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01. Nov. 2013

Modell vorm Zerfall

Warum es uns nicht gleichgültig sein darf, was in Syrien geschieht

Erst nach dem Chemiewaffenangriff bei Damaskus hat die internationale Gemeinschaft begonnen, einen gemeinsamen Ansatz zum Umgang mit dem Bürgerkrieg in Syrien zu suchen. Dabei zeigte sich, wie sehr Diplomatie und internationale Politik ein Spiel auf mehreren Ebenen sind, bei dem die Inszenierung oft mehr Aufmerksamkeit erhält als die Substanz.

Was im Frühjahr 2011 als ursprünglich friedlicher Aufstand gegen ein diktatorisches Regime begann, wurde über die folgenden zweieinhalb Jahre zu einem blutigen Bürgerkrieg, der bis zum Chemiewaffenangriff auf die Vororte von Damaskus am 21. August 2013 bereits mehr als 100 000 Tote gefordert hatte. Zudem ist aus dem innersyrischen Machtkampf immer mehr auch ein regionaler Kampf um Syrien geworden, an dem sich wichtige Regionalstaaten – allen voran der Iran, die Türkei, Saudi-Arabien und Katar – durch aktive Unterstützung des Regimes oder bestimmter Oppositionskräfte beteiligen. Gleichzeitig wird aber auch das regionale Umfeld Syriens destabilisiert: Der Libanon, Jordanien und die Türkei haben Hunderttausende syrischer Flüchtlinge aufgenommen. Vor allem aber hat der Krieg in Syrien eine konfessionelle, sunnitisch-schiitische Polarisierung befördert, die den gesamten Nahen und Mittleren Osten zu erfassen scheint. Dies gilt ungeachtet der Tatsache, dass bei den wichtigsten regionalen Akteuren geopolitische Motive im Vordergrund stehen: Hier geht es etwa um die Reichweite des Iran in die Levante, die Teheran zu erhalten versucht, die Riad und andere arabische Akteure aber zurückdrängen wollen, und um den Einfluss regionaler Staaten in Damaskus nach dem – von allen Seiten erwarteten – Ende des Assad-Regimes.

Die internationale Gemeinschaft verzettelte sich bald in ratlose, unkoordinierte und halbherzige Bemühungen, den Konflikt zu managen oder einzudämmen. Russland entschied sich früh dazu, das Regime von Baschar al-Assad zu unterstützen, nicht nur, um einen seiner wenigen Verbündeten im Nahen Osten, einen wichtigen Kunden russischer Rüstungsproduktion und den privilegierten Zugang zum Mittelmeer-Hafen Tartous nicht zu verlieren, sondern zweifellos auch aus Furcht vor radikalislamistischen Elementen auf Seiten der syrischen Rebellen und der Gefahr eines Überschwappens islamistisch geprägter Revolutionen auf den Kaukasus und Zentralasien. Die meisten westlichen Staaten stellten sich auf den Standpunkt, dass Assad seine Legitimität verloren habe, nachdem er von Anfang an eine militärische Niederschlagung der Proteste angestrebt hatte und seine Panzer, Flugzeuge und Raketen gnadenlos gegen die Zivilbevölkerung einsetzte. Deshalb bekannten sich die meisten westlichen Staaten zu einer Unterstützung der Opposition. Dazu gehörten auch Bemühungen, die zivile Opposition zu einigen und die aus desertierten Soldaten und Bürgermilizen zusammengewürfelte Freie Syrische Armee (FSA) beim Aufbau einheitlicher Strukturen zu unterstützen. Bei Waffenlieferungen und anderen Formen der militärischen Unterstützung hielten sich aber sowohl die EU-Staaten wie die USA entweder weitgehend oder vollständig zurück. Selbst in Frankreich und Großbritannien, die eine Lockerung des EU-Waffenembargos durchsetzten, um militärische Lieferungen prinzipiell zu ermöglichen, überwog die Sorge, dass Waffen an die „Falschen“, nämlich in die Hände dschihadistischer Gruppen, gelangen könnten. Und sie gewannen tatsächlich an Stärke, je länger der Bürgerkrieg andauerte, weil sie mit reichlich Hilfe aus den arabischen Golf-Staaten unterstützt wurden und sehr viel besser ausgestattet waren als die demokratischen oder moderaten Gruppen.

