Unterm Radar

02. Sep 2024

Migration: Die USA machen dicht

In Honduras und anderen Ländern Mittelamerikas gehören Armut und Gewalt zum Alltag. Seit Jahrzehnten wandern deshalb viele Menschen in die USA aus. Doch nun will Washington die Migration abwürgen. Das stellt die Region vor ein Dilemma.

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Bild: Migranten stellBild: Migranten stellen sich in Lukewill, Arizona den Mitarbeitern der U.S. Border Patrol.
Flucht aus dem Elend: Migranten stellen sich in Lukewill, Arizona den Mitarbeitern der U.S. Border Patrol, nachdem sie zuvor die Grenze zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten überwunden haben.
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Es gibt viele Gründe, aus Honduras zu fliehen: Taxiunternehmer Germán konnte die Schutzgelder der Mafia nicht mehr bezahlen. Dayana (16 Jahre) wurde von ihrem Stiefvater missbraucht. Umweltschützer Ramiro durchkreuzte Landgrabbing einer Immobilienfirma und überlebte ein Attentat nur knapp. Evelyn ist Waise, im November 2020 zerstörten die Wirbelstürme Eta und Iota ihre Hütte, vernichteten Felder und überschwemmten Nähfabriken. „Ich hatte kein Zuhause mehr, keine Arbeit und nichts zu essen“, schildert sie auf der Durchreise in Mexiko. Verkäuferin Nicolle (27) flieht zusammen mit drei kleinen Kindern vor ihrem rachsüchtigen Exfreund, einem brutalen Bandenchef, der den Vater ihres jüngsten Sohnes ermordete. Ich treffe sie in Guatemala, kurz bevor sie ein illegales Floß über den Grenzfluss Suchiate besteigt.  

Ihre Geschichten erzählen von Armut, Gewalt, Katastrophen, Korruption. Sie sind Spiegel­bild eines Staates, der weder Fortschritt noch Sicherheit garantiert; 64 Prozent der Bevölkerung leben in Armut.

Honduras ist das einzige nichtafrikanische Land unter den zehn am wenigsten beachteten Flüchtlingskrisen, die der Norwegische Flüchtlingsrat (NRC) jedes Jahr auflistet. In El Salvador und Guatemala sieht es nicht viel besser aus. „Fast einer von drei Menschen im nördlichen Mittelamerika benötigt dringend Hilfe“, schreibt der NRC. 

Schon seit Jahrzehnten ist die Auswanderung in die USA für viele der letzte Strohhalm. Doch im Zuge der Globalisierung, die vor allem die Jobs der Mittel- und Unterschicht in den USA zerstörte, hat sich eine ausländerfeindliche Stimmung breit gemacht und die US-Regierungen haben die Hürden für Einwanderer immer höher gesetzt. Die realen und bürokratischen Mauern, die Populisten wie Donald Trump als Lösung verkaufen und US-Demokraten hinter Bürokratiemonstern verstecken, sind in Wirklichkeit Symptom einer globalen Systemkrise, die nun auch in den Industrieländern spürbar ist. 

In Mittelamerika hingegen besteht sie schon seit Langem. In den 1990er Jahren gab es Hoffnung, die Region könne das schwere Erbe aus Kolonialismus, Diktaturen und Bürgerkriegen hinter sich lassen. Doch die landwirtschaftlich geprägten Nachtisch-Ökonomien (mit den Hauptexportprodukten Kaffee, Zucker und Bananen) waren global nicht wettbewerbsfähig. 2006 unterzeichneten die Regierungen Mittelamerikas einen Freihandelsvertrag mit den USA; man glaubte, sich so schneller industrialisieren zu können. Das funktionierte mehr schlecht als recht für das Industrieland Mexiko, das mit dem 1994 unterzeichneten ­NAFTA-Freihandelsvertrag regional Vorreiter war. Mittelamerika hingegen war dafür zu weit weg, politisch zu instabil, mit einer miserablen Infrastruktur, teuren Energiekosten, einer korrupten Bürokratie, mit Sicherheitsproblemen und einer nur rudimentär ausgebildeten Bevölkerung. 

Dann deportierten die USA nach Ende der Bürgerkriege gleich noch Hunderte straffällig gewordener Jugendlicher in ihre mittelamerikanischen Heimatländer – und legten damit den Grundstein für die später so gefürchteten kriminellen Jugendbanden, die die jungen Demokratien destabilisierten.

Attraktiv wurde der Standort Mittelamerika nur für ein paar US-Fertigungsindustrien, insbesondere, wenn diese Zollbefreiungen bekamen (Freihandelszonen) oder entwicklungspolitisch begründete Subventionen in den USA, wie die Textilindustrie. So wurden ein paar tausend Billiglohn-Arbeitsplätze geschaffen; der Staat hatte davon wenig. Gleichzeitig ging die heimische Landwirtschaft bankrott. Die mittelamerikanischen Kleinbauern waren nicht wettbewerbsfähig gegenüber den subventionierten US-Agrarindustrie-Importen.

Doch was tun mit einer rasch wachsenden, jungen Bevölkerung? Im wertkonservativen Honduras lag noch im Jahr 2000 die Geburtenrate bei 4,36 Kindern pro Frau. Die Antwort hieß Migration. Sie nutzte sowohl den US-amerikanischen als auch den mittelamerikanischen Eliten: Die ersten bekamen billige, rechtlose (da meist illegale) Arbeitskräfte, die zweiten hatten ein Ventil, um die Forderungen nach sozialen Reformen umzuleiten. 


