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01. Nov. 2005

Merkels Mission

Die außenpolitischen Vorstellungen der neuen Kanzlerin

Sie gilt als fachlich versiert, verfügt über ein breites internationales Netzwerk und ist nicht auf außenpolitische Einflüsterungen angewiesen: Angela Merkel stützt sich auf starke Überzeugungen, vor allem in Fragen der transatlantischen Partnerschaft und der Europäischen Union. Dennoch wird sie auch Konflikten mit den Partnern nicht ausweichen.

Aus der Schulzeit von Angela Merkel ist eine Geschichte überliefert, die einiges über den Politikstil der designierten Bundeskanzlerin aussagt. Im Schwimmunterricht stand sie auf dem Dreimeterbrett, doch der Weg ins Wasser erschien ihr wie ein unüberwindlicher Abgrund. Merkel stand da und wartete, 45 Minuten lang. Erst als die Glocke läutete, sprang sie ins Wasser. Schnelle Entscheidungen liebt die CDU-Chefin nicht, das räumt sie selbst ein. Sie hält Positionen möglichst lange offen, sammelt so viele Informationen wie möglich, wartet ab, wie sich die Meinungsströme im Land und in ihrer Partei sortieren. Wenn eine so kontrollierte Politikerin wie sie vorprescht, sich frühzeitig an die Spitze einer Debatte setzt und damit heftigen Widerstand riskiert, muss bei ihr starke Überzeugung am Werk sein. In der Innenpolitik steht dafür der Streit um die Einführung der vom Lohn abgekoppelten Gesundheitsprämie, den sie auf dem Leipziger CDU-Parteitag durchsetzte – gegen die bis heute anhaltenden Bedenken von Sozialpolitikern der Union.

In der Außenpolitik, wo ja Taktieren und Finassieren zur hohen Schule der Diplomatie gehören, ging sie ein noch weit größeres Wagnis ein. Entgegen der herrschenden öffentlichen Meinung distanzierte sich Angela Merkel in der Washington Post vom 20. Februar 2003 unter dem Titel „Schröder spricht nicht für alle Deutschen“ von der Irak-Politik der Bundesregierung. „Ein aus Wahlkampfmotiven eingeschlagener deutscher Sonderweg wischt die wichtigste Lehre deutscher Politik – nie wieder Sonderweg – scheinbar mühelos beiseite“, argumentierte sie. Als CSU-Chef Edmund Stoiber kurz vor dem Irak-Krieg kurzzeitig sogar die Überflugrechte der Amerikaner in Frage stellte, blieb Merkel ihrem eigenen Sonderweg treu. Die letzte Fristsetzung der amerikanischen Regierung gegenüber Saddam Hussein begrüßte Merkel „mit allen Konsequenzen, die dieses Ultimatum enthält“. Nach Ausbruch des Krieges im März 2003 stand für sie „außer Frage, dass die CDU in der Aus-einandersetzung der alliierten Streitkräfte mit dem irakischen Diktator Saddam Hussein nicht neutral sein kann, sondern an der Seite der USA und ihrer Verbündeten stehen muss“.

Kriegstreiberin, Erfüllungsgehilfin?

Eine Annäherung an die Außenpolitik Angela Merkels kommt an diesem Schlüsselereignis nicht vorbei. Die CDU-Chefin sprang in den Abgrund, obwohl es innenpolitisch durchaus Spielraum zum Abwarten und Lavieren gegeben hätte. Warum nahm sie das hohe Risiko in Kauf, als Kriegstreiberin geziehen und als Erfüllungsgehilfin des amerikanischen Präsidenten George W. Bush abgestempelt zu werden? Wieso galt ihr der transatlantische Schulterschluss mehr als der Zorn so vieler potenzieller Wähler? Merkel-Biograf Gerd Langguth vermutet, dass ihre Position stark autobiografisch geprägt ist. 36 Jahre lang lebte Angela Merkel in der DDR, nicht in offener Opposition, wohl aber in tiefer innerer Abneigung gegen das SED-Regime. Sie sieht „die USA als ein Gegenbild zur traurigen Welt des Kommunismus und dürfte von daher prinzipiell proamerikanisch eingestellt sein – wie viele andere mittel- und osteuropäische Politiker.“1 Andere, etwa der für Außenpolitik zuständige Unions-Fraktionsvize Wolfgang Schäuble, halten den Anteil der Kindheit und Jugend an Merkels politischer Prägung für deutlich überschätzt. Nach dieser Theorie wurden die Grundüberzeugungen Merkels nach ihrem Eintritt in die Politik geprägt. Seitdem wehrt sie sich gerade wegen ihrer Herkunft aus dem Osten vehement dagegen, den Stempel einer Politikerin mit begrenztem regionalen Aktionsradius aufgedrückt zu bekommen. Seit 1990 erhebt sie den Anspruch, eine gesamtdeutsche Politikerin zu sein, nimmt daher auch die Staatsraison der alten Bundesrepublik in ihre Argumentation auf.

