Kritik muss erlaubt sein
Russland ist kein Ausnahmepartner
Der außenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion warnt eindringlich vor
„Wunschbildern“, wenn man sich mit Russland an einen Tisch setze. Bei aller Sympathie zu Putins
Russland müsse Kritik erlaubt sein.
Die englischsprachige Moscow Times zeigte eine hintergründige Karikatur: Es ist großer Welt- und Versöhnungsgipfel in St. Petersburg. Der Irak-Krieg liegt weit zurück. Russlands Präsident Wladimir Putin erhebt sein Glas. Selbstbewusst toastet er den Führern der westlichen Welt zu. Die Bushs, Blairs, Chiracs und natürlich der deutsche Bundeskanzler verneigen sich entzückt, fast liebedienerisch vor ihm. Im Hintergrund beleuchtet ein grandioses Feuerwerk die exklusive Herrenrunde. Nur vorn wird die hübsche Szene gestört: Unter der fein gedeckten Tafel quellen riesige Berge von Unrat hervor. Berge, die keiner der eleganten Gäste sehen will: Probleme, Probleme, Probleme.
Wie steht es mit unserem Partner Russland? Sitzen wir an einem Tisch, ohne die Probleme zu sehen, die sich zwischen uns türmen? Stimmt es, was der Schriftsteller Richard Wagner sagt, dass Russland gerade für uns Deutsche immer eine „Ausnahme“ war, ein Land, in dem Kriterien nicht gelten, die wir sonst für verbindlich halten? Ist Russland ein „Ausnahmepartner“, für den andere Spielregeln gelten, wo wir wegschauen, wenn etwas unser Wunschbild stört, der Krieg in Tschetschenien oder der Fall des Oligarchen Michail Chodorkowskij?
In einer Erklärung der Allrussischen Konferenz zivilgesellschaftlicher Organisationen vom 28. Oktober 2003 heißt es: Die Verhaftung Chodorkowskijs ist kein Beweis für die Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz; es ist eine Demonstration der Gleichheit der Bürger vor der Willkür. Die Hauptaufgabe besteht heute darin, sich dem Zerfall der Demokratie und der Freiheit in unserem Land entgegen zu stellen. Eine solche Aussage ist ein deutliches Alarmsignal.
Wir dürfen uns keine Wunschbilder machen, wenn wir mit Russland an einem Tisch sitzen wollen. Wir dürfen uns von Putins glänzendem Auftreten nicht blenden lassen. Wir dürfen und müssen immer wieder fragen, ob sich Putins Russland in die richtige Richtung bewegt. Nehmen wir die großen Tendenzen des „Putinismus“, von dem viele schon sprechen – strategische Westwende, wirtschaftliche Modernisierung, aber stärkere Autokratie im Innern: Wie sind diese Dinge letztlich vereinbar? Ist Putins „gelenkte Demokratie“ nicht ein Widerspruch in sich? Kann man die Wirtschaft liberalisieren, ohne die Gesellschaft mitzuziehen? Kann man „nach Europa zurückkehren“, wie Wladimir Putin sagt, ohne die liberalen europäischen Werte mitzutragen?
Je genauer man hinsieht, desto widersprüchlicher wird das Bild. Selbstbewusst erklärt Russland sein Ziel, das „21. Jahrhundert zu gewinnen“, aber gleichzeitig wird systematisch die Vergangenheit beschworen: Erst holt die Duma die alte sowjetische Nationalhymne aus der Versenkung, und ein Jahr später wird der russischen Armee wieder der rote Stern als offizielles Emblem verpasst, ganz zu schweigen von Lenin, der im Land omnipräsent bleibt. Da darf Paul McCartney auf dem Roten Platz, direkt neben Lenins Mausoleum, ein Popkonzert geben, doch hinter den Kreml-Mauern schottet sich die „Macht“ vom Volk ab wie zu Sowjetzeiten, kämpfen die alten KGB-Eliten mit undurchsichtigen Manövern um Macht und Einfluss wie eh und je.
