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01. Mai 2019

Mehr Gelassenheit

Von Friedbert Pflüger

Bei der Gaspipeline Nord Stream 2 braucht es Realitätssinn, keine Sanktionsdrohungen. Denn Europas Energiesicherheit hat sich deutlich erhöht

Die in den vergangenen zwei Jahren kontrovers diskutierte Nord Stream 2-Pipeline ist auf der Zielgeraden. Heute gehört sie zur europäischen Realität. 800 von 2500 Kilometern sind gebaut, der EU-Trilog hat sie im Zusammenhang mit der Gas-Richtlinie am 12. Februar de facto durchgewunken. Die Bundesregierung ist zuversichtlich, dass die letzte ausstehende Genehmigung aus Dänemark für eine der beantragten Routen kommt. Bedeutet das eine Schlappe für die Diversifikationsziele der europäischen Energieunion? Ist die zu beobachtende Aufregung über eine mögliche Erpressbarkeit der EU berechtigt? Bei einem genaueren Blick auf die Entwicklungen seit 2009: eindeutig Nein.

Nach der russisch-ukrainischen Gaskrise begriff die EU, dass die energiepolitische Abhängigkeit einiger Mitglieder gefährlich sein kann. Sie entdeckte – unter maßgeblicher Mitwirkung der mittel- und osteuropäischen Mitgliedsländer – das Thema der Energiesicherheit und verabschiedete eine ehrgeizige Agenda zur Verringerung der Abhängigkeit von russischem Gas. Bei der Umsetzung diverser Maßnahmen wurde viel Geld der EU und ihrer Mitglieder eingesetzt. Die EU erhöhte Schritt für Schritt ihre Energiesicherheit, die Bürger zahlten eine Sicherheitsprämie.

Sechs Entwicklungen haben die Energiesicherheit in Europa so erhöht, das die legitime und notwendige Debatte über Nord Stream 2 mit mehr Gelassenheit geführt werden kann.

Flüssigerdgas (LNG) ist verfügbar

Das entscheidende Kriterium für Energiesicherheit ist nicht die Menge des von einem Land gelieferten Gases, sondern die Möglichkeit von Alternativen im Krisenfall. Vor zehn Jahren gab es solche Optionen kaum. Heute verfügt die EU über etwa 30 LNG-­Importterminals, hauptsächlich entlang der Nord- und Südwestküste. Fast die Hälfte aller EU-Länder besitzt ein Terminal. Allein in den letzten zehn Jahren hat die EU rund 70 Milliarden Kubikmeter LNG-Importkapazität pro Jahr hinzugewonnen, so dass sich die Gesamtmenge auf rund 215 Milliarden Kubikmeter beläuft. 2018 waren das über 40 Prozent des jährlichen EU-Gasbedarfs. Nun werden zudem weitere Terminals gebaut und bestehende erweitert, 20 neue Anlagen mit mindestens 50 Milliarden Kubikmetern zusätzlicher Kapazität sind geplant.

Mitte Februar 2019 traf sich US-Vize-Energieminister Dan Brouillette mit Wirtschaftsminister Peter Altmaier in Berlin. Er lobte die deutschen Aktivitäten und sprach mit den Chefs von vier deutschen LNG-Projekten. Ob und inwieweit diese Terminals wirtschaftlich sein werden, hängt wesentlich von der Entwicklung der Gaspreise ab. Aber allein die Existenz der Terminals ist ein Game Changer. Ex-US-Botschafter Richard Morningstar sagte im März treffend: „LNG muss preislich wettbewerbsfähig sein. In gewisser Weise spielt es aber gar keine Rolle, wie viel verkauft wird. Die Hauptsache ist aus Sicht der Energiesicherheit, dass LNG verfügbar ist, denn dann wird es die Preise niedrig halten. Es wird Russland davon abhalten, monopolistische Gaspreise durchzusetzen.“ Ein Beispiel ist die Inbetriebnahme der LNG-Importanlage in Klaipeda (Litauen) 2014, wonach 2015 Gazprom seine Preise um 20 Prozent senken musste. Die Investition hatte sich gelohnt, bevor eine einzige Lieferung LNG den baltischen Staat erreichte.

Mehr Speicher vorhanden

Die EU hat ihre Speicherkapazität seit 2011 um rund 75 Prozent erhöht, wodurch nun ein Fünftel des Jahresverbrauchs gelagert ist. Vier der acht Länder mit den weltweit größten Gasspeicherkapazitäten befinden sich in der EU. Es gibt ca. 200 operative Gasspeicher in 19 Mitgliedstaaten, mehr als 50 weitere sind geplant oder im Bau. Die geografische Verteilung der Speicherstätten hat den Vorteil, dass Speicher in unmittelbarer Nähe zur Nachfrage liegen. Damit gewährleisten die Mitgliedsländer und ihre Übertragungsnetzbetreiber flexible Ersatzlieferungen an Nachbarstaaten, falls es zu Unterbrechungen der Gaszufuhr in einer politischen Krise, bei Kälte oder Unfällen käme.