Entscheidend ist, dass beide Begründungsstränge in der Krisensituation vor dem Irak-Krieg zum gleichen Ergebnis führten. Der Autobiografische: Als in Hamburg geborene Tochter eines Pfarrers, der noch 1954 freiwillig auf die andere Seite des Eisernen Vorhangs übersiedelte, entwickelte sie eine starke Sehnsucht nach dem Westen, dem aus ihrer Sicht besseren Teil des getrennten Deutschlands. Nach dem Bau der Mauer träumte sie mit ihrer Mutter davon, dereinst einmal wieder im Hamburger Hotel Atlantic Austern essen zu gehen. Noch stärker als die Bundesrepublik galt ihr die USA als Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Zu den ersten persönlichen Erfahrungen der Jungpolitikerin Angela Merkel gehörte, dass sich US-Präsident George Bush sen. in der Wendezeit (im Gegensatz zum Franzosen François Mitterrand) als verlässlicher Garant der deutschen Einheit erwies. Amerika hat gegenüber den Deutschen sein Wort gehalten. Das lässt bei Merkel bis heute den Gedanken daran, Beziehungen etwa zu China oder Russland könnten mit dem trans-atlantischen Verhältnis gleichwertig sein, erst gar nicht aufkommen. Aber auch die Beschäftigung mit den Gründungsmythen der Bundesrepublik stützt Merkels Blick auf die USA als „America the beautiful“. Die von Konrad Adenauer geprägte, von Erhard, Kiesinger, Brandt, Schmidt und Kohl letztlich fortgesetzte, von Gerhard Schröder aber in Frage gestellte Staatsraison einer transatlantischen Sonderbeziehung hat sie gleich doppelt verinnerlicht. Angela Merkel ist treffend als „Musterschülerin“ des vereinigten Deutschlands bezeichnet worden.2 Ihre fehlende bundesrepublikanische Sozialisation, die ihr angesichts des Mangels parteiinterner Netzwerke immer wieder schmerzlich bewusst wird, kompensiert sie dadurch, dass sie politische Begründungen mehr als andere Parteifreunde an den Begriffen aus der Anfangszeit der West-CDU festmacht. In ihrer Wirtschaftspolitik knüpft sie mit den Schlüsselbegriffen von den „zweiten“ Gründerjahren und der „neuen“ sozialen Marktwirtschaft argumentativ an die Erfolgsgeschichte der vom „rheinischen“ Kapitalismus geprägten alten Bundesrepublik an.

Transatlantische Stolpersteine

Auch in ihrer Außenpolitik hat Merkels Bemühen um die Bewahrung des transatlantischen Tafelsilbers seine Bewährungsprobe bestanden. Sie argumentiert „im Namen der Väter“, der von der Union gestellten Kanzler: Von Konrad Adenauer hat sie die Grundsätze der Westbindung und der europäischen Integration Deutschlands übernommen. Bei ihrem Förderer Helmut Kohl ging sie vor allem europapolitisch in die Lehre. Der Maastricht-Vertrag sowie die Entscheidungen für die Osterweiterung und die Einführung des Euro fielen in Kohls und damit auch in ihre eigenen Regierungsjahre. In Eu-ropa sieht Merkel die Deutschen in einer Rolle als Motor und Mittler. Über den Atlantik hinweg erhofft sie sich für Berlin eine Brückenfunktion.