Da gelobt Putin die Schaffung eines „vereinten wirtschaftlich-humanitären Raumes in Europa“, gleichzeitig werden Wahlen fragwürdig manipuliert, die Medien systematisch unterdrückt, das einzige unabhängige Meinungsforschungsinstitut gegängelt, und vor allem in Tschetschenien ein Krieg mit blutigen Mitteln weitergeführt, die aller humanitären Rhetorik krass widersprechen. Da boomt die Wirtschaft, die Börse bricht alle Rekorde, ausländische Investoren überstürzen sich mit neuen Anlageprojekten. Gleichzeitig nimmt die Kapitalflucht aus Russland weiter zu, und in dem Moment, da die Welt Vertrauen in das russische Wirtschaftswunder fasst, offenbart die Staatsmacht mit der Jukos-Affäre die „bodenlose“ Rechtsunsicherheit des Landes. Und für die Mehrheit der Bevölkerung hat sich das Leben trotz aller Wachstumszahlen weiterhin kaum verbessert; schon vor Jukos gaben 96 Prozent der Bürger an, dass in Russland weiter staatliche Willkür herrsche.
Schwieriger Partner
Mit wem hat es Europa zu tun? Mit einem neuen „gefestigten Russland“ oder, wie einige bereits zynisch meinen, mit einer „Sowjetunion mit Marktwirtschaft“? Aus der Person Putins lässt sich die Antwort kaum ablesen. Der russische Präsident bleibt eine schillernde Figur. Wie sein Land zeigt er der Außenwelt ein janusköpfiges Gesicht, in dem man beides sehen kann: den starken Führer oder vorsichtigen Zauderer, den Stabilisator oder Reformer, den weltoffenen Modernisierer oder konservativen Autokraten, der Russland zunehmend nach Zarenmanier regiert.
Russlands Problem war schon immer, dass nicht alles so ist, wie es scheint. Längst sprechen liberale Kritiker des Putin-Systems in Russland heute wieder von einer virtuellen Wirklichkeit, in der vieles nach außen zur Schau getragen werde, was in der Realität anders praktiziert werde. Der bekannte Soziologe Jurij Lewada spricht von „Imitaten“: Alles, was in Russland neu erscheine, sei in Wirklichkeit nur die Folge der Wiederherstellung des Alten. Auch wenn keine vollständige Restauration des Sowjetsystems möglich sei, will Lewada noch nicht von echter Stabilität sprechen. Allenfalls handle es sich um die Stabilität eines instabilen Zustands.
Wie für kein anderes Land – außer den USA – markierte das Jahr 2001 für Russland einen historischen Wendepunkt: Schneller als alle Europäer erfasste Putin die Zeichen der neuen Zeit; geschickter als alle nutzte er die veränderten Konstellationen, um Russland wieder als wichtigen Akteur auf der Weltbühne zu positionieren. Dabei handelte der russische Präsident zunächst völlig eigenmächtig, ohne Absprache mit der schwerfälligen russischen Machtbürokratie, was allein schon bemerkenswert war.
In der Tat ist vieles andere an der neuen „Putin-Doktrin“ revolutionär, was im Westen nicht immer genug wahrgenommen wird. Auch im Positiven müssen wir manchmal genauer hinsehen, denn unter Präsident Putin hat Russland
–seine Außenpolitik weitgehend von altem Hegemoniestreben befreit und auf die Grundlage einer realistischen Einschätzung seiner Ressourcen und inneren Bedürfnisse gestellt;
–endgültig die strategische Entscheidung getroffen, dass die Modernisierung und Stärkung des Landes nur über ein breites Engagement mit dem „Westen“ erreicht werden kann;
–und, vielleicht am schmerzhaftesten, die neue „Asymmetrie“ in der Weltpolitik, also die Hegemonie eines anderen Staates anerkannt und sich in die Rolle eines Juniorpartners hineingefunden.
In kurzer Zeit hat Putin Russland in den exklusiven Zirkel der „G-8“ geführt, mit der NATO eine neue Ära eingeleitet, sein Land von der EU als Marktwirtschaft anerkennen lassen und geschickt in eine europäisch-amerikanisch-russische Dreierdiplomatie eingebunden. Sein Meisterstück war es, Russland als diplomatischen Gewinner aus dem Irak-Krieg hervorgehen zu lassen. Als neuer Juniorpartner der Hegemonialmacht Amerika im Fall Irak die Stirn zu zeigen, eine Gegenachse mit dem „alten Europa“ aufzubauen, um wenige Monate später wieder in allen Ehren von Tony Blair und George W. Bush empfangen zu werden: das macht Putin niemand so leicht nach – am wenigsten die „alten“ Europäer Jacques Chirac und Gerhard Schröder. Seine Erfolge scheinen Putin Recht zu geben: nach Jahren von Chaos und Niedergang erscheint Russland heute wieder als verlässlich und stabil. Keine Frage, ein „gefestigtes“ Russland ist ein viel versprechender Partner für die Herausforderungen von morgen.
