Buchkritik

02. Jan. 2024

Mehr Systemwettbewerb wagen

Dass Chinas Aufstieg Konsequenzen für den Westen hat, dürfte sich herumgesprochen haben. Ebenso, dass Naivität gegenüber Peking kein guter Ratgeber ist. Und selbst wenn man zögert, vom „Gewinnen“ zu sprechen: Verlieren wollen sollte die Auseinandersetzung mit dem Reich der Mitte auch niemand.

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Bild: Illustration eines Buches auf einem Seziertisch
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Für selbsternannte „Real­politiker“ schien das Thema der Menschenrechte jahrzehntelang ein nachgeordnetes zu sein, nicht selten verächtlich abgeschoben in die Ecke der Moral- oder gar „Symbolpolitik“ (Gerhard Schröder).



Das immer aggressivere Gebaren Chinas, das den Einflussbereich seines autoritären, wenn nicht sogar totalitären Modells weiter auszudehnen trachtet, hat jedoch deutlich gemacht, dass die Herausforderungen der Geopolitik nicht zu abstrahieren sind von Fragen eben jener (vorenthaltenen) Menschenrechte und der Ideologie, die hinter alle­dem steht.



In diesem Spannungsfeld bewegen sich auch die Autorinnen und Autoren der hier zu besprechenden fünf Bücher. Allerdings handelt es sich nur bei vieren von ihnen um Analysen im eigentlichen Sinne; eines ist ein hagiografisches, fast wie im Pekinger Parteiauftrag verfasstes Werk.



Aufstand gegen Anmaßung

Matthias Naß’ umfangreiche und dabei doch höchst lesbare Studie „Kollision. China, die USA und der Kampf um die weltpolitische Vorherrschaft“, schöpft aus der Expertise des langjährigen ZEIT-Korrespondenten und ­Asien-Kenners. Im wohltuenden Unterschied zu Helmut Schmidt, der in seinen letzten Lebensjahren immer mehr zum Lobredner vermeintlich typischer asiatischer Pflichttugenden (ergo Unterordnungsriten) geworden war, verweigert sich Naß solch fragwürdigem Essentialismus, analysiert tatsächlich politisch – und ordnet historisch ein. „Demokratie oder Autokratie“, schreibt er, „dieser Wettbewerb wird keineswegs nur, wie einst im Kalten Krieg, zwischen Ost und West ausgetragen, sondern auch zwischen asiatischen Staaten und innerhalb ihrer Geschichte.“ Noch seien die Errungenschaften des Westens für viele Vorkämpfer der Demokratie in Asien ein Beispiel, aber „mehr noch schöpfen sie aus eigenen Traditionen. Mehrmals bin ich in Asien Zeuge geworden, wie sich die Menschen erhoben gegen erstarrte Strukturen, gegen Willkür und Anmaßung, gegen den Raub ihrer Freiheit.“



Naß erinnert an die Entwicklung Japans, Südkoreas und nicht zuletzt Taiwans zu stabilen Demokratien, an die erfolgreichen „People-Power“-Proteste gegen die Marcos-Diktatur auf den Philippinen 1986, aber auch an die blutige Niederschlagung der Pekinger Studenten- und Demokratiebewegung 1989.

Eine Allianz der Demokratien unter Einschluss Australiens und Indiens (trotz dessen höchst ambivalenter Positionierung unter dem hindu-nationalistischen Premier Narendra Modi) sei deshalb, so Naß, kein neoimperialistisches Phantasma, sondern pure Notwendigkeit, um ­Chinas Raum­ausgreifen einzudämmen. Von der Aufschüttung künstlicher Inseln vor der philip­pinischen Küste über die Einflussnahme in den pazifikweit verstreuten Inselstaaten bis zur akuten Bedrohung Taiwans – Chinas Aktionen zeugen gewiss nicht von einem „Geist guter Nachbarschaft in einer multipolaren Welt“, auch wenn die Staatspropaganda nicht müde wird, das zu behaupten.



Naß listet Beispiele von Mächten auf, die verstärkte Präsenz im Indopazifik zeigen – auch Deutschland ist dabei – und stellt die These auf, dass NATO-Strukturen dort durchaus zum Vorbild für zwischenstaatliche Vereinbarungen werden könnten, um den Frieden in der Region robust zu sichern. Dass es sich hierbei keineswegs um ein „wilhelminisches Weltbild“ handelt, wie das SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich noch im Sommer 2021 der damaligen Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer nach deren Visite auf der Fregatte „Bayern“ vorwarf: Nach Betrachtung der Realität und der Lektüre dieses ruhig-abwägend geschriebenen Buches sollte sich das von selbst verstehen.  



