Buchkritik

01. März 2020

Böse Blaupause

Berlusconi, Salvini und der Aufstieg des europäischen Rechtspopulismus: Drei Neuerscheinungen

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Italien war und ist das Sehnsuchtsland vieler Deutscher. Für die Irrungen und Wirrungen italienischer Politik bleiben hingegen oft nur ein Kopfschütteln oder ein Achselzucken. Regierungskrisen und -wechsel scheinen sich beliebig aneinanderzureihen.

Doch die grün-gelbe Koalitionsregierung zwischen der nationalistischen Lega von Matteo Salvini und der Antisystembewegung MoVimento 5 Stelle von Beppe Grillo, die im Juni 2018 ins Amt gewählt worden war, versetzte Europa in Aufruhr. Und das nicht nur, weil diese Regierung symbolisch für die Zuspitzung der Entfremdung zwischen Bürgern und Politik stand. Als drittgrößte Volkswirtschaft in der Europäischen Union hat Italien Gewicht und ist – das wissen wir spätestens seit der Eurokrise – systemrelevant. Schon allein deshalb lohnt es sich, genauer hinzuschauen.

Nun sind fast zeitgleich zwei Bücher auf dem deutschen Markt erschienen, die diese Ereignisse aufarbeiten und nach Erklärungen suchen: Die Journalisten Lorenz Gallmetzer und Ulrich Ladurner schürfen tief, um Gründe für die Umwälzungen in der italienischen Politik und den rasanten Aufstieg der Lega und der MoVimento 5 Stelle zu finden.

Dass die Unberechenbarkeit und Schnelllebigkeit der italienischen Politik den beiden Autoren inzwischen einen Strich durch die Rechnung gemacht hat – geschenkt. Die unheilige Allianz zwischen Lega und MoVimento 5 Stelle ist mittlerweile passé. Matteo Salvini kegelte sich im Spätsommer 2019 beim Versuch, den Koalitionsbruch zu provozieren, selbst aus der Regierung.

Bei den Regionalwahlen in der Emilia-Romagna und in Kalabrien Ende Januar verpasste Salvini die Chance, das Ruder herumzureißen. Es waren die „Sardinen“, eine neue Protestbewegung gegen Hass, Spaltung und Zwietracht, die am Ende gerade in der Emilia-Romagna gegen Salvini mobilisierten. Die Wahlbeteiligung, die sich auf 68 Prozent fast verdoppelte, gab am Ende der Linken den entscheidenden Schub. Dennoch: Italienweit sind Salvinis Umfragewerte weiterhin glänzend. Man sollte ihn trotz dieses Dämpfers keineswegs abschreiben.

Die Fragen, die Gallmetzer und Ladurner aufwerfen, bleiben deshalb hochaktuell: Warum haben die Italiener das Vertrauen in die Politik verloren? Was macht die Salvinis und Grillos in den Augen vieler Italiener so attraktiv? Wie konnte sich Italien so sehr von der EU entfremden? Welche Lehren lassen sich aus dem Fall Italien für andere europäische Länder ziehen und wie wahrscheinlich ist es, dass das italienische Modell Schule macht?



Im Gefühlschaos

Für Ulrich Ladurner, langjähriger Journalist der ZEIT und derzeit ihr Europa-Korrespondent in Brüssel, ist alles eine Frage des Gefühls. „Italien ist heute ein einsames, ein verängstigtes, ein wütendes Land.“ Illegale Migration, Massenarbeitslosigkeit und massive Auswanderung insbesondere der Jugend – das ist die Realität eines zutiefst verunsicherten Landes. Die im Jahr 2018 in Genua eingestürzte Morandi-Brücke steht bei Ladurner als Sinnbild für den Zustand des ganzen politischen und wirtschaftlichen Systems des Landes. Elegant verknüpft er historische Rückblenden mit Episoden und Erfahrungsberichten, die die Stimmungslage im Volk und die Strahlkraft von Salvini, Grillo und Co illustrieren.