Doch bei all diesen unbestreitbaren Fortschritten dürfen sich die Europäer nicht täuschen lassen. Russland bleibt ein schwieriger Partner. Auch in seinen Außenbeziehungen gibt es manche Unstimmigkeiten hinter der offiziell beschworenen Rhetorik, einiges, das an „Imitate“ erinnert – oder zumindest eine andere, komplexere Realität zu verbergen scheint.
1. Hinter dem neuen Pragmatismus, dem Russland sich verschrieben hat, kommt bei genauerer Analyse immer wieder eine einseitig an russischen Interessen orientierte Positionierung zum Vorschein. Nur zu oft verbirgt die neue Flexibilität ein gezieltes Nutzen von Vorteilen, wo Moskau sie wahrnimmt. Ein unschönes Beispiel ist sein Hinhalten und Taktieren um das Kyoto-Protokoll, wo Russland offensichtlich darauf aus ist, seine Zustimmung möglichst teuer zu verkaufen, auch wenn dabei die Sache selbst Schaden nimmt. Manche sprechen von einer „Kommerzialisierung“ der russischen Außenpolitik, die den Brutalkapitalismus im Landesinneren nach außen spiegelt. Für unsere Partnerschaft mit Russland ist das nicht unproblematisch. Die Westbindung Russlands beruht bislang auf völlig einseitigen Motiven: auf der Suche nach möglichst günstigen Bedingungen für die Modernisierung und Stärkung des Landes. Die „multivektorale Politik“, von der heute in Moskau viel die Rede ist, hat gelegentlich zynische und egoistische Züge und bleibt ein Faktor der Unberechenbarkeit für die Partner des Landes.
2. Die neue Flexibilität der russischen Diplomatie darf auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich dahinter weiter viel „altes Denken“ verbirgt. Dies gilt besonders für die Partnerschaft mit den USA, aber ebenso für Russlands Engagement in der islamischen Welt. Da können einige Europhoriker verkünden, in der Sicherheitspartnerschaft mit den Vereinigten Staaten habe Moskau sogar bessere Karten als die EU. Solche Stimmen bleiben die Ausnahme. Die antiamerikanischen Reflexe in der politischen Klasse, aber auch in der Bevölkerung sitzen tief. Und die Kräfte in der russischen Bürokratie, die der traditionellen Konfrontation mit dem Westen verhaftet sind, sind weiterhin mächtig, vor allem als Verhinderer jedes konzeptionell neuen Denkens.
Noch sind die Begriffe Russland und Großmacht für die meisten Russen naturgegebene Synonyme, noch lebt der Traum von einem russischen „Sonderweg“ latent weiter. Russlands westliche Partner dürfen die reaktionären Kräfte im Land nicht unterschätzen: Russland ist noch nicht ganz in der „zivilisierten Welt“ angekommen – auch nicht im Denken seiner politischen Klasse.
3. Auch zwischen der EU und Russland klaffen Anspruch und Wirklichkeit noch zu oft auseinander. Tatsache ist, dass die Annäherung zwischen EU und Russland große Fortschritte gemacht hat. Vor allem wird die EU selbst seit Putin als wichtiger und eigenständiger Partner anerkannt. Die Lösung für den Kaliningrad-Transit und die Konzeption der „vier Räume“, in denen die Partnerschaft weiterentwickelt werden soll, zeigen, wie weit man gekommen ist.
Trotzdem bleibt eine große Fremdheit, die noch lange nicht überwunden ist. Auch fast zehn Jahre nach dem Partnerschafts- und Kooperationsabkommen verfolgen beide Seiten eine gänzlich unterschiedliche Vision von Partnerschaft: Während die EU vor allem eine Wertegemeinschaft auf allen gesellschaftlichen Ebenen anstrebt, sieht Russland in der EU an erster Stelle einen nützlichen Wirtschafts- und Modernisierungspartner. Im Poker um die „Euroisierung“ der russischen Energielieferungen und Moskaus Muskelspielen in den WTO-Verhandlungen kommt dies immer wieder klar zum Ausdruck.
