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01. Juli 2004

Die neue Zentralität des Nahen und Mittleren Ostens

Konsequenzen für Wissenschaft und Politik

Alles deutet darauf hin, dass der Nahe und Mittlere Osten in den kommenden Jahrzehnten im Zentrum
internationaler geopolitischer Ordnungsbemühungen und Auseinandersetzungen stehen
und damit auch die europäisch-amerikanischen Beziehungen weitgehend definieren wird. Volker
Perthes untersucht die sich daraus ergebenden Konsequenzen für Wissenschaft und Politik.

Der deutsche Bundeskanzler und der amerikanische
Präsident haben den Nahen und Mittleren Osten ins Zentrum
ihres „deutsch-amerikanischen Bündnisses für
das 21. Jahrhundert“ gestellt; der NATO- und der
G-8-Gipfel im Juni beschäftigten sich vor allem mit den
noch embryonalen transatlantischen Plänen für einen
„weiteren“ Mittleren Osten. All dies unterstreicht,
wie sehr der Nahe und Mittlere Osten in den kommenden Jahren,
wenn nicht Jahrzehnten, im Zentrum internationaler
geopolitischer Ordnungsbemühungen und Auseinandersetzungen
stehen und damit auch europäisch-amerikanische Beziehungen
weitgehend definieren wird.

Auch wenn die Grenzen der Region nicht präzise bestimmt
sind – in jedem Fall reden wir von Nordafrika, von den
Mashrek-Staaten (Israel und Nachbarn), vom Persischen Golf und
von der arabischen Halbinsel sowie von Afghanistan – wird
Nah- und Mittelost-Politik in vielerlei Hinsicht so wichtig
werden wie der Umgang mit Mittel- und Osteuropa in Zeiten des
Kalten Krieges. Dies wird das Interesse für die Region in
der Öffentlichkeit beeinflussen und neue Anforderungen an
die politischen Institutionen, die sich mit Deutschlands
Beziehungen zu seiner internationalen Umwelt beschäftigen,
wie auch an die Wissenschaft mit sich bringen.

Wissenschaftler, die spezifische Regionen bearbeiten, werden
es begrüßen, wenn das öffentliche Interesse
für Länder zunimmt, über die sie forschen
– selbst wenn ihnen vielleicht nicht gefällt, dass
„ihre“ Region noch stärker als früher zum
Objekt internationaler Politik wird. Bücher zum Nahen und
Mittleren Osten verkaufen sich schon seit einiger Zeit besser,
und die Zahl der Studenten, die orientalische Sprachen,
Islamwissenschaften oder Politik, Gesellschaft und Wirtschaft
der arabisch-nahöstlichen Welt studieren wollen, steigt.
Professoren und andere Wissenschaftler, die sich in diesen
Bereichen tummeln, sollten sich allerdings darüber im
Klaren sein, dass sie zunehmend und anhaltend Konkurrenz
bekommen werden. Die neue Zentralität des Nahen und
Mittleren Ostens als Spielfeld internationaler Politik bedeutet
eben auch, dass jeder Frisör und jeder
Bundestagsabgeordnete, der auf sich hält, jeder
stellvertretende Chefredakteur und jeder berufene oder
unberufene außenpolitische Berater irgendwie auch zum
Nahostexperten wird oder zumindest Definitives zum Thema zu
sagen hat. Regionalkenntnisse werden dabei hilfreich, aber
genauso wenig Voraussetzung sein wie früher bei
Diskussionen um westliche Strategien gegenüber der
Sowjetunion.

Wissenschaft

Für die Wissenschaft und die
Wissenschaftsbürokratie heißt das zweierlei.
Erstens: Wissenschaftler, die sich durch solide Kenntnis der
Kultur, der Sprachen, der Geschichte und Politik oder der
Gesellschaften des Nahen und Mittleren Ostens auszeichnen,
sollten nicht anfangen, der Politik ihre Kompetenz
abzusprechen, wenn diese ohne die „richtigen“
Kenntnisse nahöstlicher Verhältnisse zu handeln
beansprucht, sondern selbst dazuzulernen. Wenn die Region zum
zentralen außenpolitischen Gegenstand wird, muss die
Regionalwissenschaft mehr von Außen- und
Sicherheitspolitik verstehen: Wenn Fachleute für den
arabisch-nahöstlichen Raum zukünftig nicht wissen,
wie außenpolitische Zuständigkeiten im
europäischen Rahmen verteilt sind oder welche Rolle die
NATO im Mittelmeer spielt, werden sie kaum erwarten
können, die Deutungshoheit über nah- und
mittelöstliche Verhältnisse zu behalten oder in
Konkurrenz mit außenpolitischen Generalisten gar zu
erreichen.

Zweitens werden die Universitäten die Relevanz der
Region allmählich begreifen müssen; sie hinken der
Politik in dieser Hinsicht um Meilen hinterher. Sicher werden
wir in Deutschland nie an den amerikanischen Standard
herankommen, wo es in nahezu jeder respektablen
Universität ein Middle East Center mit mindestens einem
Lehrstuhl für Politik oder internationale Beziehungen
gibt. Das muss auch nicht unbedingt so sein. An deutschen
Universitäten ist der gegenwartsbezogene,
sozialwissenschaftliche Blick in die Region aber nach wie vor
ein Stiefkind. Tatsächlich gibt es in Deutschland zwei
Lehrstühle, die sich explizit um die Politik des modernen
vorderen Orients kümmern sollen. Auf einem der beiden, in
Erlangen, sitzt ein Historiker, was insofern gut ist, als auch
in der Lehre der modernen Geschichte der Region ein
großer Mangel herrscht: Die Universität der Hanse-
und Handelsstadt Hamburg hat einen entsprechenden Lehrstuhl vor
kurzem eingemottet.