Da Russland und China eine von den westlichen Staaten geforderte Verurteilung Syriens im UN-Sicherheitsrat oder gar einen Beschluss über Strafmaßnahmen verhinderten, verblieb als Minimalkonsens der internationalen Gemeinschaft eine sehr zurückhaltende Unterstützung des gemeinsamen Syrien-Beauftragten der Vereinten Nationen und der Arabischen Liga, Lakhdar Brahimi. Angesichts der Eskalation des Krieges einigten sich die Außenminister der USA und Russlands, John Kerry und Sergej Lawrow, im Frühjahr 2013 darauf, gemeinsam dafür zu sorgen, dass eine Friedenskonferenz („Genf II“) unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen mit Beteiligung der syrischen Regierung und der Opposition stattfinden werde. Der ursprünglich für Juni vorgesehene Termin wurde allerdings so lange verschoben, bis andere Themen – der Putsch in Ägypten und der Asyl­antrag eines gewissen Edward Snowden – die internationale wie auch die amerikanisch-russische Agenda bestimmten.

Unterdessen machten syrische Regierungstruppen auch dank des direkten Eingreifens der libanesischen Hisbollah einige wichtige Geländegewinne. Russland und der Iran unterstützen das Regime weiter politisch und materiell; die USA begannen mit der Lieferung leichter Waffen an die Rebellen, trainierten auch einzelne FSA-Einheiten und ermutigten vor allem die Golf-Monarchen, der FSA mit Geld und Waffen zu helfen. Den USA ging es dabei allerdings, anders als Saudi-Arabien, nicht um einen militärischen Sieg der Opposition, sondern darum, eine gewisse Balance auf dem Schlachtfeld zu erreichen, um beide Seiten gesprächsbereit zu machen. Weitergehende Forderungen aus dem US-Kongress oder von regionalen Verbündeten, wie etwa die nach Einrichtung einer Flugverbotszone über Syrien, lehnte Präsident Barack Obama strikt ab.
Obama hatte bereits im Vorjahr, am 20. August 2012, eine zwar nicht sehr präzise, aber klar sichtbare „rote Linie“ gezogen: Er habe bislang kein militärisches Engagement angeordnet, ein Chemiewaffeneinsatz größeren Umfangs („a whole bunch of chemical weapons moving around or being utilized“) würde sein Kalkül aber ändern und „enorme Konsequenzen“ haben. Dabei wurde auch klar, dass Obama diese Linie nicht zog, um ein militärisches Eingreifen der USA vorzubereiten, sondern um genau dies zu verhindern. Letztlich galt für die USA wie für andere größere und mittlere Mächte außerhalb der Region, dass der Krieg in Syrien je nach Standpunkt eine humanitäre Katastrophe, ein politischer Skandal, eine Niederlage für das Prinzip der Schutzverantwortung oder ein moralisches Dilemma war, die eigenen Interessen aber nicht genug berührte, um internationalen Bemühungen um eine Beilegung des Konflikts höchste Priorität einzuräumen oder gar eine militärische Intervention zu rechtfertigen. Humanitäre Hilfe ließ sich organisieren, aber eindeutige und überzeugende Antworten auf die Frage, wie denn ein Ende des Blutvergießens durchzusetzen wäre, gab es nicht.

Afghanistan und Irak hatten zudem gelehrt, dass selbst überlegene Machtprojektion keine Garantie für die tragfähige Rekonstruktion politisch-sozialer Verhältnisse in anderen Ländern ist. Waren die USA und andere westliche Staaten vor wenigen Jahren noch wegen ihrer Machbarkeitshybris gescholten worden, mussten sie nun erleben, dass regionale Akteure nach robusten internationalen Maßnahmen riefen, die Amerikaner und Europäer aber nicht zu ergreifen bereit waren. Selbst Moskau war eher darauf bedacht, westliche Initiativen zu vereiteln als eigene zu lancieren. Hier und da hieß es auch, dass es vielleicht nicht so falsch sei, den syrischen Bürgerkrieg sich selbst zu überlassen. Bekämpften sich mit dem ­Assad-Regime und den islamistischen Rebellen nicht doch nur zwei unterschiedliche Sorten von „bad guys“?