„Wir beleben die transatlantische Zusammenarbeit mit den USA neu“, heißt es im Regierungsprogramm von CDU/CSU. An dieser Mission Merkels ist nicht zu zweifeln, sie ist an einer Verbesserung der bilateralen Beziehungen interessiert. Doch selbst wenn Angela Merkel vom ehemaligen Regierungsberater Richard Perle mit dem Ehrentitel „Transatlantikerin“ betitelt wurde, bleibt das künftige Verhältnis eine Rechnung mit Unbekannten. Es sind schließlich auch die USA, die den Wert von Allianzen weniger an historischen Gemeinsamkeiten als am aktuellen Nutzen bemessen. Nach dem Ende des Kalten Krieges hat die außenpolitische Elite der USA ihren Fokus von Europa weg auf den Nahen und Mittleren Osten und die beiden potenziellen Großmächte China und Indien umgelenkt. Aus amerikanischer Sicht ist für gute bilaterale Beziehungen entscheidend, dass Deutschland „liefert“. Im Kampf gegen den Terrorismus schlägt vor allem die deutsche Truppenbeteiligung am Afghanistan-Einsatz und auf dem Balkan positiv zu Buche.

Auf dem Weg zu einer perfekten Partnerschaft liegen für Merkel viele Stolpersteine. Nur einen davon kann sie schnell beiseite räumen. Während Gerhard Schröder versucht hatte, das EU-Waffenembargo gegen China zu lockern, will Merkel die Sanktionen beibehalten. Das wird in Washington auf Wohlwollen stoßen. Bei anderen wichtigen Themen bleiben die Differenzen: Einen deutschen Sitz im UN-Sicherheitsrat hält die CDU-Chefin für „plausibel“.3 Die Bush-Regierung sperrt sich dagegen und unterstützt von den Bewerberstaaten ausschließlich Japan. Eine unionsgeführte Regierung wird ebenso wenig wie Rot-Grün deutsche Soldaten in den Irak schicken. Militärische Optionen im Iran, von George W. Bush jüngst ins Gespräch gebracht, schloss Angela Merkel sogleich aus. Der innenpolitische Spielraum für Zugeständnisse an die Bush-Regierung bleibt auch für Angela Merkel gering. Nach den vom „German Marshall Fund of the United States“ erhobenen „Transatlantic Trends 2005“ lehnen 83 Prozent der Deutschen die Außenpolitik des US-Präsidenten ab.4 Als Realpolitikerin weiß sie sehr wohl, aus solch eindeutigen Zahlen Schlussfolgerungen zu ziehen. Wegen ihrer festen transatlantischen Verankerung wird sie eine direkte Konfrontation mit George W. Bush vermeiden, zumal sich CDU und CSU derselben Parteienfamilie zugehörig fühlen wie die US-Republikaner. Die von ihrem Vorgänger Schröder ausgeloteten Spielräume, zu amerikanischen Wünschen „Nein“ zu sagen, dürfte sie allerdings behutsam zu nutzen wissen – zumal in einer Koalition mit der amerikakritischeren SPD.

Zu einem neuen Streitpunkt mit den USA könnte sich unter einer CDU/CSU-geführten Bundesregierung die Türkei-Politik entwickeln. Die Amerikaner betrachten den Beitritt Ankaras zur EU als strategischen Brückenschlag zwischen Okzident und Orient. Sie befürchten, dass jedes Angebot Brüssels unterhalb der Beitrittsschwelle das Land am Bosporus zurückstößt und radikalislamischen Kräften Auftrieb gibt. Zwischen dem dringenden Wunsch des wichtigsten Verbündeten und dem erbitterten Widerstand gegen den Beitritt der Türkei in der CDU/CSU geht Merkel einen schwierigen diplomatischen Weg. Ende August hat sie gemeinsam mit Edmund Stoiber in einem Brief an die konservativen Regierungschefs innerhalb der EU erneut für ihr Konzept einer „privilegierten Partnerschaft“ geworben. Dieser Plan, der innenpolitisch wie ein kaum verklausuliertes „Nein“ wirkt, mit dem Überfremdungsängste und wirtschaftliche Sorgen deutscher Wähler aufgefangen werden sollen, ist inzwischen vor allem durch die Arbeit deutscher Europa-Parlamentarier en detail ausgearbeitet worden. In der Sache bietet sie Ankara gegenüber der bisherigen Mitgliedschaft in der NATO und der Einbindung in den Europäischen Wirtschaftsraum durchaus Anreize. Danach soll die Türkei zum Beispiel stärker mit den EU-Institutionen verknüpft und an den gemeinsamen Sicherheitsstrukturen voll beteiligt werden. Mangels Mitgliedschaft entfiele die Verpflichtung Ankaras, den gesamten acquis communautaire der EU einhalten zu müssen.

