Macron läuft die Zeit davon
Brief aus ... Paris
Hinter den hohen Mauern der Festung BréganÇon an der CÔte d’Azur, dem Sommersitz der französischen Präsidenten, hat sich Emmanuel Macron für eine komplizierte „rentrée“ gerüstet. „Rentrée“ nennen die Franzosen die Rückkehr aus dem Sommerurlaub, wenn zum landesweiten Schulstart Anfang September die Kinder in die Klassenräume und die Eltern an den Arbeitsplatz zurückkehren.
Seit Juli warnt Macron davor, dass die „rentrée“ dieses Jahr besonders schwierig werde: Firmenpleiten und Massenentlassungen drohen, die Arbeitslosenrate könnte rapide ansteigen. 60 000 Unternehmen mit über 200 000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sollen laut ersten Berechnungen betroffen sein. Die ohnehin schwelende Unzufriedenheit über soziale Missstände dürfte sich dann wieder auf der Straße entladen.
Der junge Staatschef, der die Franzosen im Wahlkampf 2017 mit seinem ansteckenden Optimismus mitriss, neigt neuerdings zu pessimistischen Lagebewertungen. Die Coronavirus-Epidemie, die Frankreich mit mehr als 30 000 Toten hart getroffen hat, vernichtete einen Großteil der Errungenschaften seiner Amtszeit. Im März konnte sich Macron rühmen, die Arbeitslosenraten auf einen Niedrigstand gebracht, das Wirtschaftswachstum angekurbelt und so viel Investoren wie nie zuvor ins Land gelockt zu haben. Doch diese Erfolgsbilanz ist aufgrund der verheerenden Folgen der Pandemie passé. Macron kann nicht mehr sicher sein, sich 2022 für die entscheidende Stichwahl der Präsidentschaftswahlen zu qualifizieren.
Zumindest kann er drei Jahre nach seiner großen, visionären Europarede an der Sorbonne-Universität mit dem europäischen Wiederaufbaufonds Früchte seiner Arbeit ernten. Die Hilfen und Kredite in dreistelliger Milliardenhöhe festigen den Zusammenhalt innerhalb der EU und schaffen Solidaritätstransfers, wie Macron sie schon lange anzustoßen versucht hatte. Der enge Schulterschluss mit Bundeskanzlerin Angela Merkel kommt gut an. Doch der europäische Vordenker wird im eigenen Land weiterhin von vielen wie ein falscher Prophet beäugt.
Dennoch hat Macron von seinem Sommersitz auf dem Mittelmeerfelsen einen Lichtblick erspähen können. Seine Umfragewerte sind erstmals seit Beginn der Corona-Krise wieder gestiegen. 50 Prozent aller befragten Franzosen stellen ihm ein positives Zeugnis aus. Das ist nach der Abstrafung seiner Partei bei den Kommunalwahlen Ende Juni und angesichts des Missmuts über das Krisenmanagement eine erstaunliche Entwicklung.
Castex tappt nicht in die Falle
Als Schlüsselfigur für das wachsende Vertrauen hat sich der neue Premierminister Jean Castex entpuppt. Der Mann aus dem Südwesten, an dem den Pariser Journalisten zunächst nur der leichte Akzent auffiel, könnte sich als Glücksgriff des bedrängten Präsidenten erweisen. Auf Anhieb stieg er mit 56 Prozent positiver Bewertungen in die Umfragen ein. Für den „neuen Weg“, den Macron für die verbleibenden 600 Tage seiner Amtszeit abgesteckt hat, bringt Castex Durchhaltevermögen, Eigensinn und Humor mit. Er hat klar gemacht, dass er die sozial explosive Rentenreform, die im Winter zu wochenlangen Protesten und Streiks geführt hatte, in diesem Jahr nicht mehr anpacken will. Erst 2021 sollen die Gespräche darüber mit den Sozialpartnern beginnen. Auch bei der Reform der Arbeitslosenversicherung drückt Castex aufs Bremspedal. Obwohl sie bereits vom Parlament verabschiedet ist, sollen die Leistungskürzungen vorerst nicht in Kraft treten. Statt Hauruck-Reformen will sich Castex Zeit lassen und sich auf das Thema Beschäftigung konzentrieren, gerade für die jungen Leute. Frankreich will die Arbeitnehmer schützen, „koste es, was es wolle“, hat Macron betont. Jugendliche Arbeitssuchende sollen mit staatlichen Fördermaßnahmen von der Straße geholt werden. Für die Förderung von Lehrausbildungen soll mehr Geld fließen.
Der neue Regierungschef ist dabei, eine neue Methode zu verkörpern. Im hektischen Pariser Medienbetrieb hat er sich Respekt verschafft, nachdem ihm eine Panne passiert war. Zum Ende einer Kabinettssitzung trug er sichtbar einen Zettel mit Notizen unter dem Arm, den aufmerksame Fotografen sofort ablichteten. Die vertraulichen Anmerkungen über einen Minister gelangten auf diese Weise an die Öffentlichkeit. Eine Woche später spazierte Castex wieder mit einem Zettel mit Notizen unter dem Arm aus der Kabinettssitzung, was die Fotografen mit einem Blitzlichtgewitter beantworteten: „Ein zweites Mal tappe ich nicht in die Falle. Einen schönen Sommer!“ stand darauf zu lesen.
Der Fahrplan des Regierungschefs lässt dabei wenig Spielraum für Experimente. Castex soll vor allem „die Schwächen und Versäumnisse“ beheben, die der Präsident in der zentralstaatlichen Organisation während der Corona-Krise ausgemacht hat. Für Macrons neue Devise „Es kann nicht alles dauernd in Paris entschieden werden“ scheint der Mann aus Prades in der Nähe von Perpignan prädestiniert. Als Bürgermeister der Kleinstadt kann er sich in die Perspektive derjenigen hineinversetzen, die es leid sind, aus Paris ihre Order in Empfang zu nehmen. Fraglich bleibt, wie schnell Castex es gelingen kann, die über Jahrhunderte gewachsenen zentralistischen Strukturen zu durchbrechen und den lokalen Mandatsträgern mehr Verantwortung zu übertragen. Aber viel Zeit bleiben Macron und seinem Regierungschef nicht mehr. „Wenn das Misstrauen weiter ansteigt, wird es uns alle davonreißen“, sagte Castex.
Michaela Wiegel ist Frankreich-Korrespondentin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, für die sie seit 1998 aus Paris berichtet.
Internationale Politik 5, September/Oktober 2020, S. 114-115
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