Massenproteste für mehr Rechtstaatlichkeit
In Serbien kommt es seit Monaten zu Großdemonstrationen gegen das Regime von Aleksandar Vučić. Brüssel und Berlin sollten klar Position beziehen.
Es war kurz vor Mittag, als am 1. November 2024 das Vordach des Bahnhofs von Novi Sad, Hauptstadt der serbischen Region Vojvodina, einstürzte. Sechzehn Menschen kamen ums Leben. Was zunächst wie ein tragischer Unfall aussah, entwickelte enorme politische Sprengkraft.
Denn der Bahnhof, der an der teilweise bereits eröffneten Hochgeschwindigkeitsstrecke Belgrad-Budapest und damit auch auf Chinas Neuer Seidenstraße liegt, war frisch renoviert und erst im Juli 2024 wiedereröffnet worden. Bevor es zu der Katastrophe kam, hatte ein beteiligter Ingenieur vor Mängeln bei der Ausführung der Bauarbeiten gewarnt. Die Verträge, die mit einem Konsortium chinesischer Firmen abgeschlossen worden waren, wurden nie öffentlich gemacht. Die Kosten für die Renovierung des Bahnhofs galten als zu hoch, was den Verdacht nahelegt, dass Korruption im Spiel war.
„Wir stehen alle unter dem Dach“, lautet ein Slogan der Proteste, die sich in Reaktion auf den Einsturz des Bahnhofsvordachs formierten. Er bringt ein in der serbischen Bevölkerung weit verbreitetes Gefühl zum Ausdruck: dass es jeden und jede hätte treffen können. Die zunächst von Studierenden der serbischen Universitäten getragene Protestbewegung weitete sich rasch aus; sie schrieb sich Unparteilichkeit und Gewaltlosigkeit auf die Fahnen und gewann innerhalb kurzer Zeit breite gesellschaftliche Unterstützung.
Proteste im ganzen Land
Die Demonstrationen beschränken sich nicht auf die großen Städte. Bis Anfang März 2025 erstreckten sie sich auf rund 400 Orte in ganz Serbien. In landesweiten Protestmärschen und Streiks zogen die Aktivistinnen und Aktivisten auch in Dörfer, in die sich seit Jahren kein Politiker mehr verirrt hatte. An der bislang größten Kundgebung am 15. März nahmen laut Auswertungen des Public Assembly Archive rund 300 000 Menschen teil (die Angaben der serbischen Polizei beliefen sich auf lediglich 107 000). Die Mobilisierung dürfte damit größer sein als bei den Protesten, die im Herbst des Jahres 2000 zum Sturz des Milošević-Regimes führten. Viele sprechen von einer noch nie dagewesenen Aufbruchsstimmung, von Hoffnung und Solidarität. Tatsächlich bringen die Proteste ungewöhnliche Allianzen hervor. So stellten sich Biker, Bauern, Taxifahrer und so mancher Kriegsveteran auf die Seite der Studierenden.
Die aktuelle Protestbewegung entstand nicht in einem Vakuum. Schon in den vergangenen Jahren kam es in Serbien immer wieder zu Protestwellen: im Mai 2023 gegen das Klima der Gewalt im Land (Auslöser waren zwei Schießereien, eine davon ein Amoklauf an einer Belgrader Grundschule); im Dezember 2023 gegen den Wahlbetrug bei den serbischen Parlaments- und Lokalwahlen; und gegen den Abbau des begehrten Rohstoffs Lithium im Jadar-Tal, der über die Köpfe der Anwohner hinweg entschieden wurde.
Die Katastrophe von Novi Sad war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. In den Protesten und Streiks kanalisiert sich der Unmut über die politisch Verantwortlichen, allen voran Präsident Aleksandar Vučić, der mit seiner Serbischen Fortschrittspartei (SNS) autokratisch regiert.