Auch in der außenpolitischen Begründung bemüht sich Merkel um eine Versachlichung der Position. Das innenpolitisch gern verwendete Argument, die Türkei gehöre weder kulturell noch religiös zum alten Kontinent, führt sie dabei nicht ins Feld. Angela Merkel stellt vielmehr den Zusammenhang zwischen der Vertrauenskrise der EU und ihrer Überdehnung her. Nicht die Türkei sei an den Problemen schuld, so lautet ihre Botschaft. Brüssel selbst könne nach der Aufnahme zehn neuer Länder zum 1. Mai 2004 weiteren Zuwachs nicht verkraften. Mit diesem Argument wird eine Regierungschefin Merkel jedem Wunsch nach einer Vollmitgliedschaft kritisch entgegentreten, nicht nur dem türkischen. Den bereits beschlossenen Beitritt Bulgariens, vor allem aber Rumäniens, wollen CDU und CSU möglichst um ein Jahr verschieben. Anderen interessierten Ländern wie der Ukraine und Kroatien möchten die Unionsparteien derzeit nicht mehr in Aussicht stellen als eben eine „privilegierte Partnerschaft“.

In der Gemeinschaft der 25 vertreten Angela Merkel und die Unionsparteien mit dem Vorschlag einer „privilegierten Partnerschaft“ derzeit eine Minderheit. Auch die Türkei zeigt keinerlei Bereitschaft, sich auf ein Minus zur Mitgliedschaft einzulassen. Eine unionsgeführte Regierung wird in die Bedingungen der am 3. Oktober 2005 begonnenen Beitrittsverhandlungen mit der Türkei eintreten müssen, die zwar ergebnisoffen, aber mit dem klaren Ziel einer Mitgliedschaft geführt werden sollen. Pacta sunt servanda – an diesen Grundsatz wird sich Merkel gerade in der Großen Koalition halten. Die künftige Kanzlerin steckt in der Zwickmühle. Zunächst bereitet es wenig Probleme, sich mit der SPD auf eine Art Stillhalteabkommen zu verständigen. Umso gewaltiger aber wäre der außenpolitische Schaden, falls Merkel später in einer anderen Regierungskonstellation gegen den Türkei-Beitritt mobil macht, wenn möglicherweise schon Verhandlungsfortschritte erreicht sind. Der Erwartungsdruck in der CDU/CSU richtet sich auf einen kompromisslosen Kurs. Über Jahre wird die Türkei-Politik das Potenzial bergen, in Wahlkämpfen der Unionsparteien als „Joker“ eingesetzt zu werden und damit zugleich den Koalitionsfrieden massiv zu gefährden.

Wie weiter mit der Europäischen Union?

Unabhängig vom Zankapfel Türkei: Die Europa-Politik wird Angela Merkel wegen der akuten Krise der EU stark fordern. Ihr Kompass bleibt klar pro-europäisch ausgerichtet. Wie sich das nach dem Scheitern des Verfassungsvertrags bei den Referenden in Frankreich und den Niederlanden in praktische Politik übersetzt, lässt sich einem im August vorgelegten und mit Merkel abgestimmten Papier des CDU-Bundesfachausschusses Europa-Politik entnehmen, das die Handschrift des CDU-Europa-Abgeordneten Elmar Brok trägt. Der EVP-Politiker schlägt vor, dass die neue Bundesregierung bald eine Kosten-/Nutzen-Analyse zusammenstellt, die mit der Legende vom „Zahlmeister Deutschland“ und vom „Teuro“ aufräumt. Berlin, so die Botschaft, war und bleibt bis heute einer der Gewinner der Öffnung der Märkte und der neuen Währung. In dem Papier werden Überdehnung und der Regelungswahn der Brüsseler Bürokratie als entscheidender Grund für den Vertrauensverlust in die EU beschrieben. Neben der Wahlkampfaussage Merkels, europäische Richtlinien in Deutschland künftig nur noch eins zu eins umzusetzen, fordert der Beschluss des CDU-Bundesfachausschusses Europa-Politik ein „Vorwarnsystem“, mit dem Bundestag und Bundesrat „bereits in der Vorphase europäischer Gesetzgebung kritisch prüfen wird, ob sie den Dreifachtest der Subsidiarität, der niedrigen Kosten und der Wettbewerbsfähigkeit bestehen“.

