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31. März 2011

Mehr Demokratie wagen in Ägypten?

Von der Änderung der Verfassung profitieren alte Kräfte und die Islamisten

Es war die erste freie Wahl seit Jahrzehnten: Per Referendum durften die Ägypter entscheiden, ob, und wenn ja, welche Verfassungsänderungen sie wünschen. Aber schnell wurde klar: Gewählt wurde nach Religionszugehörigkeit. Und schon jetzt hat es die Opposition schwer, sich gegen Islamisten und die alten Kräfte der NDP durchzusetzen.

Es war die erste freie Wahl seit Jahrzehnten: Per Referendum durften die Ägypter entscheiden, ob, und wenn ja, welche Verfassungsänderungen sie wünschen. Aber schnell wurde klar: Gewählt wurde nach Religionszugehörigkeit. Und schon jetzt hat es die Opposition schwer, sich gegen Islamisten und die alten Kräfte der NDP durchzusetzen. Soll die Amtsperiode des Präsidenten von bislang sechs auf vier Jahre gekürzt werden? Sollen ihm nur noch zwei Amtszeiten erlaubt sein? Soll eine neue Verfassung schon sechs Monate nach den nächsten Parlamentswahlen erarbeitet und verabschiedet werden und vor allem: Sollen die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen schon im September dieses Jahres abgehalten werden? Das waren einige der Fragen, über die der Militärrat – seit Mubaraks Rücktritt am 11. Februar die regierende Macht des Landes – in einem ersten Schritt in Richtung Demokratisierung per Referendum abstimmen ließ.

Die Volksabstimmung vom 19. März entpuppte sich jedoch vor allem als weiteres Beispiel für die religiöse Kluft in Ägypten. Angesichts des geringen Wissensstands zum Inhalt einer Verfassungsänderung und seinen Implikationen für die politische Zukunft Ägyptens polarisierten sich die Meinungen der Befürworter und Gegner der Reform auf rein religiöser Basis.

Die überwältigende Mehrheit der koptischen Christen stimmte gegen die Reform. Sie und andere Gegner, vor allem junge Reformer, verbanden mit der Abstimmung die Hoffnung, dies könne eine Revision der gesamten Verfassung bewirken. Sie fordern auch eine Revision von Artikel zwei, der „den Islam als Staatsreligion und die Scharia als Hauptquelle der Gesetzgebung“ festlegt. Andere begründeten ihre Opposition schlicht mit der Tatsache, dass vor allem die Islamisten eine massive Kampagne geführt hatten, um die Bevölkerung dazu zu bewegen, der Verfassungsänderung zuzustimmen.

Die Muslimbrüder hatten zunächst einen strukturellen Vorteil: Sie sind in allen Regionen Ägyptens präsent und konnten die Bevölkerung für die Reform mobilisieren. Und sie erklärten die Wahl für die Verfassungsänderung zu einer Frage des „Gehorsams vor Gott und seinem Propheten“. Auf diese Weise überzeugten sie die Mehrheit der ägyptischen Muslime, dass die Zustimmung zur Reform ihre „religiöse Pflicht“ sei. So bewahre die Verfassungsänderung Artikel zwei, welchen die Christen abzuschaffen suchten. Für gebildetere Bevölkerungsschichten führten sie hingegen das Argument an, die Verfassungsänderung sichere die politische Stabilität und helfe Ägypten bei seiner weiteren Reform. Ironischerweise – und völlig unabhängig vom Inhalt der Verfassungsänderung selbst – resultierte die Polarisierung der weniger gebildeten Gesellschaftsschichten in einem Szenario, in dem Christen gegen eine Verfassungsänderung stimmten, weil die Islamisten dafür stimmten, und die Muslime dafür stimmten, weil die Christen dagegen stimmten! 18 Millionen Ägypter nahmen am Referendum teil, die Wahlbeteiligung betrug 41 Prozent. Noch nie war die politische Partizipation in Ägypten so hoch. 77,2 Prozent der Bevölkerung stimmten für eine Änderung der Verfassung, 22,8 Prozent dagegen.

Wo stehen politische Parteien und Intellektuelle?

Die meisten Intellektuellen und Rechtsexperten lehnten die neun Änderungsvorschläge des Verfassungskomitees ab. Sie kritisierten aber auch den Prozess selbst, vor allem die Tatsache, dass das Verfassungskomitee durch den Militärrat gebildet und nicht durch das Volk gewählt wurde. Neben den Intellektuellen vertraten auch die meisten politischen Parteien – allen voran die liberale New Wafd-Partei – diese Meinung. Zusätzlich schloss sich die aus der Revolutionsbewegung im Januar entsprungene „Coalition of the Revolution Youth“, deren Ziel die Repräsentierung der ägyptischen Jugend ist, ebenfalls der Opposition an. Dieses waren die Hauptgründe für die Ablehnung der Verfassungsänderungen:

1. Als Fundament für ein neues demokratisches Ägypten reichen die geänderten neun Artikel nicht aus, notwendig wäre eine Revision der gesamten Verfassung. Zwar schränken einige der Änderungen die quasi-absolute Macht des Präsidenten ein. Jedoch gesteht die Verfassung dem Staatschef noch immer die Kontrolle der anderen Befehlsgewalten zu und bildet somit weiterhin die rechtliche Basis für ein potenziell autoritäres Regime.