Straße der Abhängigkeit

In einer gelungenen Mischung aus Reportage und Hintergrund­analyse beschreibt der Journalist Philipp Mattheis „Die dreckige Seidenstraße“ und erklärt, wie „Chinas Wirtschaftspolitik weltweit Staaten und Demokratien untergräbt“. Trotz des etwas reißerischen Titels wird hier keine unreflektierte China-Schelte betrieben. Tatsache jedoch ist, dass die brutale Unterdrückung der Uiguren-Minderheit nicht zufällig mit dem Start der Neuen Seidenstraße zusammenfiel: In Xinjiang, einem der profitabelsten Orte für die Ausbeutung Seltener Erden, braucht das Regime Friedhofsruhe, durchgesetzt u.a. mit der digitalen Überwachungstechnologie von Huawei. Dazu in der Nachbarschaft ihm gewogene Regimes – so etwa die mörderische Militärjunta in Myanmar, die Mullahs in Teheran (die westliche Wirtschaftssanktionen dank Peking kaum mehr fürchten) oder die kommunistische Regierung in Laos, das Mattheis bereits auf dem Weg in eine Art chinesische Provinz sieht. Hinzu kommt, dass andere Länder entlang der Neuen Seidenstraße in der UN-Vollversammlung beständig im Sinne Chinas abstimmen.



Ohne künstliche Dramatisierung wird auch die wachsende chinesische Präsenz in Deutschland beschrieben – von der „Kohleinsel“ in Duisburg bis zu Teilen des Hamburger Hafens. Dennoch lägen die Herausforderungen für Deutschland und die EU in anderen Bereichen: „Da ist zum einen eine starke Asymmetrie in den Handelsbeziehungen – während chinesische Unternehmen in Europa keine Wettbewerbsnachteile haben, gilt dies nicht für europäische Unternehmen in China. Eine weitere Herausforderung betrifft die ethische Dimension, die sich schnell zu einer geopolitischen entwickeln kann. Russlands Invasion in der Ukraine hat gezeigt, dass das vor allem von Deutschland propagierte Konzept ‚Wandel durch Handel‘ nicht funktioniert.“

Freilich: China hat den von ihm politisch und wirtschaftlich abhängig gemachten Ländern durchaus mehr zu bieten als Schuldenfallen und profit­gesteuerte Umweltdesaster.



Läge es da – gerade mit Blick auf die unrühmliche Geschichte des westlichen Kolonialismus – nicht nahe, hier nur „eine Art Wetterwechsel“ zu konstatieren, da auf westliche Hegemonie jetzt eben die chinesische folge? Gegen derlei Ohrensessel-Historizismus legt der Autor vehement Widerspruch ein: „Wer dieser Argumentation folgt, sollte sich bewusst sein, damit den Großstrategen der Kommunistischen Partei in die Hände zu spielen. Weltgeschichte ausschließlich als naturalistische Abfolge von Großreichen zu sehen, ist eine gerechtfertigte, aber eben nur eine Perspektive unter vielen möglichen.“



Denn ebenso lasse sich die Weltgeschichte progressiv deuten – „als eine mit zahlreichen Rückschlägen versehene Entwicklung von der Barbarei hin zu universalen Menschenrechten, die jedem Individuum qua Geburt zustehen und unbedingt zu schützen sind.“



Was in China alles so toll ist

Interessanterweise findet sich unter demselben Verlagsdach von Random House, in dem Philipp Mattheis’ profunde Studie erschienen ist, auch die neueste Verfertigung von Frank Sieren, der über die Jahre hinweg im Grunde immer wieder das gleiche China bejubelnde Buch schreibt und dafür (wechselnde) große Verlage findet. Nach „Zukunft? China!“ und „Zukunft Made in China“ hat der seit 1994 in Peking lebende Schönredner des dortigen Regimes nun mit „China to go“ ein frisch-forsches Was-in-China-alles-so-toll-ist-Kompendium verfasst, das er bewusst als „ein Buch für die Tiktok-­Generation“ anpreist.



Geradezu hymnisch vorgetragene Info-Häppchen zu den schier unaufhaltsamen Fortschritten in (Umwelt-)Technologie, Sport und Wirtschaft (von der gleichgeschalteten Kultur hingegen kein Wort) träufeln da auf die jungen Leser herab, versehen mit Häme auf den vermeintlich ebenso steilen Abstieg des moralisierenden Westens – inklusive des auch von der AfD sattsam bekannten Baerbock-Bashings. Folgerichtig, dass dann der Außenminister von Taiwans demokratisch gewählter Regierung lediglich in Anführungsstrichen erscheint und der Propagandist auch sonst gern Pekinger Denunziationen weiterverbreitet: „Es gibt im Westen Tendenzen, Menschenrechtsverletzungen in China zu überzeichnen.“  



Digitales Machtinstrument

Von ganz anderen „Erfolgen“ berichtet Kristin Shi-Kupfer, Professorin für gegenwartsbezogene China-Forschung an der Universität Trier und Mitarbeiterin am renommierten Mercator Institute for China Studies (dessen Sanktionierung durch Peking Frank Sieren fast schon genüsslich erwähnt), in ihrem neuen Buch „Digit@l China. Überwachungsdiktatur und technologische Avantgarde“. Denn nicht nur, dass in China seit Jahren Facebook und Twitter (inzwischen „X“) geblockt sind – die heimische Digitalindustrie ist längst zu einem unverzichtbaren und erschreckend effizienten Macht­instrument geworden.