Die Willkür soll ein Ende haben
Die Forderungen der Studierenden, die die Protestbewegung anführen und weiterhin die Universitäten des Landes besetzt halten, sind einfach und kompliziert zugleich: Alle Unterlagen zur Bahnhofsrenovierung sollen offengelegt und jene juristisch belangt werden, die für die Katastrophe und später für Gewalt gegen Studierende, Lehrpersonal und andere Demonstrierende verantwortlich sind.
Die Bewegung verlangt nicht etwa den Rücktritt von Präsident Vučić oder die Aufnahme des Landes in die EU. Verfassung und Gesetze sollen eingehalten werden, die staatlichen Institutionen ihren Aufgaben nachkommen. Doch genau damit geht es ihr um nichts weniger als Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und gute Regierungsführung, kurz: um den systematischen Wandel, der in Serbien trotz jahrelanger EU-Beitrittsvorbereitungen weiter auf sich warten lässt.
Die Bahnhofskatastrophe von Novi Sad war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte
Die Regierung signalisierte, dass man den Forderungen der Studierenden nachkommen werde. Ob dies ausreichend und schnell genug passiert, darüber scheiden sich die Geister. Im Mai 2025 fügten die Studierenden ihren Forderungen schließlich eine weitere hinzu: jene nach vorgezogenen Parlamentswahlen (regulär würden diese erst wieder 2027 stattfinden). Damit adressieren sie, was Kritikerinnen und Kritiker der Bewegung bisher als ihren größten Schwachpunkt auslegten: dass die Proteste keinen politischen Ausdruck finden.
In den vergangenen Jahren hatte Vučić es sich zur Gewohnheit gemacht, die Macht der Regierungspartei durch vorgezogene Neuwahlen abzusichern, zuletzt 2022 und 2023. Ob er auch diesmal zu den Urnen rufen wird, ist jedoch fraglich. Denn die Studentenbewegung erfährt nach wie vor starken Rückhalt in der Bevölkerung. 60 Prozent unterstützten laut einer Umfrage des Center for Research, Transparency and Accountability (CRTA) im April 2025 die Proteste, 36 Prozent verurteilten sie. Gleichzeitig gaben 59 Prozent der Befragten an, kein Vertrauen in die Regierungsparteien zu haben. Das Misstrauen gegenüber den Oppositionsparteien belief sich gar auf 73 Prozent. Bei Parlamentneuwahlen könnte die Protestbewegung ihre eigene Liste aufstellen und vor dem Hintergrund dieser Zahlen auf einigen Erfolg hoffen. Jedoch dürfte Vučić auf Zeit spielen und auf ein Auslaufen der Proteste im Sommer setzen.
Das Serbien-Dilemma der EU
Die EU erwischt die Protest- und Streikwelle auf dem falschen Fuß. Denn die Serben fordern die Substanz ein, an der es dem EU-Beitrittsprozess seit langem fehlt. Liest man den jährlichen Länderbericht für Serbien, den die Europäische Kommission zuletzt im Oktober 2024 herausgab, gewinnt man den Eindruck, das Land befinde sich grosso modo auf einem guten Reformweg – auch wenn es um Demokratie und Rechtsstaatlichkeit geht.
Gerade letztere wurden in Serbien in der Ära Vučić aber systematisch zurückgedreht. Seit 2020 gilt Serbien im Ranking der NGO Freedom House nicht mehr als Demokratie, sondern als Hybridregime – ein Staat, der Elemente von Demokratie und Autokratie vereint. Der Aufschrei aus Brüssel blieb auch aus, als die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) bei den Parlamentswahlen 2023 massive Unregelmäßigkeiten feststellte. Es scheint, als würde sich die EU, wie der Belgrader Politikwissenschaftler Nikola Burazer es nennt, in einem Parallel-
universum bewegen.
