Merkels Makel
Wie die Bundeskanzlerin ihre zweite Amtszeit gestalten sollte
Immer nur abwarten wird nicht mehr genügen. Vorangehen ist angesagt, die Kanzlerin muss deutlich machen, für welche Weltordnung und Werte sie steht. Will sie zu einer prägenden Kanzlerin werden, auf Augenhöhe mit Adenauer, Brandt oder Kohl, dann muss sie jetzt ihre pragmatische Merkel-Diktion zu einer prägenden Merkel-Doktrin ausbauen.
Die Bilanz ihrer ersten Amtszeit fällt positiv aus. „La Merkel“, wie italienische Zeitungen sie beim jüngsten G-8-Gipfel in L’Aquila nannten, macht auf internationalem Parkett bella figura. Mit ihrer unaufgeregten und uneitlen Art hat sie sich unter den vielen Gockeln der Weltpolitik den Ruf einer ehrlichen Maklerin erworben. Wurde es diplomatisch brenzlig, hat Merkel die Staatsraison Deutschlands über innerparteiliche Interessen gestellt. Gleich mehrfach schritt sie gegen Versuche ein, den Holocaust zu relativieren. Dabei scheute sie nicht vor einer Kritik an Papst Benedikt XVI. zurück, der sich aus ihrer Sicht nicht deutlich genug vom Holocaust-Leugner und Pius-Bruder Richard Williamson abgesetzt hatte. Die Kandidatur ihrer Parteifreundin Erika Steinbach für den Stiftungsrat des Zentrums gegen Vertreibungen hat sie niemals offen unterstützt. Zu hoch schätzt sie die Bedeutung des deutsch-polnischen Verhältnisses, das ihr Vorgänger Gerhard Schröder durch seine zelebrierte Männerfreundschaft mit Wladimir Putin missachtet hatte.
Und dennoch hat Merkels Bilanz einen Makel: Auch international ist die Kanzlerin ihrem taktischen Politikverständnis treu geblieben, das auf Abwarten, nicht auf Vorangehen setzt. So kommt es, dass zwar viele Deutsche ihr Land von Angela Merkel gut vertreten sehen. Kaum jemand aber könnte sagen, für welche Welt- und Werteordnung ihre Außenpolitik steht. Um als prägende deutsche Kanzlerin angesehen zu werden und auf Augenhöhe mit Konrad Adenauer, Willy Brandt oder Helmut Kohl zu kommen, müsste sie in einer zweiten Amtszeit klar machen, für welche Überzeugungen sie eintritt.
Das gilt zuallererst für das Thema, das in der Öffentlichkeit am ehesten mit Merkel verbunden wird: den Klimaschutz. Zwei Fotos sind in Erinnerung geblieben: Das eine zeigt sie in grünem Blazer in einem Strandkorb im Kreise der G-8-Staats- und Regierungschefs in Heiligendamm, wo sie im Juni 2007 dem US-Präsidenten George W. Bush erstmals die Zusicherung abrang, eine Halbierung des CO2-Ausstoßes bis 2050 „ernsthaft in Betracht zu ziehen“. Das Bild in roter Winterjacke vor den abschmelzenden Gletschern Grönlands zwei Monate später diente dann dazu, der deutschen Öffentlichkeit den Ernst der Lage vor Augen zu führen. Doch Merkels eigener Klimakurs passte nicht immer zu den schönen Fotos. So drängte sie in Brüssel auf großzügige Abgaswerte für deutsche Autos. Und viel gewonnen ist international noch nicht; ein Scheitern des Kopenhagener Klimagipfels im Dezember droht. Zu einem seiner großen Themen, einem Anpassungsfonds für die Schwellenländer, hat sich Merkel bisher bedeckt gehalten. In Kopenhagen steht nichts weniger als Merkels Glaubwürdigkeit als „Klimakanzlerin“ auf dem Spiel. Die internationale Lastenteilung muss sie dabei zu ihrem persönlichen Thema machen. Dazu gehört, dass sie einen beträchtlichen finanziellen Beitrag Deutschlands anbietet und innenpolitisch dafür geradesteht.