Will Merkel im unübersichtlicher gewordenen Europa eine Rolle als Motor und Mittler für Deutschland reklamieren, wird es auf gute bilaterale Beziehungen zu den wichtigsten Partnerländern ankommen. Bei ihrem Frankreich-Besuch kurz vor der Bundestagswahl hat Merkel den Schulterschluss gesucht. „Fundamental“ sei die Partnerschaft Berlin–Paris, so formulierte sie selbst. Die Kritik an einer Überbeanspruchung dieser Achse intonierte parallel dazu Merkels außenpolitischer Berater Friedbert Pflüger in einem Gastbeitrag für Le Figaro: „Es darf in Warschau oder Vilnius nicht der Eindruck entstehen, als betrieben die EU-Partner in Berlin und Paris über die Köpfe der Ostmitteleuropäer hinweg Politik mit Moskau“. Es ist deshalb kein Zufall, dass Angela Merkel in der kurzen Wahlkampfzeit neben dem Besuch in Frankreich und einem kurzen Abstecher zu deutschen Soldaten im Kosovo auch nach Polen fuhr. Die symbolische Visite bei Präsident Alexander Kwasniewski unterstrich Merkels Wunsch nach einer engeren Kooperation zwischen Berlin und Warschau. Andererseits würde das deutsch-polnische Verhältnis durch eine Regierungsübernahme von CDU und CSU eine zusätzliche Belastung erfahren, stehen doch die Parteien im Sejm der Gründung des von der Union unterstützten Zentrums gegen Vertreibungen in Berlin sehr kritisch gegenüber.

Vielfach wird vermutet, unter einer Kanzlerin Angela Merkel würde sich das deutsche Verhältnis zu Russland verschlechtern. Wegen ihrer starken Verankerung im transatlantischen Bündnis und der Suche nach einer erneuerten Mittlerrolle Deutschlands in Europa wird Angela Merkel dem Eindruck einer Achsenbildung zwischen Berlin und Moskau entgegenwirken.  Erkalten aber dürften die Beziehungen nicht. „Foreign policy is about national interests“ – diesen Satz Margaret Thatchers teilt Angela Merkel ausdrücklich. Der Christdemokratin liegen Wirtschaftsinteressen ebenso am Herzen wie die Menschenrechte. So hat sie Anfang September den von Schröder und Putin unterzeichneten Vertrag über eine Gas-Pipeline durch die Ostsee ausdrücklich begrüßt, obwohl das Unternehmen in Polen und den baltischen Staaten viel Misstrauen hervorrief. Neben dem Bewusstsein für die Erfordernisse der Realpolitik bringt Merkel eine biografische Nähe zu Russland mit. So wie Putin deutsch spricht, beherrscht Angela Merkel die Sprache des Präsidenten; und es ist überliefert, dass sie im Gegensatz zu vielen Schülern in der DDR mit Begeisterung russisch lernte. Der Gesprächsfaden mit Moskau dürfte unter Merkel in vernünftigem Ton wieder aufgenommen werden.