Eine Frage der internationalen Ordnung

Der Chemiewaffeneinsatz vom 21. August 2013, bei dem in den Vororten von Damaskus über 1400 Menschen getötet wurden, hob den Konflikt auf eine andere Ebene. Plötzlich wurde Syrien ein Thema, das sich international nicht mehr ignorieren ließ. Jetzt ging es nicht mehr allein um einen regionalisierten Bürgerkrieg, sondern um die Gültigkeit einer internationalen Norm, eben die Ächtung des Einsatzes von Chemiewaffen, und um die Glaubwürdigkeit einer vom Präsidenten der USA ausgesprochenen Drohung. Zu Recht. Denn wenn ein gezielter und massiver Einsatz von Chemiewaffen keinerlei Konsequenzen nach sich ziehen würde, könnten jeder Kriegsherr und jede Bürgerkriegspartei, nicht nur in Syrien, dies als Freibrief zum Einsatz von Massenvernichtungswaffen verstehen. Und wenn die immer noch stärkste Weltmacht es zuließe, dass eine von ihr gezogene rote Linie folgenlos überschritten wird, dann würden amerikanische Drohungen – das Kernelement jeglicher Abschreckung – und Sicherheitsgarantien der USA auch anderen internationalen Akteuren gegenüber an Wert verlieren. Was praktisch einer Ermutigung potenzieller Störer der internationalen Ordnung gleichkäme, die Glaubwürdigkeit solcher Linien und Garantien nicht nur zu bezweifeln, sondern aktiv zu testen – mit entsprechenden Auswirkungen auf volatile Konfliktkonstellationen auch an anderen Stellen des internationalen Systems. Kein Wunder, dass diese Perspektive selbst in Peking Beunruhigung auslöst.

„Konsequenzen“ mussten dabei entgegen der Verengung, die die Debatte in London, Paris und Washington zunächst erfuhr, nicht notwendig militärischer Natur sein. Wer die Ächtung des Chemiewaffeneinsatzes aufrechterhalten wollte, musste allerdings dafür eintreten, dass ein solcher Einsatz spürbare Folgen haben würde, die – zumindest – von Wiederholungen eines solchen Kriegsverbrechens abschrecken würden. Einige Kommentatoren haben richtigerweise darauf hingewiesen, dass ein Richtungswechsel der Moskauer oder Teheraner Syrien-Politik oder wirksame Strafmaßnahmen des Sicherheitsrats in Syrien sehr viel mehr Wirkung entfalten könnten als ein begrenzter und weitgehend symbolischer Militärschlag. Zunächst allerdings wurden fast ausschließlich militärische Maßnahmen diskutiert, bis klar wurde, dass es dafür in Großbritannien und in den USA an innenpolitischer Unterstützung mangelte.

Was es für die politische und strategische Kultur europäischer Staaten heißt, wenn ein britischer Premier einen Teil seiner exekutiven Vollmachten ans Parlament überträgt und dann aufgrund einer selbst verschuldeten parlamentarischen Niederlage die bereits angekündigte Beteiligung seines Landes an einer Militäraktion absagt, ist nicht nur von politikwissenschaftlichem Interesse, soll aber an dieser Stelle nicht behandelt werden. Auch die Entscheidung Obamas, den Kongress um Zustimmung zu einem amerikanischen Militärschlag zu bitten, anstatt, wie einige europäische Verbündete rieten, den Bericht der UN-Chemiewaffeninspekteure abzuwarten, um darauf gestützt mit sehr viel größerer internationaler Legitimität zunächst in den Sicherheitsrat zu gehen, gehört in ein anderes Kapitel. Unabhängig davon vermittelten Obama und sein Team ihren internationalen Partnern, vor allem im Nahen Osten und in Europa, ein ungewohntes Bild von Rat- und Richtungslosigkeit. Nicht Obamas explizit betonte Präferenz für diplomatische Lösungen und schon gar nicht sein Unwille, Amerika in neue militärische Abenteuer zu stürzen, waren dabei das Problem. Andere, gegenläufige Präferenzen wären weit problematischer. Dass Obama allerdings seine Verantwortung in weltpolitisch entscheidenden Fragen an einen von parochialen ­innenpolitischen Motiven bestimmten Kongress zu delegieren bereit zu sein schien, kam tatsächlich einer (Selbst-)„Demontage der Ordnungsmacht Amerika“ (Hanns W. Maull) nah.