Nicht daran vorbeikommen wird Merkel ferner, Führung bei der militärischen Lastenteilung zu zeigen. Ihre Afghanistan-Politik zeichnet sich bisher durch Zurückhaltung aus. Zwar hat die Kanzlerin zwei Kurzbesuche am Hindukusch absolviert und den Einsatz unterstützt. Dabei war es ihr aber immer wichtig, nicht zu sehr mit der Operation identifiziert zu werden. Von Merkel ist kein ernsthafter Versuch erinnerlich, offensiv und kraft ihrer Autorität und Popularität das ablehnende Meinungsklima in Deutschland zu drehen. Das Wort vom „Krieg“ vermeidet sie geradezu panisch. Wenn der Bundeswehreinsatz in Afghanistan so wichtig ist, muss er endlich Chefsache sein – und den Bürgerinnen und Bürgern besser erklärt werden. Angesichts der heftigen Gefechte in Afghanistan wird ansonsten die Forderung nach einem deutschen Ausstieg so übermächtig werden, dass er die Kanzlerin erst recht in Bedrängnis bringt. Auch die Debatte über die Aufgaben und den Stellenwert der Bundeswehr kann Merkel nicht allein ihrem Verteidigungsminister überlassen. In ihrer jüngsten Rede beim öffentlichen Gelöbnis der Bundeswehr sprach sie erstmals mit Empathie über den lebensgefährlichen Einsatz deutscher Soldaten. Für dieses Signal war es höchste Zeit.
Als Antreiberin für die Neuordnung internationaler Organisationen in Zeiten der Multipolarität ist die Bundeskanzlerin nicht aufgefallen. Lange hat die Kanzlerin das überkommene G-8-Format verteidigt und hält erst seit kurzem die G-20 für das Modell der Zukunft. Die Stimme Deutschlands für eine breiter legitimierte internationale Architektur muss lauter werden. Dem von Merkel geforderten ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat ist Deutschland zwar während ihrer Amtszeit keinen Schritt näher gekommen. Das sollte die Kanzlerin aber nicht davon abhalten, weiter für eine Reform und Stärkung der einzigen weltumspannenden Organisation einzutreten. Eine deutsche Führungsrolle, die nicht auf exklusive Clubs, sondern auf möglichst breite Beteiligung setzt, fügte sich gut in die Logik Merkelscher Europapolitik ein. In der EU hat die Kanzlerin auch die kleineren Länder eingebunden, bis auf Zypern und Malta alle Mitgliedsstaaten bereist. Dem Ansehen Deutschlands in Europa hat das gut getan. Mit ihrem Vorschlag einer „Charta des nachhaltigen Wirtschaftens“ hätte Merkel einer durch die Finanzkrise durchgeschüttelten Welt auch ein gemeinsames Projekt anzubieten, das allerdings noch Konturen gewinnen muss.
Nicht angeknüpft hat Merkel an ihren anfangs auffälligen Einsatz für die Menschenrechte. So plädierte sie nach den iranischen Präsidentschaftswahlen noch für eine Neuauszählung der Stimmen, als andere Regierungschefs aus guten Gründen längst Neuwahlen forderten. Der Empfang des Dalai Lama im Kanzleramt im September 2007, für den Merkel Ärger im Verhältnis zu China in Kauf nahm, blieb ein singuläres Ereignis und dürfte auch innenpolitischer Taktik geschuldet gewesen sein. Dabei könnte die Kanzlerin mit ihrer DDR-Biografie glaubwürdiger als jeder andere Regierungschef die internationale Achtung von Freiheit und Rechtsstaatlichkeit zu ihrer ganz persönlichen Sache machen. International wird die Demokratie an Strahlkraft einbüßen, wenn sie nicht starke Fürsprecher findet. Eine zweite Merkel-Regierung sollte diesen Akzent verstärken und zum Beispiel – wie es das Wahlprogramm der CDU/CSU vorsieht – die Gewährung von Entwicklungshilfe stärker an die Beachtung von Menschenrechten knüpfen.
Gewicht und Glaubwürdigkeit hat sich die Bundeskanzlerin in ihrer ersten Amtszeit erarbeitet. Nun ist es an der Zeit, die pragmatische Merkel-Diktion zu einer prägenden Merkel-Doktrin auszubauen.
Dr. ROBIN MISHRA leitet das Berliner Büro des Rheinischen Merkur. Anfang 2009 erschien von ihm: „Wie ich lernte, die Politiker zu lieben“.
Internationale Politik 9/10, September/Oktober 2009, S. 96 - 98.