Wichtige Rücküberweisungen

Der Export von Menschen war ein lukratives Geschäftsmodell: Ihre Banken, Supermärkte und Privatschulen schöpften einen Großteil der Rücküberweisungen der Ausgewanderten wieder ab. Diese Zahlungen machen inzwischen 20 bis 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der drei nördlichen Länder Mittelamerikas aus. 

Der Staat blieb dabei stets unterfinanziert. Die Steuerquote in Mittelamerika gehört zu den niedrigsten in Lateinamerika. In Honduras beträgt sie 19,2 Prozent des BIP, in Guatemala gar nur 12,2 (in Deutschland liegt sie bei 40,9 Prozent). Das ist zu wenig, um ein halbwegs funktionierendes Bildungs- und Gesundheitssystem zu unterhalten. Zumal ein beträchtlicher Teil des Staatshaushalts in einen klientelistischen Bürokratieapparat fließt – und in den Unterhalt einer repressiven Polizei- und Militärtruppe. 

Letzteres wird mit der hohen Gewaltkriminalität gerechtfertigt. Mittelamerika gehört zu den Regionen mit den höchsten Mordraten weltweit; in Honduras wurden voriges Jahr 31 von 100 000 Einwohnern ermordet. Opfer sind vor allem die Armen. Sie werden von den kriminellen Banden um Schutzgelder erpresst, ihre Kinder zwangsrekrutiert und von der Polizei kriminalisiert und weggesperrt – wenn sie nicht rechtzeitig abhauen. 

Doch nun machen die USA dicht. Und zugleich wollen immer mehr Flüchtlinge in die USA. Sie kommen mittlerweile aus der ganzen Welt – einer Welt voller Ausbeutung, Kriege, Umweltzerstörung. Die Menschen dort werden umworben von international vernetzten Schlepperorganisa­tionen, die Migration mit Marketingkampagnen aktiv fördern und Milliarden daran verdienen.

Das hat die Dynamik verändert, analysiert der US-Think­tank Washington Office on Latin America: „In Honduras finden wir vier Arten von Migration: Honduraner, die auswandern, intern vertriebene Bürger (fast eine Viertelmillion), honduranische Staatsbürger, die abgeschoben werden, und internationale Migranten, die das Land durchqueren.“ Im Jahr 2023 kamen über 400 000 Flüchtlinge durch den Darién-Dschungel, der gefährlichen Landbrücke zwischen Süd- und Mittelamerika. 

Die USA machen Druck auf ihre Nachbarn, um die Migranten aufzuhalten, bevor sie die US-Südgrenze erreichen. Die Länder im sogenannten „­Hinterhof“ ­kooperieren – doch jedes auf seine Art, die das Problem in der Regel nicht löst, sondern den Nachbarn aufbürdet. 

Die Polizei in Guatemala beispielsweise hat sich darauf spezialisiert, Migrantenkarawanen mit Gewalt aufzulösen. Panamas Grenzschützer fangen sie am Ausgang des Darién ab, registrieren sie, setzen sie dann kostenpflichtig in Busse und fahren sie bis zur costa-ricanischen Grenze. Honduras hingegen lässt die Flüchtlinge weitgehend un­behelligt – aber auch ohne jegliche humanitäre Versorgung – durchs Land ziehen. 

El Salvador erhebt eine Transitsteuer von 1130 US-Dollar für Angehörige aus 56 Ländern. Der rechtspopulistische Machthaber Nayib Bukele füllt so ein bisschen die leeren Staatskassen und erkauft sich Wohlwollen: Zuletzt war die US-Regierung auffallend zurückhaltend mit Kritik an den antidemokratischen Zuständen. Das wiegt die Autokraten in Sicherheit. Es scheint, sie haben wenig zu befürchten, solange sie bei Schlüsselthemen wie Migration und Drogenbekämpfung mit Washington kooperieren. 

Doch alle wissen: Die ­Steuer ist Augenwischerei. Sie wird von den Schleppern eingepreist und gilt ohnehin nur für wenige Staatsangehörige. Venezolaner, Kubaner und Haitianer umgehen El Salvador auf alternativen Routen; Mittelamerikaner müssen Steuern und Abschiebungen nicht fürchten – sie genießen Freizügigkeit in der Region.


Nicaragua als Migranten-Hub

Ein anderer Autokrat, Daniel Ortega in Nicaragua, zieht indessen mit seiner Migrationspolitik bewusst den Zorn der USA auf sich. Er hat Managua in einen Migranten-Hub für Flüchtlinge aus der ganzen Welt verwandelt, die dort ihre Reise gen Norden beginnen. Offenbar will er so Wa­shington zu einer Lockerung der Wirtschaftssanktionen zwingen. Das Beispiel zeigt zwei Dinge: Migration ist zur politischen Waffe geworden, aber einer, die stumpfer wird, je weiter man von den USA entfernt ist. 

 Noch stammen drei Viertel der Migranten auf der Amerika-Route aus der Region. Um ihre Abwanderung zu stoppen, bräuchte es umfassende Reformen und eine Art Marshallplan, um tragfähige Wirtschaftsstrukturen aufzubauen und eine neokoloniale Gesellschaft aufzubrechen, die auf der Basis von Korruption, Repression und Ausbeutung die Privilegien einiger weniger zementiert. Das ist angesichts des Trends zum Autoritarismus in der Region weniger denn je in Sicht.

Dieser Artikel ist in der gedruckten Version unter dem Titel „Die USA machen dicht" erschienen.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2024, S. 12-14

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Sandra Weiss

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Sandra Weiß ist freie Korrespondentin in Lateinamerika, u.a. für die ZEIT, NZZ am Sonntag, Geo, Tagesspiegel, den Schweizer Rundfunk und die Deutsche Welle.

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