Madrid im Wartestand
Weil ein blockiertes Parteiensystem die Regierungsbildung verhindert, fehlt Spanien in Europa die nötige Handlungsfreiheit.
Am 10. November wird in Spanien erneut gewählt – zum vierten Mal in vier Jahren. Der amtierende Ministerpräsident und Chef der Sozialisten Pedro Sánchez ist nach monatelangen Verhandlungen damit gescheitert, seinen im Mai dieses Jahres errungenen Wahlsieg in eine stabile Regierungsmehrheit umzumünzen. Die Innenpolitik hält Spanien damit wieder fest im Griff. Für Europa bedeutet dies, weiter zu warten. Der europapolitische Aufbruch, den Sánchez ausgerufen hatte, ist erst einmal passé – und das, nachdem das Land gerade seine Stimme in der EU wiedergefunden hatte.
Sánchez hatte im Juni 2018 in einem überraschenden Misstrauensvotum den konservativen Ministerpräsidenten Mariano Rajoy abgelöst. Im April wurde er dann zum strahlenden Wahlsieger, der den großen progressiven Aufbruch verhieß und ein neues Spanien ausrief. Doch die politischen Lager standen sich weiter unversöhnlich gegenüber und konnten sich nicht auf eine Regierungsbildung einigen.
Dabei braucht Spanien dringend eine neue Regierung. Die aktuellen Herausforderungen dulden keinen Stillstand. Kurzfristig geht es darum, endlich einen Haushalt für das Jahr 2019 zu verabschieden. Doch auch die weiterhin hohe (Jugend-) Arbeitslosigkeit, die leeren Rentenkassen und das Konfliktpotenzial eines wachsenden Stadt-Land-Gefälles gilt es anzugehen. Ebenso erfordert die Gefahr einer sich anbahnenden europäischen Rezession, die von den Auswirkungen des Brexits und internationalen Handelskonflikten befeuert wird, rasche Handlungsfähigkeit – zumal sich Spanien gerade erst von den Folgen der vergangenen Wirtschaftskrise erholt hat. Zudem droht die Katalonienkrise erneut zu eskalieren: Eine weitere Protestwelle könnte das Land erfassen, nachdem der Oberste Gerichtshof die inhaftierten Separatistenführer, die hinter der einseitigen Unabhängigkeitserklärung Kataloniens im Jahr 2017 standen, verurteilt hat.
Auch Europa braucht Spanien als konstruktive und engagierte Kraft zur Bewältigung drängender Herausforderungen. Dies unterstrich Außenminister Heiko Maas bereits im November 2018 bei seinem Besuch in Madrid. Paris sieht in Spanien ebenfalls einen wichtigen Verbündeten, da sich andere Mitgliedstaaten wie Großbritannien, Polen und Italien immer mehr abwenden. Als demografische sowie auch wirtschaftliche Nummer vier in einer Post-Brexit-EU hinter Deutschland, Frankreich und Italien bringt Spanien die besten Voraussetzungen mit, um in das Machtvakuum auf europäischer Ebene zu stoßen.
Jede künftige spanische Regierung kann sich auf einen breiten proeuropäischen Konsens in der Bevölkerung stützen, der selbst die Krisenjahre überdauert hat. Während Rechtspopulisten und Europaskeptiker in anderen Ländern Wahlerfolge verzeichnen und sogar schon Regierungsverantwortung übernommen haben, bildete Spanien lange Zeit eine Ausnahme. Zwar schaffte mit Vox in den Parlamentswahlen vom April 2019 zum ersten Mal seit Ende der Franco-Diktatur eine rechtspopulistische Partei den Einzug ins Parlament – doch selbst diese stellt den proeuropäischen Grundkonsens nicht infrage. Dies verschafft jeder Regierung in Madrid ein starkes Mandat in der Debatte um die Zukunft der EU.