Der Umgang mit Serbien illustriert ein klassisches Dilemma der EU-Erweiterungspolitik. Lange galt Präsident Vučić als Garant für die geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen der EU im Westbalkan. Zwar ist Serbiens Weigerung, sich den EU-Sanktionen gegen Russland anzuschließen, der wohl größte Schmerzpunkt in den bilateralen Beziehungen. Gleichzeitig liefert Belgrad aber im Hintergrund Waffen und Munition an die Ukraine.
Serbien, das größte Land des Westbalkan, galt unter Vučić lange als Garant regionaler Stabilität
Serbien, mit knapp sieben Millionen Einwohnern das größte Land im Westlichen Balkan, soll die regionale Stabilität gewährleisten, sei es in Bosnien-Herzegowina, wo die sezessionistischen Tendenzen des serbischen Landesteils Republika Srpska eine neue Eskalationsstufe erreicht haben, in Montenegro, wo sich rund ein Drittel der Bevölkerung als serbisch deklarieren, oder im Kosovo, dessen Unabhängigkeit Belgrad nicht anerkennt.
Auch mit Blick auf den strategisch bedeutenden Rohstoff Lithium und auf die Migration über die Westbalkanroute ist Serbien ein wichtiger Partner. Zu Vučić wegen fehlender Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auf Konfrontation zu gehen, so die Befürchtung in Brüssel, könnte eine Abwendung Belgrads von der EU zur Folge haben. Russland, China oder auch die USA könnten davon profitieren.
Die deutsche Außenpolitik scheint derweil zwischen der Unterstützung einer demokratischen Transformation in Serbien, wie sie die EU-Beitrittskriterien verlangen, und geopolitischen Überlegungen hin- und hergerissen. Im Nachgang zu den Parlaments- und Lokalwahlen vom Dezember 2023 verlautbarte das Auswärtige Amt auf der Social-Media-Plattform X, dass die von Seiten der OSZE festgestellten Wahlmanipulationen für ein Land mit EU-Kandidatenstatus inakzeptabel seien – und wurde prompt von Vučić für diese „Einmischung“ gescholten.
Auf die Worte aus Berlin folgten keine Taten. Im Juli 2024 besuchte der damalige Bundeskanzler Olaf Scholz Serbien, um mit Präsident Vučić und dem für Handelsfragen zuständigen Vize-
präsidenten der EU-Kommission, Maroš Šefčovič, öffentlichkeitswirksam die Rohstoffpartnerschaft zwischen Serbien und der EU zu präsentieren. Gerade der Abbau von Lithium ist in der serbischen Bevölkerung aber äußerst umstritten. Zwar soll mit hohen Umwelt-, Sozial- und Governance-Standards die Nachhaltigkeit des Rohstoffabbaus garantiert werden. Angesichts des tiefen Misstrauens in die staatlichen Institutionen sind die Befürchtungen aber groß, dass diese Anforderungen nur auf dem Papier stehen werden.
Das Ende des EU-Kuschelkurses?
Die Reaktion der EU auf die Protestwelle fiel zunächst zurückhaltend aus. Im Januar 2025 besuchte Gert Jan Koopman, Generaldirektor für Europäische Nachbarschaftspolitik und Erweiterungsverhandlungen, Belgrad, ohne die Proteste mit einem Wort zu erwähnen. War EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im Oktober 2024 bei ihrem Serbien-Besuch noch voller Lob für die Fortschritte im EU-Beitrittsprozess, richtete sie nach ihrem Treffen mit Präsident Vučić im März 2025 schriftlich aus, Serbien müsse entscheidende Schritte in Richtung Medienfreiheit, Korruptionsbekämpfung und einer Wahlrechtsreform unternehmen. Neue Töne waren beim Besuch von EU-Erweiterungskommissarin Marta Kos Ende April in Belgrad zu vernehmen. Was die EU anstrebe, so Kos, sei den Forderungen der Menschen, die in Serbien auf die Straße gingen, „sehr ähnlich“. Auch das Zurückhalten einer ersten Tranche von 111 Millionen Euro, die im Rahmen des EU-Wachstumsplans an Serbien fließen sollten, zeigen an, dass Brüssel gegenüber dem Vučić-Regime eine härtere Gangart einlegen könnte.