Ladurner zeigt auf, wie sehr das Vertrauen der italienischen Bevölkerung in die eigenen politischen Eliten durch Jahrzehnte der Korruption und Misswirtschaft gelitten hat. Dabei navigiert er den Leser kundig durch die Untiefen der jüngeren Geschichte des Landes: die Nachkriegsperiode der „blockierten Demokratie“ während des Kalten Krieges; das Aufbrechen des Parteienkartells durch den Zusammenbruch der Sowjetunion; die „Mani pulite“- Ermittlungen der Staatsanwälte, die ein weit verzweigtes System von Korruption, Amtsmissbrauch und illegaler Parteifinanzierung aufdeckten; zuletzt der Aufstieg und Fall Silvio Berlusconis.

Doch es sind nicht nur die heimischen Eliten, von denen sich viele Italiener verraten fühlen. Auch die EU ist Teil dieses Gefühlschaos geworden. Gerade weil sie wenig Vertrauen in die Fähigkeiten der eigenen politischen Klasse hatten, lag für viele Italiener der Schlüssel zu mehr Wohlstand lange Zeit nicht in Rom, sondern in Brüssel. Die Entfremdung zwischen Italien und der EU setzte bereits in den Berlusconi-Jahren Mitte der 1990er Jahre ein. Mit Ausbruch der Eurokrise 2010 zerplatzen diese Hoffnungen dann endgültig – aus Brüssel kam keine Unterstützung, sondern nur „die ständige Ermahnung zum Sparen, zu mehr Disziplin, zu mehr Reformen“.

Die Flüchtlingskrise wirkte dann als Brandbeschleuniger. Viele Italiener fühlten sich von der EU im Stich gelassen. Das Gefühl, dass sie keinen Einfluss mehr auf Entscheidungen haben, die ihr Alltagsleben prägen, machte sich immer weiter breit. Ladurner folgert: Diese Desillusionierung und Orientierungslosigkeit machten Italien empfänglich für Politiker, die solche Gefühle und Ressentiments nach Kräften schüren und das Volk gegen die EU und die eigenen politischen Eliten in Stellung bringen.

Bei all den Missständen macht Ladurner aber auch immer wieder klar: Dass 2018 über 50 Prozent der Italiener mit der Lega und MoVimento 5 Stelle zwei populistische Parteien wählten, die offen den Tabubruch suchen, war kein Unfall. Sie sind mitnichten den Rattenfängern Salvini und Grillo auf den Leim gegangen. Es war eine bewusste Entscheidung, mit der sie den Sprung ins Ungewisse wagten und die sich lange angekündigt hatte. Emotionen zählen, so Ladurner: Salvini und Grillo bauen zwar in der Realität Zäune, untergraben den Rechtsstaat und attackieren die freie Presse – doch sie geben den Italienern zumindest das Gefühl, frei zu sein. Schon alleine, weil sich das Gefühl der Handlungsunfähigkeit in den vergangenen Jahren in vielen anderen europäischen Ländern ebenfalls breit gemacht hat, folgert Ladurner richtigerweise: Der Fall Italien ist auch ein europäischer Fall. Ernüchternd ist dabei sein Ausblick: „Die Verwerfungen zwischen Europa und Italien reichen tief, und sie werden bestehen bleiben.“



Laboratorium für Europa

Während Ladurner auch den Aufstieg der MoVimento 5 Stelle beleuchtet, deren Stern aber inzwischen zu verglühen scheint, konzentriert sich Lorenz Gallmetzer, langjähriger Journalist für den österreichischen ORF und wie Ladurner aus Südtirol stammend, ganz auf die Erfolgsformel von Matteo Salvini und seiner Lega.

Er warnt: Italien nahm immer wieder wichtige europäische politische Phänomene vorweg. Mussolinis Faschismus als Massenbewegung diente als Vorbild von Portugal bis Jugoslawien und inspirierte auch Hitlers Nationalsozialismus. Der Aufstieg des Medienmoguls Silvio Berlusconi zeichnete die Blaupause für viele Populisten – allen voran für US-Präsident Donald Trump. Europa sollte also genau hinschauen, was sich in Italien unter Salvini zusammenbraut.