Von der Innen- zur Europapolitik
Ministerpräsident Sánchez hat in dem kurzen Zeitraum seit seinem Amtsantritt im Juni 2018 trotz fehlender parlamentarischer Mehrheit und nur geringem politischem Handlungsspielraum viel dazu beigetragen, dass die europäischen Partner Spanien wieder als ernst zu nehmenden Akteur akzeptierten. Sein Vorgänger Mariano Rajoy hatte sich gezwungenermaßen fast gänzlich der Innenpolitik zugewandt: Zum einen musste er in der Wirtschaftskrise, die neben wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen auch die politische Glaubwürdigkeit und den Einfluss des Landes auf europäischer Ebene beschädigt hatte, ein hartes Sparprogramm und Strukturreformen durchführen. Zum anderen erforderte die Eskalation der Katalonienkrise volle Aufmerksamkeit.
Sánchez vollzog einen Kurswechsel. Die wirtschaftliche Konsolidierung des Landes mit überdurchschnittlichen Wachstumsraten sowie mehr Dialog und Entspannung in der Katalonienfrage ermöglichten es ihm, Spanien selbstbewusst als konstruktiven Akteur und verlässlichen Partner zu kommunizieren.
Dies zeigte sich erstens in der Zusammensetzung seines europaerfahrenen Kabinetts. So war Außenminister Josep Borrell von 2004 bis 2007 Präsident des Europäischen Parlaments; Wirtschaftsministerin Nadia Calviño und Landwirtschaftsminister Luis Planas brachten ebenfalls Brüssel-Erfahrung mit. Auch Sánchez hat einen proeuropäischen Kompass, der von seinem internationalen Werdegang geprägt ist: Er arbeitete im Europäischen Parlament, für die EU in Bosnien-Herzegowina und spricht im Gegensatz zu seinen Vorgängern fließend englisch und französisch.
Zweitens wirkte Sánchez aktiv an europäischen Entscheidungsprozessen mit, vor allem in der Migrations- und Asylpolitik. So erlaubte er das Anlaufen des Rettungsschiffs Aquarius mit über 600 Menschen an Bord im Hafen von Valencia. Spanien war zudem das erste Land, mit dem Bundesinnenminister Horst Seehofer ein bilaterales Rückführungsabkommen abschließen konnte. Für Sánchez war die europäische Migrationspolitik ein Schwerpunktthema, bei dem sich großes Kooperationspotenzial zwischen Madrid und Berlin abzeichnete, da beide Länder sehr interessiert an einer gesamteuropäischen Lösung sind.
Wichtig war auch, dass Sánchez mit der Ernennung Nadia Calviños zur Wirtschaftsministerin Verlässlichkeit signalisierte. Vor ihrem Wechsel nach Madrid leitete Calviño die Generaldirektion Haushaltsplanung in der Europäischen Kommission und stellte damit für Brüssel und die EU-Partner eine glaubwürdige Fortführung der Konsolidierungspolitik ihres Landes dar.
Gleichzeitig teilte der spanische Ministerpräsident die Ideen des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron für eine Vertiefung der Eurozone und die Finalisierung der Bankenunion. In einem Non-Paper mit Vorschlägen für die strategische Agenda der Europäischen Union, das Sánchez im Mai beim Rat in Sibiu vorstellte, setzte er sich darüber hinaus für eine Stärkung der sozialen Dimension der EU ein; er legte einen Schwerpunkt auf Klimaschutz und forderte die Vollendung einer Wirtschafts-, Sozial- und politischen Union.
Spätestens im Machtpoker der Staats- und Regierungschefs über die Besetzung der EU-Spitzenposten im Juni zeigte sich dann Spaniens neuer Stellenwert. Sánchez forderte ein hochrangiges Portfolio für Spanien und agierte auch als Verhandlungsführer der europäischen Sozialdemokraten. Mit Erfolg: Sein Außenminister Borrell wurde zum Nachfolger Federica Mogherinis als Hoher Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik ernannt; der italienische Sozialdemokrat David-Maria Sassoli wurde Präsident des EU-Parlaments.