Umkehrfluss ist möglich

Im Gegensatz zu 2009 fließt Gas heute in der Regel nicht nur von Ost nach West, sondern in alle Richtungen. 2010 verabschiedete die EU eine umfassende Verordnung zur Gasversorgungssicherheit (und überarbeitete sie 2017), welche die ständige bidirektionale Leitungsmöglichkeit in allen grenzüberschreitenden Verbindungen zwischen Mitgliedstaaten vorschreibt (Interkonnektoren). So wird der physische Umkehrfluss (Reverse Flow) ermöglicht. Seither wurde ein großer Teil der wichtigsten EU-Gaspipelines mit Reverse-Flow-Kapazitäten ausgestattet. So zum Beispiel der Interkonnektor Lettland–Litauen, die Pipeline Ungarn–Slowenien, die Verbindung bei Lanžhot zwischen der Tschechischen Republik und der Slowakei, bei Arad-Szeged zwischen Rumänien und Ungarn, bei Velké Zlievce zwischen Ungarn und der Slowakei und beim Rogatec-Interkonnektor zwischen Kroatien und Slowenien. Gleichzeitig wurde die Ukraine durch Reverse-Flow-­Kapazitäten bei ­Hermanowice zwischen Polen und der Ukraine und bei Bereg Darots zwischen Ungarn und der Ukraine gestärkt, so dass Kiew direkte Gaslieferungen von Gazprom deutlich reduzieren konnte. Die regionale Energiesicherheit verbessert sich auch durch Modernisierung, Bau und Planung weiterer Reverse-Flow-Projekte. Nicht nur der physische Ausbau der Infrastruktur hat den freien Gastransport und -handel in Europa gestärkt, sondern ganz wesentlich auch eine von der Kommission erlassene Regulierungsmaßnahme. Sie hob die territoriale Lieferbeschränkung auf, um den freien Handel unter Mitgliedstaaten zu ermöglichen.

EU-Projekte für mehr Wettbewerb

Weitere EU-finanzierte „Projects of Common Interest“ für mehr Wettbewerb sind in Planung oder im Bau. 2014 verfassten das Atlantic Council der USA und die Central Europe Energy Partners Empfehlungen für den beschleunigten Bau vom Nord-Süd-Korridor, einer der Energiewege von der Ostsee bis zur Adria und zum Schwarzen Meer (der Autor dieses Artikels hat daran mitgewirkt). Damit sollten die Infrastrukturprojekte gestärkt werden, die nicht wirtschaftlich waren, aber für die Energiesicherheit unerlässlich erschienen.

Europäische Steuerzahler sollten sozusagen eine Sicherheitsprämie für Energieversorgung zahlen. Angesichts der mittel- und osteuropäischen Geschichte erschien dies gerechtfertigt, um Ängsten etwa in Polen oder im Baltikum zu begegnen. Allein 2017 bewilligten die Europäer im Rahmen des „Connecting Europe Facility“-Förderprogramms 873 Millionen Euro für 17 Energieprojekte. Zusätzlich werden bis 2027 fast neun Milliarden Euro für weitere Energieprojekte bereitgestellt. Darunter fallen die Interkonnektoren zwischen Estland und Finnland, Bulgarien und Griechenland sowie die neue „Baltic Pipe“ zum Gastransport von Norwegen nach Polen. Die Infrastruktur ist in Europa so entwickelt, dass es kaum mehr Monopolsituationen gibt.

Verschiedene Wege und Quellen

Noch nie war die EU-Gasinfrastruktur besser positioniert, um neue Lieferanten aufzunehmen, zu denen schon Russland, Norwegen, Algerien, Libyen, Katar und die Vereinigten Staaten gehören, ab 2020 auch Aserbaidschan über die Trans-Adria-Pipeline (TAP). Die Pipeline wird zunächst jährlich zehn Milliarden Kubikmeter transportieren – mit der Option einer Verdopplung. Ein weiteres vielversprechendes Diversifikationsprojekt liegt im östlichen Mittelmeer.

Mit der Unterzeichnung einer Absichtserklärung im Dezember 2017 vereinbarten Israel, Zypern, Griechenland und Italien Ende 2018, die Gasreserven Israels mit den drei Ländern durch eine Pipeline zu verbinden. Trotz der erheblichen Konflikte in der Region unterstützte die EU das Projekt mit 100 Millionen Euro für eine Machbarkeitsstudie. Die Pipeline könnte 10 bis 20 Milliarden Kubikmeter Gas im Jahr transportieren, müsste dabei aber eine Strecke von 2100 Kilometern zurücklegen. Damit wäre sie die weltweit längste Unterwasser-Gaspipeline mit geschätzten Kosten von fast sieben ­Milliarden Dollar. Solche Projekte unterstreichen die Bemühungen der EU-Staaten, ihre Gas­importwege und -quellen so weit wie möglich zu diversifizieren, in der Annahme, dass jede Gaslieferung in die EU die Liquidität der Märkte stärkt. Der europäische Markt hat sich schon jetzt zu einem klassischen Käufermarkt gewandelt. Politische Erpressung durch einen externen Lieferanten – berechtigte Sorge vor einer Dekade – ist so kaum noch vorstellbar. Es ist zu viel Gas im Angebot und es gibt zu viele Versorgungsalternativen.