Während die Affinität der angehenden Regierungschefin zur Europäischen Union außer Frage steht, ist sie im Hinblick auf die Vereinten Nationen noch ein weitgehend unbeschriebenes Blatt. Im Wahlprogramm der Union taucht das Wort „UN“ nicht ein einziges Mal auf. Aus bisherigen Äußerungen spricht eher ein reserviertes Verhältnis zu den Vereinten Nationen. „Die Handlungsfähigkeit der UN und in Folge auch ihre Glaubwürdigkeit müssen verbessert werden“, sagte Merkel am 12. Februar 2005 in ihrer Rede bei der Münchner Sicherheitskonferenz und hängte gleich noch das Sündenregister der Weltorganisation an: „Die Erfahrungen von Bosnien und Ruanda über den Irak bis hin zum Sudan zwingen zum Handeln.“ Auch andere Äußerungen von Merkel deuten darauf hin, dass sie den kritischen Blick der US-Regierung auf die Weltgemeinschaft teilt. So befürwortet sie angesichts der Bedrohungen durch den Terrorismus die Einführung eines Interventionsrechts in die UN-Charta: „Denn dass Situationen auf uns zukommen können, in denen präventiv eingegriffen werden muss, beispielsweise um den Einsatz von Massenvernichtungswaffen zu verhindern, daran zweifle ich nicht.“5

Wenig Zweifel bestehen daran, dass Angela Merkel auf die Übernahme der Außenpolitik gut vorbereitet ist. Als Bundesministerin und als Parteivorsitzende hat sie ein größeres internationales Netzwerk geknüpft als vor 1998 der damalige niedersächsische Ministerpräsident Gerhard Schröder. So leitete Merkel 1995 als Umweltministerin einen Klimagipfel in Berlin, an dem 1000 Delegierte aus mehr als 130 Staaten teilnahmen. Die Konferenz endete mit der Verabschiedung des „Berliner Mandats“ und bildet eine der wesentlichen Vorarbeiten zum Kyoto-Protokoll. Ihrem beträchtlichen Einfluss in der Europäischen Volkspartei (EVP) wird zugeschrieben, dass sich im Sommer 2004 als neuer EU-Kommissionspräsident nicht der von Schröder und Jacques Chirac bevorzugte Liberale Guy Verhofstadt aus Belgien, sondern der konservative Portugiese José Manuel Barroso durchsetzte.

Neben ihren Auslandsbesuchen traf sie sich in Berlin mit Regierungschefs aus aller Welt; allein in diesem Jahr reicht die Liste von George W. Bush über Tony Blair und Wladimir Putin bis zum Dalai Lama. Fachlich gilt Merkel als versiert. Sie sei bei außenpolitischen Themen nicht auf Einflüsterer angewiesen, sondern mache sich von Fall zu Fall bei den jeweils besten Experten kundig, beschreiben Unionspolitiker ihren Arbeitsstil. Während Gerhard Schröder seine Liebe zur Außenpolitik erst langsam entdeckte, wird Angela Merkel dieses Feld von Anfang an zur Chefsache machen – soweit dies die SPD und der designierte Außenminister Frank Walter Steinmeier zulassen.

Dem Machtbewusstsein und Gestaltungswillen Merkels stehen gigantische Aufgaben gegenüber. Frankreich fällt nach dem EU-Referendum und angesichts des Streites um die Nachfolge Jacques Chiracs vorerst als Motor für Europa aus, auch Großbritannien wird sich nicht aktiv an die Spitze der Rettung Europas setzen können. Italien und Spanien sind zuletzt vor allem durch den Widerstand gegen einen deutschen Sitz im UN-Sicherheitsrat aufgefallen. Die Welt wird von Terrorismus, Massenvernichtungswaffen und Pandemien bedroht. Der asiatische Raum sortiert sich um China und Indien und wird zur wirtschaftlichen und militärischen Konkurrenz der westlichen Industrienationen. Die USA bauen nicht mehr auf die Freunde von gestern, sondern auf Koalitionen der Willigen. Die Frage des EU-Beitritts der Türkei birgt Sprengstoff im transatlantischen, innereuropäischen und koalitionsinternen Verhältnis.

„Europäische Gemeinsamkeit im transatlantischen Verhältnis“6 – diese Formulierung Merkels beschreibt kurz gefasst ihr außenpolitisches Programm. Ihre Überzeugung, die auf ihrer Biografie und auf den Lehren vor allem Konrad Adenauers und Helmut Kohls gründet, muss sich in einem vollkommen veränderten Umfeld bewähren. Ihr Spielraum wird innenpolitisch zusätzlich eingeengt durch einen Koalitionspartner auf Augenhöhe. Vor Angela Merkel steht keine unmögliche, wohl aber eine sehr komplizierte Mission.

1 Gert Langguth: Angela Merkel, München 2005, S. 316.