Wenn es der neuen Bundesregierung ernst ist mit der EU-Erweiterung, muss der Schutz europäischer Grundwerte auch für Kandidatenländer gelten
Klarer als Kommission und Rat positionierte sich das Europäische Parlament, das die demokratischen Defizite in Serbien seit Jahren kritisiert und die vollumfängliche Aufklärung der Vorgänge rund um den Einsturz des Novi Sader Bahnhofsvordachs und den mutmaßlichen Einsatz von Schallwaffen bei den Protesten vom 15. März forderte. Noch mehr als die Erosion demokratischer Strukturen im Land schien es Vučićs Besuch der Moskauer Militärparade am 9. Mai zu sein, der in Brüssel und den EU-Hauptstädten für Irritationen sorgte und die Zweifel an seiner EU-Orientierung wachsen lässt.
In Serbien ist EU-Skepsis mittlerweile weit verbreitet. Beflügelt wird das schlechte Image der EU zum einen durch die jahrelange negative Berichterstattung in den staatlich kontrollierten Medien. Zum anderen haben aber auch Menschen, die Serbiens europäische Integration befürworten, den Glauben verloren, dass die EU den Beitrittsprozess glaubwürdig verfolgt und vor allem für die viel beschworenen europäischen Werte einsteht. Und doch hatte eine Gruppe Studierender, die sich im April 2025 mit dem Fahrrad auf den Weg quer durch Europa machte, Straßburg zum Ziel. Eine andere legte die fast 2000 Kilometer zwischen Belgrad und Brüssel laufend zurück. Das ist auch als Appell an die EU zu verstehen, die Missstände im Land nicht länger zu ignorieren.
Ein demokratisches Serbien
Wenngleich die EU der Autokratisierung Serbiens lange zugeschaut hat, sollte spätestens jetzt die Erkenntnis gereift sein, dass die demokratische Entwicklung des größten EU-Kandidatenlandes im Westlichen Balkan kein „Nice to have“ ist. Vielmehr liegt sie im unmittelbaren, auch geopolitischen Interesse Deutschlands und der EU.
Ohnehin darf bezweifelt werden, dass Vučić ein Garant für Stabilität ist. Durch Serbiens Schaukelpolitik wird die Einflussnahme Russlands und Chinas schon jetzt massiv begünstigt. Vučićs Rolle gegenüber den Nachbarländern, insbesondere Bosnien-Herzegowina, Montenegro und Kosovo, wo Serbien direkt als Konfliktpartei involviert ist, ist höchst umstritten. Nicht zuletzt sind die Massenproteste, die das Land lähmen und die wirtschaftliche Entwicklung bremsen, eine direkte Konsequenz von Korruption und Misswirtschaft. Dies führt zu der Erosion der politischen und gesellschaftlichen Strukturen, für die der Einsturz des Bahnhofsvordachs von Novi Sad symbolisch steht.
Die neue deutsche Bundesregierung wird sich entscheiden müssen, ob sie Serbien lediglich als Lieferant von Rohstoffen, als Stabilitätsfaktor in Südosteuropa und Gatekeeper der Westbalkanroute sehen möchte – oder ob sie den Ruf der serbischen Bevölkerung nach Demokratie und Rechtsstaatlichkeit unterstützt. Im Koalitionsvertrag bekennt sie sich zum nachdrücklichen Schutz der EU-Grundwerte und kündigt an, künftig noch konsequenter gegen Rechtsstaatsverstöße vorgehen zu wollen. Ist es Deutschland ernst mit der EU-Erweiterung, muss diese Logik auch für die Kandidatenländer gelten.
Internationale Politik 4, Juli/August 2025, S. 84-88
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