Wie weit man voneinander entfernt ist, zeigt aber auch die Diskussion über „Trennlinien“ und Grenzen. Gerne klagt Präsident Putin laut über die „Schengen-Mauer“, doch daraus spricht vor allem eine gehörige Portion Larmoyanz. Für die Europäer geht es um ganz andere Trennlinien, die nicht mit Visastempeln beseitigt werden können, sondern sich überall dort zeigen, wo das „russische System“ sich von europäischen Werten abkehrt – in den Rückschritten in Demokratie und Meinungsfreiheit, in Korruption und organisierter Kriminalität, in unbefriedeten Unruheherden wie Tschetschenien.
Potemkinsche Dörfer
So selbstbewusst das „gefestigte Russland“ heute in der Welt auftritt, so widersprüchlich und labil erscheint es noch im Inneren. In Tschetschenien hat sich seit der Installierung von Achmed Kadyrow die Lage der Zivilbevölkerung in dramatischer Weise verschlimmert. Die ethnischen Säuberungen haben drastisch zugenommen, die Flüchtlingszahlen sind um ein Vielfaches angestiegen. Die Tschetschenen, die sich heute noch für eine politische Lösung des Konflikts einsetzen, werden immer stärker durch islamistische Extremisten verdrängt. Der islamistische Terror breitet sich in Russland immer weiter aus. Es stellt sich die Frage, ob nicht durch das russische Vorgehen in Tschetschenien ungewollt die Islamisten gestärkt werden. Das aber liegt weder im Interesse Russlands noch in dem des Westens. Deshalb ist eine politische Lösung dringend erforderlich, solange noch vernünftige Kräfte auf tschetschenischer Seite vorhanden sind. Beispielsweise könnten auf der Grundlage des 1997 zwischen Moskau und den Tschetschenen vereinbarten Friedensvertrags neue Gespräche mit allen Beteiligten über eine weitgehende Autonomieregelung im Rahmen des russischen Staatsverbands begonnen werden.
Im Hinblick auf Russlands Demokratie ist immer mehr die Rede von „Potemkinschen Dörfern“. Haben wir es auch hier mit „Imitaten“ zu tun, einer hübschen Fassade mit wenig dahinter? Diesmal ist es die Hauptstadt selbst, deren Fassaden am prächtigsten glänzen – und mit der Wirklichkeit der russischen Provinz wenig gemein haben. Das alte Moskau aus grauen Sowjetzeiten ist in wenigen Jahren zu einer faszinierenden Glitzermetropole geworden, deren Dynamik alles im übrigen Europa in den Schatten stellt. Moskau gehört heute zu den 50 teuersten Städten der Welt; zwei Drittel des gesamten russischen Einzelhandelsumsatzes entfallen auf die Zehn-Millionen-Metropole.
In vielem spiegelt die Boomstadt Moskau den erstaunlichen wirtschaftlichen Aufschwung der letzten Jahre wider. Seit fünf Jahren verzeichnet die russische Wirtschaft endlich Wachstumsraten, wie sie die mittel- und osteuropäischen Staaten Anfang der neunziger Jahre erlebten – im Jahr 2003 allein sechs Prozent; davon kann das „alte“ Europa nur träumen. Der nationale Haushalt ist stabil im Plus, die Industrieproduktion steigt, Außenhandel und Devisenreserven wachsen, und vor allem kommen endlich ausländische Direktinvestitionen ins Land (während das Kapital der eigenen Investoren ironischerweise weiter ungebremst ins westliche Ausland flüchtet). Nachdem die New Yorker Rating Agentur Moody’s Russland den begehrten Stern eines „investment grades“ verliehen hatte, war der russische Aktienindex kaum noch zu bremsen. Die chronischen Zahlungsausfälle des Schuldnerlandes Russland, die dramatische Finanzkrise, die das Land vor fünf Jahren erschütterte – all das schien vergessen, bis Putin mit der Krise um den Jukos-Konzern alles aufs Spiel setzte.
