniveau der EU anzuschließen.

Die Kommunisten haben die EU-Annäherung gestartet; die derzeitige Koalition hat sie weiter vorangetrieben. Doch Moskau will das Land nicht gehen lassen. Der Kreml zieht es vor, über eine Puffer­zone zwischen EU und Russland zu verfügen, die westliche Einflüsse vom eigenen Machtbereich möglichst fern halten. Denn würden Ukraine und Moldau sich in prosperierende, gefestigte Demokratien verwandeln, dann würde der Druck auf Moskau steigen, sich dem westlichen Modell anzunähern.

Dr. Ulrich Speck ist Visiting Scholar bei Carnegie Europe in Brüssel.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2014, S. 84-88

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