Zwar wird dem Leser gleich zu Beginn schwindelig, wenn Gallmetzer bei der Beschreibung von Salvinis Politik mit Begrifflichkeiten nur so um sich schlägt: Ist er faschistisch? Präfaschistisch, totalitär, autokratisch, illiberal, souveränistisch oder einfach nur populistisch? Hilfestellung wäre hier nötig. Gallmetzer hingegen seziert anhand von Beispielen detailliert den Salvinismo: Im Zentrum steht „die aggressive Feindschaft gegen ‚die da oben‘, gegen Eliten, Experten, Intellektuelle, gegen Ausländer und gegen die EU“, die durch ständige, kalkulierte Tabubrüche inszeniert wird.

Mit seiner Propagandamaschinerie setzt Salvini auf permanente Beschallung durch unmittelbare und ungefilterte Ansprache über soziale Medien. Aber auch durch die traditionellen Parteistrukturen der Lega versetzt er seine Anhänger in einen permanenten Kampagnenmodus. Zusammen mit den historisch gewachsenen Herausforderungen in Wirtschaft, Verwaltung und Justiz, denen Gallmetzer ebenfalls Rechnung trägt, und der Migrationskrise, die für Salvini ein allzu dankbares Thema zum Ausschlachten bietet, ergibt sich dabei ein explosiver Cocktail.

Zentral für den Erfolg war vor allem aber auch Salvinis Kurswechsel von der padanisch-sezessionistischen Partei des Nordens hin zur Partei aller Italiener. Darüber hinaus sieht Gallmetzer insbesondere in der sozialen Orientierung der Lega eine gefährliche Entwicklung, durch die Italien tatsächlich zum „Laboratorium für Europa“ werden könnte. Denn die neue soziale Rechte könnte damit die Reform-Linke weitestgehend ersetzbar machen und als entscheidende politische Kraft verdrängen.

Deshalb kommt Gallmetzer zum Schluss: Es wäre fatal, Italien als kränkelnden Sonderfall abzutun oder als schwächstes Glied in der Kette der EU zu belächeln – denn „ein Reißen dieser Kette hätte schwere Folgen für Europa“. Wie darauf jedoch adäquat zu reagieren ist, bleibt er an dieser Stelle leider schuldig

Auf nationaler Ebene ist Salvini vorerst auf der politischen Reservebank verschwunden, doch für die europäische Rechte bleibt er eine Gallionsfigur. Salvini war einer der Wegbereiter eines vor der Europawahl 2019 geschmiedeten Bündnisses aus neun rechten Parteien, das inzwischen als Fraktion im Europäischen Parlament unter dem Namen „Identität und Demokratie“ firmiert. Der befürchtete europaweite Triumph ist zwar ausgeblieben. Doch die Lega stellt seit ihrem großen Sieg die Partei mit den meisten Sitzen im Europäischen Parlament – ein Ausrufezeichen.



Guter Putin, böser Putin?

Wie kohärent und schlagkräftig ist diese Fraktion? Generell: Was verbindet die rechtspopulistischen, EU-skeptischen Parteien in Europa, was trennt sie und wo teilen sie untereinander ihr Wissen und ihre Erfahrungen? Dieser Fragen nimmt sich das journalistische Recherchenetzwerk „Europe’s Far Right“, bestehend aus der taz (Berlin), Libération (Paris), Falter (Wien), Gazeta Wyborczka (Warschau), HVG (Budapest), WOZ (Zürich) und Internazionale (Rom), seit Sommer 2018 an. Jetzt ist unter dem Titel „Angriff auf Europa – Die Internationale des Rechtspopulismus“ ein Teil dieser Reportagen, historischen Einordnungen und Hintergrundberichte erstmals als Buch erschienen.

Die Autorinnen und Autoren Malene Gürgen, Patricia Hecht, Nina Horaczek, Christian Jakob und Sabine am Orde geben eine detaillierte Bestandsaufnahme, die den Aufstieg rechtspopulistischer Parteien in Deutschland, Österreich, Ungarn, Polen, Frankreich, Italien und der Schweiz nachzeichnet. Leider streifen sie dabei den nationalen, historischen, politischen und gesellschaftlichen Kontext in den einzelnen Ländern nur am Rande – ein Puzzleteil, das aber, wie der Fall Italien zeigt, für das Verständnis der Ursachen zentral ist.