Den zweiten dieser Lehrstühle gibt es an der Berliner
Freien Universität. Hier existierte bis vor zwei Jahren
tatsächlich so etwas wie ein interdisziplinäres
Zentrum für eine auf die Region bezogene Ausbildung, wo
interessierte Studierende bei den Orientalisten und
Islamwissenschaftlern herein hören, gleichzeitig aber
Abschlüsse in Wirtschafts- oder Politikwissenschaften
machen konnten. Der Lehrstuhl für die Wirtschaft des
Vorderen Orients wurde nicht wieder besetzt; den für die
Politik hat man nach Emeritierung seines Inhabers für ein
Jahr unbesetzt gelassen, um ihn nun in degradierter Form
– aus der C4- soll eine C3-Professur werden – neu
auszuschreiben. Auch dafür wird es genug Bewerber geben,
wenngleich nicht unbedingt aus der ersten Reihe. Potenzielle
Arbeitgeber in den vielen Institutionen, die deutsche
Außenpolitik mit beeinflussen oder gestalten, werden die
Abwertung des Ausbildungsangebots in diesem Feld verkraften;
schließlich finden sich auch deutsche
Nachwuchskräfte, die ihren Abschluss in
Großbritannien oder Frankreich gemacht haben. Sollte
nicht aber gerade in der Hauptstadt eine universitäre
Ausbildung stattfinden, die die Nähe zur
außenpolitischen Schaltzentrale, zum Parlament oder auch
zu den ausländischen Botschaften nutzt und den sich
wandelnden fachlichen Bedürfnissen der Außenpolitik
Rechnung trägt?

Politik

Nicht dass Politik und Administration nicht auch ihre
Prioritäten überdenken müssten. Dabei geht es
nicht nur darum, dass man im Auswärtigen Amt oder im
Entwicklungsministerium, bei den politischen Stiftungen, bei
außenpolitischen Instituten oder im Bundestag mehr nah-
und mittelöstliche Regionalkompetenz gebrauchen
könnte. Die meisten dieser Institutionen haben dies sehr
wohl erkannt. Wichtiger dürfte hier sein, dass die
zunehmende Bedeutung der arabischen Welt und des Mittleren
Ostens sich auch in der Qualität des Personals und im
Wert, den man Nahostpositionen in diesen Institutionen gibt,
spiegelt. Kurz: Wenn es denn richtig ist, dass der Nahe und
Mittlere Osten weltpolitische Gestaltungsbemühungen und
die Beziehungen zu unseren wichtigsten Verbündeten auf
Jahre hinaus dominieren wird, dann gehören eben die besten
Leute in die entsprechenden Funktionen, in der Zentrale genauso
wie im Ausland. Die Zeit, da man Botschafterposten im Nahen und
Mittleren Osten gern mit Diplomaten besetzte, für die
andernorts keine Verwendung bestand – Ausnahmen gab es
hier, vielleicht sollte das ausdrücklich gesagt werden,
natürlich immer – muss endgültig vorbei sein.
Tatsächlich hat es, seit Joschka Fischer das
Auswärtige Amt leitet, in dieser Hinsicht zumindest an der
Spitze des Hauses ein strategisches Umdenken gegeben: Einige
wichtige Posten in der Region und in den entsprechenden
Referaten und Unterabteilungen am Werderschen Markt sind mit
exzellenten Leuten besetzt worden; Vertrauenspositionen in der
Umgebung des Ministers sind mit Leuten besetzt worden, die ein
Verständnis für die Komplexitäten der Region und
nicht selten auch nahöstliche oder arabische Erfahrung
mitbringen. Auch das neu geschaffene Referat für den
Dialog mit dem Islam scheint sich trotz der fürchterlichen
Namensgebung (nicht „der Islam“, sondern
individuelle Muslime oder eben muslimisch geprägte
Gesellschaften sind hier die Dialogpartner) zu einer
Erfolgsgeschichte zu entwickeln.

Auch die politischen Stiftungen, die Goethe-Institute und
der Deutsche Akademische Austauschdienst machen oftmals mit
relativ wenig Mitteln sehr gute Arbeit in Nordafrika und im
Nahen und Mittleren Osten. Manche der Stiftungszentralen haben
erkannt, dass die Region auf längere Zeit im Zentrum der
weltpolitischen Aufmerksamkeit stehen wird. Die grüne
Heinrich-Böll-Stiftung etwa verstärkt ihre
Aktivitäten im arabischen Nahen Osten durch die
Eröffnung einer Niederlassung in Beirut; die liberale
Friedrich-Naumann-Stiftung plant ein neues Büro in
Algerien. Fraglich ist allerdings, ob die Zentralen all dieser
Institutionen die Regionalexpertise, über die sie
verfügen, auch adäquat nutzen. Eine
Beschäftigung in Nordafrika oder im Nahen Osten gilt
häufig als Liebhaberei, nicht als wichtiger Schritt auf
der hausinternen Karriereleiter. Tatsächlich sind die
Erfahrungen, die durch die langjährige Zusammenarbeit
dieser Einrichtungen mit lokalen gesellschaftlichen und
politischen Gruppen erworben worden sind und täglich
erworben werden, ein wichtiger Baustein des „besseren
Regionalverständnisses“, dessen die deutsche (und
die europäische) Außenpolitik sich im Vergleich zur
amerikanischen gerne rühmt. Um sicherheits-, wirtschafts-
oder kulturpolitische Strategien gegenüber der Region zu
entwickeln, die nicht nur auf guten, sondern auch auf empirisch
fundierten Absichten basieren, wird man diese Kenntnisse
pflegen und ausbauen müssen.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 7, Juli 2004, S. 49-52

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