Diplomatische Dynamik

Für das Geschehen in Syrien selbst und in dessen regionaler Umgebung ist unmittelbar interessanter, was die enorme diplomatische Dynamik, die sich in den ersten beiden Septemberwochen entwickelte, letztlich bewirkte. Die Frage, ob Kerry sich bei seiner Pressekonferenz in London versprochen oder unbedacht geäußert hat, ob Lawrow, indem er Kerrys Bemerkung aufgriff, den USA in den Arm fiel, der Supermacht ein Bein stellte oder doch eher einen Ball aufnahm, mögen Historiker beantworten. Sicher ist, dass der Eindruck entstand, das Team Putin/Lawrow habe zumindest eine Partie gegen das Team Obama/Kerry gewonnen. Einige russische Kommentatoren haben das auch ganz genüsslich so ausgedrückt. Dies allerdings ist eher die Inszenierung. In der Substanz zeigen sich andere Elemente, die für die weitere Entwicklung im Nahen Osten, aber auch darüber hinaus, von Bedeutung sind.

1. Die Idee, Syrien zur Abgabe seiner Chemiewaffen zu zwingen, lag in der Luft. Sie war offenbar beim G-8-Gipfel in St. Petersburg und auch früher schon zwischen amerikanischen und russischen Diplomaten ventiliert worden. Interessanterweise stellte der amerikanische Journalist Charlie Rose sie sogar dem syrischen Präsidenten Baschar al-Assad in einem am 10. September 2013 ausgestrahlten Interview: „The question then is would you give up chemical weapons if it would prevent the president from authorizing a strike?“ Assad ließ die Frage unbeantwortet und gab lediglich zurück, der Journalist unterstelle mal wieder, dass Syrien Chemiewaffen habe.1

2. Die russische Führung zeigte in der Tat diplomatische Initiative, und die Obama-Regierung griff diese Initiative gern auf. Russland machte dem syrischen Regime offenbar unmissverständlich klar, dass es diese Initiative akzeptieren müsse, wenn es einen amerikanischen Angriff vermeiden wolle. Moskau übernahm damit Verantwortung, ja Eigentümerschaft an einem politischen Prozess, nämlich der gemeinsamen Ausarbeitung eines Fahrplans zur Chemiewaffenabrüstung in Syrien. Damit zeigte Russland erstmals seit Beginn des syrischen Bürgerkriegs auch, dass es tatsächlich Einfluss in Damaskus hat.

Hier beginnen allerdings auch die Schwierigkeiten des Zwei-Ebenen-Spiels: Denn selbst wenn das Team Putin sich zugutehält, beim Poker mit Obama die USA von einem Militärschlag abgehalten zu haben, muss es sich nun, um im Bild zu bleiben, beim Backgammon mit dem syrischen Regime beweisen und sicherstellen, dass Syrien sich dem Abkommen entsprechend verhält. Wenn Assad in den kommenden Monaten sichtbar nicht kooperiert, würde das eher Russland als die USA bloßstellen.

3. Syrien hat sich unter Druck bewegt. Allen Erklärungen Assads und seiner Propagandisten zum Trotz, dass Syrien einen begrenzten amerikanischen Schlag nicht fürchte, „auf jede Möglichkeit vorbereitet sei“ und reagieren werde,2 hat Damaskus angesichts der Drohung, entweder einen amerikanischen Militärschlag oder den Verlust russischer Unterstützung gewärtigen zu müssen, die gemeinsamen Forderungen der USA und Russlands in Rekordzeit akzeptiert. Sicher, Assad ist damit einem Militärschlag, der Teile seines militärischen Potenzials zerstört hätte, entgangen. Vielleicht hat er auch, wie es in vielen Kommentaren hieß, Zeit gewonnen. Und zweifellos sollte niemand erwarten, dass das Regime tatsächlich nach der ersten Deklaration seines Chemiewaffenpotenzials vollumfänglich mit einer internationalen Mission zur Sicherung und Zerstörung dieser Waffen und der entsprechenden Produktionsanlagen kooperiert. Wahrscheinlicher ist, dass das Regime Teile der Chemiewaffen verstecken und die Sicherstellung und Vernichtung seiner Bestände verzögern und hintertreiben wird.
Ein Sieg für Assad also? Nicht wirklich, oder allenfalls ein Etappenerfolg. Denn das rasche Einlenken des syrischen Regimes bewies auch, wie schwach es ist, sobald es ernsthaften internationalen Druck und ernsthafte Drohungen gibt. Dies spricht zumindest dafür, die Drohung mit Militärschlägen und die verstärkte amerikanische Flottenpräsenz im Mittelmeer aufrechtzuerhalten.