Müssen die europäischen Partner wegen der Neuwahlen nun ihre Erwartungen an Spanien herunterschrauben? Gewiss nicht. Denn trotz großer parteipolitischer Polarisierung gibt es einen bemerkenswerten Konsens darüber, dass die EU Spaniens außenpolitische Priorität ist.
In drei proeuropäischen Parteienfamilien ist der spanische Einfluss deutlich gestiegen: Bei den Sozialdemokraten stellt die spanische Delegation der PSOE inzwischen die stärkste Gruppe und mit Iratxe García Pérez auch die Fraktionsvorsitzende. In der Europäischen Volkspartei sind die spanischen Abgeordneten der Partido Popular nach ihren deutschen Kollegen die zweitgrößte Delegation. In der liberalen Renew Europe sind die Europaabgeordneten von Ciudadanos dritte Kraft nach den britischen Liberal Democrats und der französischen La République en Marche. Darüber hinaus wird Spanien fünf weitere Sitze im Europäischen Parlament erhalten, wenn das Vereinigte Königreich aus der EU austritt. Dadurch soll der mangelnden Proportionalität von Parlamentssitzen entgegengewirkt werden, durch die Spanien aktuell als einer von mehreren größeren Mitgliedstaaten benachteiligt ist.
Unfähig zur Koalition
Doch klar ist auch: Der innenpolitische Schaden sowie der internationale Ansehensverlust, der durch die gescheiterten Koalitionsverhandlungen entstanden ist, sind gewaltig. Die gewachsene Erwartungshaltung der europäischen Partner an Spanien ist in sich zusammengefallen. Die Koalitionsunfähigkeit aller politischen Parteien ist sowohl den eigenen Wählern als auch den Europäern nur schwer zu vermitteln.
Das Ende des Zweiparteiensystems hat die Aufgabe, politische Mehrheiten zu organisieren und Koalitionen zu bilden, zu einer besonders großen Herausforderung gemacht. Dabei sind die rasanten Veränderungen und Fragmentierungstendenzen des Parteiensystems sowie die damit einhergehenden Schwierigkeiten einer Koalitionsbildung nicht nur in Spanien zu beobachten. Ähnliche Trends sieht man auch in Frankreich, Italien, den Niederlanden, Griechenland oder Schweden. Der Unterschied liegt jedoch darin, dass sich die politischen Akteure in Spanien bisher keinen Zentimeter aufeinander zubewegt haben. Die unklaren politischen Mehrheitsverhältnisse dauern bereits seit 2015 an und haben seitdem kein einziges Mal zu einer Einigung geführt.
Sánchez’ Strategie wird nun darauf abzielen, den Stimmenanteil für seine PSOE noch einmal zu erhöhen und dann entweder in Zusammenarbeit mit einer geschwächten Podemos oder aber mit den liberalen Ciudadanos eine Regierung zu bilden. Der Chef von Ciudadanos, Alberto Rivera, zeigt sich inzwischen offen, unter gewissen Umständen eine PSOE-Regierung zumindest zu tolerieren. Ob Neuwahlen tatsächlich klare Verhältnisse schaffen können, bleibt jedoch weiter unklar – die Umfragen deuten nicht unbedingt darauf hin, dass sich die Pattsituation auflösen wird.
Damit wird Spanien wieder in seinen Bestrebungen zurückgeworfen, sich langfristig als wichtiger Akteur auf der europäischen Bühne zu etablieren. In Brüssel werden die Weichen für die politische Agenda gestellt, während Spanien im Wahlkampf versinkt und frühestens im Januar 2020 eine neue Regierung haben wird. Zudem stehen die Verhandlungen über den langfristigen Haushaltsplan der EU an. Auch hier wird Spaniens Verhandlungsposition leiden.
In der Theorie gibt es gute Gründe, warum Spaniens Stimme in der EU Gewicht haben sollte – in der Praxis bleibt Madrid wieder einmal im Wartestand.
Julian Rappold ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Alfred von Oppenheim-Zentrum der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).
Internationale Politik 6, November/Dezember 2019, S. 66-69