Vermeintlicher „Privatsektor“ und staatliche Strukturen gehen oft ineinander über, wann immer digitale Überwachung gefragt ist oder eine ideologisch-nationalistische Indoktrination der Bürger. Selbst vermeintlich apolitische junge „Foodblogger“ oder Popstars werden quasi dienstverpflichtet, um auf „coole“ Weise die Xi-Ideologie ins Lebensweltliche durchzustellen.



Kristin Shi-Kupfer berichtet allerdings auch von gewitzten Digital-Aficionados, die jeden winzigen Freiraum zu nutzen wissen, um mehr oder minder kaschiert Kritik anzubringen – auch das ein eindringliches Beispiel dafür, dass es sich bei der beliebten Redefigur von „den traditionell obrigkeitshörigen Chinesen“ um rassistischen Kulturalismus handelt.



Realpolitik als Traumtänzerei

Die Sinologin Janka Oertel beschreibt in ihrem Buch „Ende der China-Illusion. Wie wir mit Pekings Machtanspruch umgehen müssen“ ebenfalls die Fragwürdigkeit gängiger Denkmuster. Das beginnt bei der eigenen Gilde, die zu lange politik­abstinent gewesen sei anstatt den Entscheidern in Staat und Wirtschaft „die Misslichkeit der Lage und die Dringlichkeit einer Kurskorrektur darzulegen, mit einem Höchstmaß an Besonnenheit“.



Allerdings gebe es auch (noch) keine breite gesellschaftliche Debatte über Deutschlands künftigen Umgang mit Xis China, weder auf Bundes- noch auf regionaler Ebene. Was also tun? Zuerst einmal: Das Problembewusstsein durch Fakten schärfen statt sich in schönfärberisches Wunschdenken und Gesundbeten zu verlieren. Die jahrzehntelang voller Arroganz als „alternativlos“ apostrophierte „Realpolitik“, so die Autorin, wirke inzwischen mehr als anachronistisch: „Die Realpolitiker:innen sind die Träumer:innen von heute.“



Vonnöten sei ein neuer illusionsloser Blick, nicht zuletzt beim Stichwort Klimawandel: „Xis grünen Worten und Konzepten zum Trotz hat Chinas Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte unfassbaren Raubbau an der ökologischen Stabilität des Landes betrieben: Luft- und Wasserverschmutzung, verseuchte Böden, gerodete Wälder sind nach wie vor die Symptome eines toxischen Wachstumspfades.“ Nachhaltigkeit sei mittlerweile für die chinesische Führung „eine Notwendigkeit, um den Führungsanspruch der Partei aufrechterhalten zu können“.



Sodann sei das Mantra „Der Markt wird’s schon richten“ auch im Falle Chinas ad acta zu legen. Vielmehr gehe es darum, kluge staatliche Anschubfinanzierungen bei der Entwicklung alternativer und vielversprechender Absatzmärkte zu wagen.



Das wäre umso erfolgversprechender, wenn es gleichzeitig gelänge, in den weiterhin existierenden wirtschaftlichen Verknüpfungen mit China die zweifellos vorhandenen eigenen guten Karten geschickter auszuspielen anstatt weiterhin hypnotisiert wie das Kaninchen auf die Schlange zu starren oder sich in ebenso kurzfristigen wie kurzsichtigen Profitphantasmen zu verlieren.



Womit man dann erneut bei hiesigen Mentalitätsmustern sei: „Die Voraussetzung für mutiges Handeln ist aber, dass nicht nur politische und wirtschaftliche Eliten das Problem erkennen und benennen, sondern eine breite deutsche und europäische Öffentlichkeit einen Kurswechsel mitträgt.“

Und auch, wenn es der Befindlichkeit der Deutschen nicht gerade entgegenkomme, davon zu sprechen, dass man den Systemwettbewerb „gewinnen“ möchte: Es sollte doch „zumindest Einigkeit darüber bestehen, dass man ihn lieber nicht verlieren will“.

 

Matthias Naß: Kollision. China, die USA und der Kampf um die weltpolitische Vorherrschaft. München: C.H. Beck 2023, 282 Seiten, 26,90 Euro

Philipp Mattheis: Die dreckige Seidenstraße. Wie Chinas Wirtschaftspolitik weltweit Staaten und Demokratien untergräbt. München: Goldmann 2023, 282 Seiten, 24,00 Euro

Frank Sieren: China to go. Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur. 100 innovative Trends und erhellende Einblicke. München: Penguin 2023, 320 Seiten, 24,00 Euro

Kristin Shi-Kupfer: Digit@l China. Überwachungsdiktatur und technologische Avantgarde. München: Edition Mercator/ C.H.Beck 2023. 190 Seiten, 16,00 Euro

Janka Oertel: Ende der China-Illusion. Wie wir mit Pekings Machtanspruch umgehen müssen. München: Piper 2023, 301 Seiten, 24,00 Euro

 

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2024, S. 120-123

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Mehr von den Autoren

Marko Martin lebt als Schriftsteller in Berlin. Zuletzt erschien im Arco Verlag sein Essayband „‚Brauchen wir Ketzer?‘ Stimmen gegen die Macht“.

 

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