Von „gelenkter Marktwirtschaft“ ist seither die Rede – auch dies wieder ein typisch russischer Widerspruch. Die ehrgeizigen Ziele, die der Präsident dem Land vorgegeben hat – volle Mitgliedschaft in der WTO bis Ende 2004, Verdoppelung des Bruttoinlandsprodukts in den nächsten zehn Jahren – werden an dieser Realität zu messen sein.
Auch wenn die durchschnittlichen Realeinkommen gestiegen sind, zeigen sogar die offiziellen Statistiken (Goskomstat), dass 40 Millionen Menschen (ein Drittel der Bevölkerung) unter der Armutsgrenze leben – und dass sich die Kluft zwischen Arm und Reich unter Putin weiter vergrößert hat. Hinter den Glitzerfassaden Moskaus grassiert die Armut, nur dass Bürgermeister Jurij Luschkow Bettler, Obdachlose und Straßenkinder von den Straßen verbannt hat. In diesem Sinne ist Moskau heute wirklich ein großes potemkinsches Dorf. Grenzenlos wird die russische Armut in den Weiten des Landes, da wo Russland „bodenlos“ wird, wo sich frühere Industriestädte aufgelöst haben, wo Zehntausende von Dörfern vor sich hinsterben, wo Infrastruktur, Schulen und Krankenhäuser verfallen und die meisten Menschen bei „Demokratie“ nur an ungezahlte Löhne, Chaos und Elend denken.
Auch das Gesundheitswesen des Landes verkommt weiter, ist ungerüstet für neue Seuchen wie AIDS, das in Russland inzwischen die höchste Verbreitungsrate der Welt hat. Dramatische Folge der anhaltenden sozialen Krise ist der Bevölkerungsschwund Russlands: In zwölf Jahren ist die Bevölkerung um drei Millionen Menschen zurückgegangen. Die Lebenserwartung von Männern hat sich bei 58 Jahren eingependelt – AIDS, Tuberkulose und der ewige Alkoholismus dezimieren die Leistungsgeneration der 20- bis 30-Jährigen, an der die Zukunft des Landes hängt. Die Folgen sind schon heute abzusehen: ein chronischer Arbeitskräftemangel im Kampf um Wachstum, um regionale Entwicklung und die Erschließung der rohstoffreichen Weiten Sibiriens und des Fernen Ostens.
Gefährlich bleibt ebenfalls der „digitale Riss“, der Russland im Inneren durchtrennt. Zwar hat die Zahl der Internetbenutzer mit 11,5 Millionen im Jahr 2003 endlich die Zehnprozentmarke übersprungen, aber damit befindet sich Russland in den Statistiken immer noch gerade vor Argentinien und Brasilien und weit hinter allen europäischen Ländern. Die Regierung hat einen mit 2,4 Milliarden Dollar ausgestatteten Achtjahresplan für die Förderung von „E-Russland“ lanciert, aber es ist nicht absehbar, ob dies helfen wird, die schwerfällige Bürokratie des Landes zu modernisieren. Offiziell heißt es, dass jeden Monat 350 000 neue Surfer im russischen Netz registriert werden. Tatsache bleibt jedoch, dass der Großteil der russischen Bevölkerung immer noch keinen Anschluss an das „neue Russland“ findet. Nicht umsonst zeigte eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung im vergangenen Jahr die tiefe Unzufriedenheit der Mehrheit der Bevölkerung mit der sozialen Situation des Landes: Über 80 Prozent der Menschen sahen seit Putins Amtsantritt keine Verbesserungen, weder auf dem Arbeitsmarkt, noch in der Sicherheit oder im Kampf gegen die Korruption.
Die tieferen Risse in Russlands neuer Fassade werden sichtbar, wenn Putin vor der Duma in seiner Rede an die Nation proklamiert, er werde „eine nachhaltige Demokratie schaffen, wo politische und zivile Menschenrechte vollkommen garantiert sein werden.“ Die Wirklichkeit ist leider eine andere: Gerade unter ihm haben die wichtigen demokratischen Institutionen gefährliche Rückschläge erlitten, sind die ersten Ansätze einer Bürgergesellschaft wieder zurückgedrängt worden.