Erweiterte Gasdirektive der EU

Darüber hinaus verständigte sich die EU auf eine Neufassung der EU-Gasrichtlinie und kam damit einem Drängen vor allem Polens, der baltischen Staaten und der EU-Kommission nach. Nach jahrelangem Tauziehen und unzähligen Änderungsvorschlägen einigte sich der Trilog der EU im Februar auf Vorschlag Deutschlands und Frankreichs auf einen Kompromiss. Die Änderung bezieht sich auf den Abschnitt der Pipeline in den Hoheitsgewässern eines Mitgliedstaats, wo auch der erste Kopplungspunkt mit der Onshore-­Gasinfrastruktur der EU ist. Diese Beschränkung war nach Auffassung der Bundesregierung die Voraussetzung für eine Zustimmung, da die (von der Kommission zunächst geplante) Ausdehnung der Gasrichtlinie auch auf exterritoriale Gewässer eine Verletzung des UN-Seerechts bedeutet hätte. Das Land, wo der Kopplungspunkt liegt, kann nach der Direktive beantragen, dass Ausnahmen von der Anwendung des EU-Rechts vorgenommen werden, etwa wenn es die Versorgungssicherheit gefährdet sieht oder sich das Investment der Pipeline durch die Anwendung von EU-Regeln nicht lohnt.

Die Sorgen der Gegner von Nord Stream 2 , dass deshalb Deutschland im Alleingang Ausnahmen zugunsten von Nord Stream 2 ­beschließen könnte, laufen jedoch ins Leere: Das letzte Wort hat nach dem Text der Richtlinie die Kommission.

Die Zeit läuft ab

Angesichts all dieser Entwicklungen kann die Diskussion über Nord ­Stream 2 gelassener geführt werden. Die USA, die EU-Kommission und die Länder Mittel- und Osteuropas haben auf dem Weg, die ­Energieunion mit Leben zu füllen, viel erreicht. Nach der völkerrechtswidrigen Besetzung der Krim haben die EU und die USA gemeinsame Sanktionen gegen Moskau beschlossen. Wenn nun die USA mit weiteren unilateralen Sanktionen drohen, würde diese Geschlossenheit aufs Spiel gesetzt werden. Die EU-Kommission, die in den vergangenen Jahren keinen Zweifel an ihrer Skepsis gegenüber Nord Stream 2 zuließ, hat sich mit aller Klarheit gegen solche Einmischungen ausgesprochen. Die EU und ihre Mitgliedsländer sind offen für jeden Rat, aber sicher nicht für die Einmischung in ihre Entscheidungen durch die Drohung mit extraterritorialen Sanktionen aus Washington.

Die trilateralen Gespräche zwischen der Ukraine, Russland und der EU-Kommission müssen wieder aufgenommen und konstruktiv zu Ende geführt werden. Im Juli 2018 hatte EU-Vizepräsident Maros Sefkovic den russischen Energieminister ­Alexander Novak, den ukrainischen Außenminister Pablo Klimkin und die Vertreter von Gazprom und Naftogaz in Berlin zu einer ersten Runde eines trilateralen Gesprächs über den langfristigen Gastransit durch die Ukraine empfangen. Die Hoffnungen waren groß, weil es im Oktober 2014 EU-Kommissar Günther Oettinger gelungen war, in genau diesem Format eine Gaskrise zwischen Kiew und Moskau mit einem Kompromiss zu beenden. Aber die Neuauflage der Gespräche gerieten vor dem Hintergrund der zugespitzten Krise zwischen beiden Ländern bald ins Stocken.

Nun gibt es keine Zeit mehr zu verlieren: Am 1. Januar 2020 läuft der Transitvertrag zwischen Russland und der Ukraine aus. Dass in diesem Jahr ein neues Europaparlament und eine neue Kommission gewählt werden und in der Ukraine nach den Präsidentschaftswahlen auch noch die Rada-Wahlen im Oktober stattfinden, vereinfacht die Lage nicht. Kommt es bis Ende des Jahres nicht zu einer Lösung, die aus Sicht Moskaus wohl zwingend auch grünes Licht für Nord Stream 2 beinhalten muss, ist ungewiss, ob Russland weiter Gas durch die Ukraine nach Westen liefert. Die politischen Auswirkungen einer dann eintretenden Gasversorgungskrise sind unabsehbar.

Es ist dringend erforderlich, dass die EU mit ihrer ganzen Autorität und ohne Störmanöver aus Washington die Streithähne zusammenbringt und einer umfassenden Lösung den Weg bereitet. Alle Seiten müssen den viel zu lange geführten Streit über Nord Stream 2 und den ukrainischen Gastransit endlich beenden.
 

Dr. Friedbert Pflüger leitet das European Centre for Energy and Resource Security am Kings College in London. Als Unternehmensberater begleitet er Gasprojekte, u.a. Nord Stream 2.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2019, S. 106-110

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