Was die Schlagkraft eines gemeinsamen rechtspopulistischen Blocks – einer „Internationale der Nationalisten“ – angeht, zeichnen sie ein gemischtes Bild: einerseits beleuchten sie detailliert, wie Rechtspopulisten sich europaweit mit wachsendem Erfolg vernetzen und erfolgreiche Praktiken miteinander teilen. Auf der anderen Seite zeigen sie auf, wieso es ihnen als Nationalisten so schwer fällt, sich auf eine Linie zu einigen. Guter Putin, böser Putin? Antisemitismus oder Islamfeindlichkeit? Die EU als Transferunion? Globalisierungskritik oder Marktradikalismus? An diesen und mehr Themenkomplexen hakt die Allianzbildung. Doch je größer die Machtperspektive und die Einflussmöglichkeiten eines gemeinsamen Blocks sind, desto höher ist die Bereitschaft, Gegensätze demonstrativ auszublenden, so die Autoren.

Dass die Klimapolitik das Migrationsthema auf der politischen Agenda verdrängt hat und derzeit in aller Munde ist, geht aus Sicht der Autorinnen und Autoren zu Lasten der Rechtspopulisten – sie hätten auf diesem Feld schlicht kaum etwas zu bieten. Doch die Beitragenden lassen dabei außer Acht, dass daraus nach Eurokrise und Migration das nächste große Betätigungsfeld der Rechtspopulisten erwachsen könnte.

Denn das Schüren der Ängste mit Blick auf die wirtschaftlichen und sozialen Folgekosten einer ambitionierten Klimapolitik macht die Rechtspopulisten zum Anwalt der kleinen Leute, sei es in Polen, in Frankreich oder in Deutschland. Die Diffamierung der Fridays for Future-Bewegung oder der grünen Parteien in Europa jedenfalls läuft bereits auf Hochtouren.

Das Risiko ist benannt; was fehlt, sind strategische Überlegungen über das Zurückdrängen der Rechtspopulisten. Lediglich den etwas dünnen Hinweis vernimmt man, dass die Konservativen nicht kippen dürften. Schließlich, so die Autoren, bestehe kein Zweifel, dass die Rechten ihnen Angebote für eine themenbezogene Zusammenarbeit machen werden: gegen „Genderwahn“, „Überfremdung“, „Islamisierung“ oder die Vergemeinschaftung von Schulden.

Die Gefahr des Rechtspopulismus ist, das wird in allen drei hier besprochenen Büchern deutlich, bei weitem nicht gebannt. Dass die Autorinnen und Autoren allesamt der kritischen Reflexion über mögliche Strategien für das Zurückdrängen rechtspopulistischer Parteien wenig bis gar keinen Raum geben, zeigt: Der Bedarf an Erkenntnisgewinn ist nach wie vor riesig. Implizit ist allen Autorinnen und Autoren in ihrer Diagnose jedoch eines gemeinsam: Der Aufstieg der Rechtspopulisten ist nur ein Symptom; die Herausforderung liegt in der Krise der liberalen Demokratie und des herrschenden Wirtschafts- und Sozialmodells. Daran lässt sich anknüpfen.

 

Julian Rappold ist kommissarischer Programmleiter des Alfred von Oppenheim-Zentrums für europäische Zukunftsfragen der DGAP.

 

Ulrich Ladurner: Der Fall Italien. Wenn Gefühle die Politik beherrschen. Hamburg: Edition Körber-Stiftung 2019. 232 Seiten, 18,00 Euro

Lorenz Gallmetzer: Von Mussolini zu Salvini. Italien als Vorreiter des modernen Nationalpopulismus. Wien: Kremayr & Scheriau 2019. 192 Seiten, 22,00 Euro

Malene Gürgen, Patricia Hecht u.a.: Angriff auf Europa. Die Internationale des Rechtspopulismus. Berlin: Ch. Links Verlag 2019. 288 Seiten, 18,00 Euro

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2020, S. 120-123

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