2. Der veränderte Artikel 75 legt in seiner neuen Formulierung fest, dass alle Präsidentschaftskandidaten ägyptische Staatsbürger sein müssen. Weder der Kandidat selbst noch dessen Eltern dürfen in der Vergangenheit je eine andere Staatsbürgerschaft besessen haben. Darüber hinaus darf er nicht mit einer Frau verheiratet sein, die nicht die ägyptische Staatsbürgerschaft besitzt. Dieser Artikel wurde vor allem aus zwei Gründen scharf kritisiert: Erstens handele es sich hierbei nach Meinung der Kritiker um maßgeschneiderte Einschränkungen, die ganz bestimmten Personen gezielt die Präsidentschaftskandidatur verwehren sollen. So ging das Gerücht, Mohammed el Baradei sei mit einer nichtägyptischen Frau verheiratet, was sich später, zum Verdruss seiner Gegner, als falsche Information herausstellte. Der Wissenschaftler und Nobelpreisträger für Chemie Ahmad Zewail, der ebenfalls als potentieller Präsidentschaftskandidat gehandelt wird, besitzt die ägyptische und die amerikanische Staatsbürgerschaft. Ihm könnte deshalb eine Kandidatur verwehrt werden. Zweitens impliziert die neue Formulierung des Die meisten Intellektuellen und Rechtsexperten lehnten die Änderungsvorschläge des Verfassungskomitees ab Artikels, dass der Präsidentschaftskandidat männlich sein muss, was zwei grundlegende konstitutionelle Prinzipien verletzt: das Prinzip der Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie das Prinzip der Chancengleichheit für alle Bürger.

3. Artikel 87 der Verfassung, der bestimmt, dass mindestens 50 Prozent der gewählten Parlamentsmitglieder Arbeiter und Bauern sein müssen, bleibt unverändert. Dieser Artikel wird allgemein als Hindernis für eine starke Legislative gesehen, welche die Exekutive wirksam kontrollieren könnte.

4. Intellektuelle und alle politischen Parteien sind sich einig, dass eine Neuformulierung der Verfassung durch ein gewähltes Komitee notwendig ist. So wurde ein neuer Paragraf zu Artikel 189 hinzugefügt, der eine Neuformulierung der Verfassung durch das Parlament garantieren soll. Die Formulierung des abgeänderten Artikel 189 bleibt jedoch sehr vage und Experten betonten, dass aufgrund der umständlichen Wortwahl die tatsächliche Durchführung dieses Prozesses nicht verbindlich sei.

5. Letztlich stellten sich Kritiker auch gegen die Verfassungsänderung, da vor allem zwei Mächte von schnellen Parlamentswahlen wesentlich profitieren werden: zum einen die Islamisten, die am besten organisierte Macht in der ägyptischen Gesellschaft. Und zum andern Führungskräfte zweiten Ranges der zerfallenen National Democratic Party, die noch immer politisch agiert und über die Mehrheit der Sitze in lokalen, öffentlichen und exekutiven Räten im ganzen Land verfügt. Diese Räte wurden nach der Januar-Revolution nicht aufgelöst. Darüber hinaus schlossen Ex-NDP-Führungskräfte und die Muslimbrüder wenige Tage vor dem Referendum eine Koalition, um die breite Öffentlichkeit zur Befürwortung der Verfassungsänderungen zu bewegen. Dies zeige nach Meinung der politischen Parteien und der „Coalition of the Revolution Youth“, dass die vorgeschlagene Verfassungsänderung die alte Verfassung samt seiner Mängel wiederbeleben und schnell zu einer parlamentarischen Mehrheit für die alten Kräfte der NDP und die nun nicht mehr verbotene Muslimbrüderschaft führen werde.

Die Ergebnisse des Referendums demonstrieren die schockierende Tatsache, dass das politische Gewicht der meisten Parteien, der „Youth Coalition“, der meisten Intellektuellen und der Christen gerade einmal 22,8 Prozent der Stimmen beträgt. Nach dem Ausgang der Volksabstimmung ist eine intensive Zusammenarbeit dieser Kräfte notwendig, um ihren politischen Einfluss vor den anstehenden Parlamentswahlen wesentlich zu stärken. Sollte sich eine Koalition zwischen Islamisten und Ex-NPDFührungskräften, wie sie vor dem Referendum zustande kam, jedoch nochmals bilden, bliebe eine nennenswerte Repräsentierung der Opposition eine „mission impossible“. Die Ergebnisse des Referendums zeigen, dass die Opposition nur über 22,3 Prozent der Stimmen verfügt.

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