4. Ungeachtet der ausstehenden Implementierung des amerikanisch-russischen Plans, ungeachtet auch der verbleibenden Differenzen über das Vorgehen im Sicherheitsrat, haben die USA und Russland die internationale Ächtung von Chemiewaffen zunächst einmal gestärkt: Das Verbrechen des Chemiewaffeneinsatzes in Syrien lässt sich zwar nicht ungeschehen machen. Die russisch-amerikanische Einigung, dass Syrien seine Chemiewaffen abgeben muss, hat aber ein Prinzip verankert, das über Syrien hinausreicht: dass nämlich, wer Chemiewaffen einsetzt, sie verliert.3

Man könnte dies einen Punktsieg für die Festigung internationaler Normen nennen. Für Moskau birgt die amerikanisch-russische Vereinbarung neben der genannten Verantwortung, nun auch die syrische Kooperation sicherzustellen, eine Chance zu zeigen, dass Russland tatsächlich ein wichtiger Pol in der ­multipolaren Welt ist und auch im Nahen Osten etwas zu sagen hat. Für die USA und die Europäer hieße dies, Russland auch bei erneuten Bemühungen, andere Konflikte im Nahen Osten beizulegen, wieder stärker einzubinden.

Die Herausforderung der Gleichzeitigkeit

Ist also alles gut? Vielleicht, könnte man sagen, wenn da nicht noch der syrische Bürgerkrieg wäre. Denn das ambitionierte Programm einer vollständigen Erfassung, Sicherung und Zerstörung der syrischen Chemiewaffen wird nicht möglich sein, solange ein blutiger Bürgerkrieg tobt. Vermutlich wäre dies auch ohne Bürgerkrieg nicht möglich, solange Assad an der Macht ist, dem kaum ernsthaftes Interesse unterstellt werden kann, ein Element seiner militärischen Überlegenheit vollständig abzubauen. Nachdem die unmittelbare Gefahr eines Militärschlags abgewendet war, hat sich das Assad-Regime ermutigt gesehen, den Krieg gegen seine Gegner mit allen konventionellen Waffen fortzusetzen – die Flugzeuge und Raketenwerfer, die man kurzzeitig versteckt hatte, ließen sich wieder hervorholen und einsetzen. Natürlich fühlten sich die Oppositionskräfte, insbesondere diejenigen, die für ein demokratisches Syrien kämpfen, hintergangen. Immerhin hatte die FSA klare Signale bekommen, dass es amerikanische Militärschläge geben werde; offenbar waren auch Zeitfenster kommuniziert worden, die die Rebellen ihrerseits hätten nutzen können. Nicht zum ersten Mal haben westliche Staaten durch ihre Ankündigungen bei der Opposition Erwartungen ausgelöst, die dann nicht erfüllt wurden. Solche Glaubwürdigkeitsverluste des Westens stärken die radikalislamischen Kräfte, die in den westlichen Demokratien ohnehin nur den Feind sehen, selbst aber demonstrieren können, dass es dem „wahren Dschihad“ nicht einmal an Munition fehlt.

Aus all diesen Gründen müsste nun der amerikanisch-russische Rahmenplan zur Erfassung, Sicherung und Zerstörung der syrischen Chemiewaffen mit einer international unterstützten Initiative zur politischen Konfliktlösung verknüpft werden. Hoffnungen auf die Möglichkeit eines konsekutiven Vor­gehens – erst kümmern wir uns um die Chemiewaffen, dann um den eigent­lichen Konflikt im Land – wären trügerisch; beide Prozesse müssen gleich­zeitig vorangetrieben werden. Schon mit Blick auf die Sicherheitslage braucht es für die vorgesehenen Aktivitäten internationaler Chemiewaffeninspekteure einen Waffenstillstand.4 Selbst eine nur zwischen Regimearmee und FSA vereinbarte Waffenruhe, die die Frontlinien erst einmal einfrieren würde, könnte dann humanitäre Hilfe, die Rückkehr eines Teils der Flüchtlinge und erste materielle und administrative Wiederaufbaumaßnahmen ermöglichen. Schon dies würde die dschihadistischen, mit Al-Kaida verbündeten Elemente ­schwächen.