Eine „Diktatur des Gesetzes“ hatte der Präsident dem Land versprochen, aber der Rechtsstaat hat unter ihm keine Fortschritte gemacht. Die Chodorkowskij-Affäre hat nur grell beleuchtet, was die meisten Menschen im Land spüren: Staatliche Kontrolle und Willkür haben zugenommen, die Mechanismen von „checks und balances“ sind schwächer geworden – vor allem die Medien, die Justiz und die Duma, die seit den Wahlen im Dezember 2003 quasi ein Einparteienparlament ist, in dem die nach westlichem Verständnis demokratische Stimmen nur noch eine Art von demokratischer Dekoration sein können. Natürlich ist Russland keine Diktatur mehr, aber es ist in den letzten Jahren eben auch nicht demokratischer geworden.
Der zu starke Staat
Wie tief der restaurative Trend geht, zeigen die Analysen der Soziologin Olga Kryschtanowskaja. Die Wissenschaftlerin, die seit 14 Jahren die Zusammensetzung der Eliten des Landes untersucht, hat alarmierende Zahlen veröffentlicht: Danach hat in den staatlichen Strukturen des Landes (Kreml, Ministerien, regionale Bürokratien) ein wahrer Durchmarsch alter Kader aus den Militär- und Sicherheitsapparaten stattgefunden. Erstmals ist es heute wieder „in“, militärische oder geheimdienstliche Verbindungen zu haben. Dazu passt, dass der Wehrunterricht an russischen Schulen wieder Pflicht werden soll. Frau Kryschtanowskaja spricht von einer „Militarisierung“ der Verwaltungsstrukturen – mit allen autoritären und rückwärts gewandten Reflexen, die diese Kräfte verinnerlicht haben. Trotz einer gewissen Öffnung auf internationale Standards, sagt sie, ist bei dieser „Militokratie“ eines unausrottbar: der Impuls, alles über den Staat und seine Bürokratie zu kontrollieren.
Bereits heute drücken sich diese wieder aufgelebten Kontrollreflexe in den vielen „gelenkten Wahlen“ in Russland aus. Schon die Gouverneurswahl in St. Petersburg, wo Putins „Kronprinzessin“ Valentina Matwijenko auf den Thron gehievt wurde, hatte etwas Gespenstisches an sich. Was sollen die Menschen sagen, wenn der Präsident selbst das Wahlgesetz verletzt und sich offen für seine Favoritin stark macht? Angesichts der gleichgeschalteten Medien hatten auch der Wahlkampf für die Duma-Wahlen im Dezember 2003 sowie der für Putins Wiederwahl im März etwas Virtuelles – ganz zu schweigen von dem Referendum über eine neue tschetschenische Verfassung Ende März 2003 und der Präsidentenwahl in Tschetschenien im Oktober 2003, die absolute Farcen waren. Wer hätte gedacht, dass wenige Jahre nach dem demokratischen Aufbruch in Russland ein klassischer Spruch aus sowjetischen Zeiten wieder die Runde machen würde: „Sie tun so, als würden sie uns repräsentieren“ heißt es heute in etwas veränderter Form, „und wir tun so, als würden wir sie wählen.“
Noch klarer zeigt sich Putins „gelenkte Demokratie“ in den Medien. Vom Aufbruch der Glasnost-Jahre ist deprimierend wenig übrig geblieben. Pünktlich zum Duma-Wahlkampf wurde der letzte unabhängige überregionale Fernsehsender TVS ausgeschaltet und durch einen Sportkanal ersetzt. Ein dubioses Gesetz zum Verhalten der Medien im Wahlkampf ist sogar vom russischen Verfassungsgericht kritisiert worden. Damit sind alle landesweiten Sender wieder unter staatlicher Kontrolle, was man ihnen bei aller thematischen Vielfalt nur zu deutlich anmerkt. Die offiziösen Nachrichtensendungen erinnern nur zu sehr an „Ostalgie“ in Reinkultur. Kritische Journalisten kommen zunehmend unter Druck. Auch die Privatmedien – nominell sind landesweit 80 Prozent der Informationsforen in privater Hand – sind gefälliger und staatstreuer geworden. Die wenigen unabhängigen Zeitungen, die noch erscheinen, werden nur in Moskau gelesen; das Internet, das die Meinungsvielfalt am besten widerspiegelt, wird nur von einem kleinen Teil der Bevölkerung genutzt. Wie soll sich so eine kritische, informierte Öffentlichkeit entwickeln? Aber im Zeitalter des Putinismus ist öffentliche Meinungsvielfalt, das zeigt die Unterstellung des unabhängigen Meinungsforschungsinstituts WZIOM unter staatliche Kontrolle, leider offenbar kein Wert mehr.