Das Nachgeben Assads bei den Chemiewaffen, dessen Ernsthaftigkeit noch zu testen sein wird, und die relative Einigkeit der internationalen Gemeinschaft in dieser Frage öffnen zudem eine kleine Chance, um endlich mittels der lang geplanten „Genf II“-Konferenz einen inneren Friedens- und Übergangsprozess einzuleiten und Syrien auf eine neue und tragfähige politische Grundlage zu stellen. Zu den Kernpunkten der von Lakhdar Brahimi vorgelegten Prinzipien eines solchen Prozesses5 gehören direkte, international unterstützte Verhandlungen zwischen einer zivil-militärischen Delegation der Damaszener Regierung und einem repräsentativen Team der Opposition sowie die Bildung einer Übergangsregierung mit vollen exekutiven Vollmachten – was eben auch bedeutet, dass Baschar al-Assad, selbst wenn er formal weiter als Präsident amtiert, de facto keine exekutive Rolle mehr spielen wird.

In der US-Regierung ist man ziemlich pessimistisch, dass es überhaupt gelingt, die Konfliktparteien zu ernsthaften Verhandlungen an einen Tisch zu bringen. Selbst Russland, die USA, Iran, Saudi-Arabien oder andere externe Unterstützer des syrischen Regimes beziehungsweise der Opposition können das Gelingen einer solchen Konferenz nicht garantieren; allenfalls können sie die Voraussetzungen dafür verbessern. Dazu müssten sie ihren jeweiligen Klienten vor allem unmissverständlich klar machen, dass ein verhandelter politischer Übergang angesagt ist und es von ihrer Seite keine Unterstützung (mehr) für eine militärische Lösung gibt. Zu den Erfolgsbedingungen gehört auch, einflussreiche regionale Akteure wie Saudi-Arabien und Iran in die Konflikt­lösungsbemühungen einzubeziehen. In Teheran hat offensichtlich ein Umdenken begonnen: Man will zwar Syrien als regionalen Alliierten behalten, plant aber auch für eine Zukunft nach Assad.

Man muss davon ausgehen, dass das syrische Regime nicht ernsthaft verhandeln wird – immerhin über ein neues politisches System –, solange es glaubt, militärisch siegen zu können, und dass die Rebellen es ablehnen werden, sich mit Regimevertretern zusammenzusetzen, die ihnen allenfalls die Kooptation einzelner „akzeptabler“ Vertreter anbieten. Ohne eine gewisse Balance der Schwäche, ohne ein beidseitig „schmerzhaftes Patt“ (William Zartman) werden Bürgerkriege nicht durch Verhandlungen beendet. Eine Unterstützung der demokratischen Opposition, auch und gerade bei der Vorbereitung von Verhandlungen, bleibt deshalb notwendig.

Auch ein in Genf oder vorher verhandelter Waffenstillstand wird nicht von selbst halten. In einer Übergangsphase wird deshalb die Entsendung einer arabischen oder gemischten (UN/Arabische Liga) Friedensmission notwendig sein. Zu deren Aufgaben sollte nicht nur die Trennung der Konfliktparteien, sondern mittelfristig auch Hilfe bei der Wiederzusammenführung von Einheiten der regulären Armee und der FSA im Rahmen einer tiefgreifenden Reform des Sicherheitssektors gehören.

Natürlich ist das Risiko hoch, dass eine solche Synchronisierung der beiden Prozesse – Chemiewaffenabrüstung und politische Transition – misslingt. Nur sollten Russland, die USA, Europa und regionale Akteure sich im Klaren sein, dass dann auch die vorgesehene Abrüstung der syrischen Chemiewaffen praktisch undurchführbar wird. Gleichzeitig würde der Bürgerkrieg weitergehen. Eine Fragmentierung oder „Somalisierung“ Syriens, vor der Brahimi bereits im Januar 2013 im Sicherheitsrat warnte, wäre mehr als nur ein plausibles Szenario, wobei nicht zu erwarten ist, dass Syrien einfach in seine Einzelteile zerfiele, ohne dass dies weitere Wirkungen entfaltete. Ein Staatszerfall Syriens dürfte vielmehr die regionale Ordnung in Frage stellen, und zwar in zweierlei Hinsicht: geopolitisch, weil damit Grenzen verändert werden dürften, die nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und des Osmanischen Reiches im Nahen Osten gezogen wurden. Aber auch politisch-kulturell: Denn wenn Syrien in diverse ethnisch oder konfessionell definierte Gebiete zerfällt, würde das Konzept des multiethnischen und multikonfessionellen Staates im Nahen Osten insgesamt zerstört.6 Schon deshalb kann der gelegentlich in die Debatte geworfene Vorschlag, den Syrien-Konflikt einfach „ausbrennen“ zu lassen, für Europa keine Option sein.

Prof. Dr. 
Volker Perthes 
ist Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2013, S. 8-16

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