Auf welche Werte stützt sich das „gefestigte Russland“ dann? Menschen- und Zivilrechte, die den Menschen über die Jahrhunderte mehr gefehlt haben als alles andere, haben sich trotz aller Lippenbekenntnisse wenig weiterentwickelt. Selbst Putin spricht von einer „großen Kluft zwischen den Verfassungsgarantien und den realen Möglichkeiten der Menschen“. In den letzten Jahren haben sich im Land Hunderttausende von nichtstaatlichen Organisationen herausgebildet, aber noch ist die russische Zivilgesellschaft ein zartes Pflänzlein.
Umso tragischer ist es, dass die Tschetschenien-Kriege und der 11. September 2001 diese fragilen demokratischen Rechte so schnell wieder ausgehöhlt haben. Putin zögert nicht, den Inlandsgeheimdienst FSB als Pfeiler der russischen Demokratie zu loben, aber die Wirklichkeit ist eine andere: Unter dem Deckmantel der Antiterrorbekämpfung haben bei den Sicherheits- und Polizeikräften Willkür, Korruption und Fremdenfeindlichkeit radikal zugenommen. Razzien gegen „Schwarze“ (Kaukasier, Zentralasiaten) sind an der Tagesordnung; aber auch andere politische Gruppen, vor allem Umweltaktivisten, spüren die harte Hand des Apparats. Auch die Bedingungen des Strafvollzugs und die Lage in den miserabel ausgestatteten Gefängnissen bleiben desolat, ganz zu schweigen von der immer noch katastrophalen Menschenrechtslage im Militär. Das Herz einer zivilen Selbsterneuerung Russlands wäre die Militärreform, meinen viele Menschenrechtler – aber mit ihr kommt auch Putin bisher kaum voran.
Gemeinsame Werte
All dies bedeutet eines: Der Putin-Apparat stützt sich wieder zunehmend auf die Kontrolle durch den Staat. Putins „gelenkte Demokratie“ verwaltet das Land wieder „von oben“, ohne die Gesellschaft, die eigenen Menschen als wichtigste Kraft für eine Modernisierung und Stärkung des Landes. Vertrauen in eine Veränderung „von unten“ hat in Russland keine Tradition, noch fehlt es an einem Denken in diesen Kategorien. Wie schwach die demokratischen Wurzeln auch in der Bevölkerung noch sind, zeigen jüngste Umfragen: In einer Befragung für das Weltwirtschaftsforum (Oktober 2003) gaben 61 Prozent an, eine florierende Wirtschaft sei die Hauptaufgabe der Regierung. Nur 13 Prozent sagten, das Wichtigste sei die Stärkung der Demokratie. Das war 1991 anders, als 51 Prozent der Russen einer demokratischen Regierung den Vorzug gaben. „Was alle wichtigen demokratischen Institutionen betrifft“, sagt der amerikanische Russland-Experte Michael McFaul, „so hat Putin Russland nicht gestärkt, sondern geschwächt“.
Für Russlands Zukunft ist das bedenklich. Für ein Europa auf der Suche nach einer Wertepartnerschaft mit Russland, auch im Hinblick auf die islamische Welt, ebenso. So wichtig die Bekämpfung von Terrorismus sowie wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Russland für den Westen sind, sie sind nicht alles. Ohne gemeinsame Werte sind dem Ausbau der Beziehungen Grenzen gesetzt. Wenn in Russland rechtsstaatliche Prinzipien und Menschenrechte verletzt werden, darf der Westen nicht wegschauen, sondern muss dies deutlich ansprechen. Denn wer wegschaut, kompromittiert seine eigenen Werte. Das hilft weder den Menschen in Russland, noch nützt es Präsident Putin.
Wir wollen Russland – wir wollen auch Putin – bei seiner Modernisierung helfen. Wir wollen ein stabiles Russland, zu dem wir gute Beziehungen haben. Aber wir wollen auch ein freies, demokratisches und rechtsstaatliches Russland. Bei aller Sympathie müssen auch für unseren Partner Russland ohne Ausnahme die Kriterien gelten, die wir auch sonst für verbindlich halten.
Internationale Politik 3, März 2004, S. 18-26
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