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01. Jan. 2012

Macht gestalten

Optionen deutscher Außenpolitik

Deutschland kann es sich nicht mehr leisten, außenpolitisch auf Sicht zu fahren. Angesichts der relativen Schwäche amerikanischer Macht und der EU-Krise muss Berlin damit beginnen, sich stärker strategisch auszurichten. Drei Optionen gibt es dafür: Deutschland kann auf die nationale, die transatlantische oder die europäische Karte setzen.

Die Außenpolitik der alten Bundes­republik war vergleichsweise einfach, sie vollzog sich im Kontext der bipolaren Weltordnung. Es ging erstens um die Wiederherstellung der Handlungsfähigkeit des Staates, also die Emanzipation von äußerem Zwang. Zweitens ging es darum, die Option der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten zu erhalten. Drittens ging es – wie bei allen demokratischen Staaten – um die Bewahrung des Friedens, die Sicherung von Freiheit und die Förderung von Prosperität.

Die doppelte Westbindung, an die Vereinigten Staaten und an West­europa, war das strategische Mittel, diese Ziele zu erreichen. Damit wurde erst Vertrauen im Westen erlangt, später wurde dann mit der Ostpolitik auch Vertrauen im Osten geschaffen. Auf diesen Fundamenten der Reha­bilitation aufbauend konnte Helmut Kohl 1990 die Wiedervereinigung durchsetzen – gegen erhebliche ­Widerstände.

Damit war die alte Außenpolitik zum Abschluss gekommen. Eine neue außenpolitische Strategie für das vereinte Deutschland aber gibt es nicht. Obwohl Deutschland als ökonomischem Riesen und Mittelmacht in Europa auch politisch zunehmend eine Führungsrolle angetragen wird, sträubt sich Berlin. Man fährt zumeist auf Sicht, reagiert zumeist nur. Und man orientiert sich an überkommenen Koordinaten: nah an Washington, wenn es um Weltpolitik und Sicherheitsfragen geht, nah an Paris, wenn es um Europa geht. Gerhard Schröders halbherziger Versuch einer Neuorientierung Deutschlands nah an Moskau war ein Abweg, der mehr mit traditioneller West-Skepsis der SPD zu tun hatte als mit durchdachter Strategie.

Insgesamt ist Deutschland außenpolitischer Gestaltungswille noch immer weitgehend fremd. Die Angst vor Konflikten und Isolation ist groß. Wenn es ein Charakteristikum deutscher Außenpolitik gibt, dann besteht es in der Zurückhaltung: bloß kein Risiko eingehen. Im Zweifelsfall lieber nicht handeln, womöglich enthalten. Notfalls zahlen.

Diese Haltung beruht auf einem breiten, überparteilichen Konsens. Er entspricht der Stimmung im Lande, die eher selbstbezogen ist. Eine kosmopolitische Elite, die außenpolitische Debatten vorantreiben könnte, hat sich in der „Berliner Republik“ bisher nur in Ansätzen entwickelt. Nicht strategisches Denken gibt den außenpolitischen Ton an, sondern eher das „Bauchgefühl“.

All dies verbindet sich freilich aufs Beste mit den ökonomischen Interessen Deutschlands als höchst erfolgreicher Exportnation. Jedenfalls auf den ersten Blick. Eine profilierte, aktive Außenpolitik liefe Gefahr, mit Unternehmensinteressen zu kollidieren. Doch das geschieht selten. Nur wenn der Druck aus Washington zu groß wird, nimmt man auch geschäftliche Einbußen in Kauf.

Bei aller Kritik aus europäischen und anderen Hauptstädten an deutscher Passivität und Enthaltsamkeit sind Nachbarn und Partner doch insgesamt mit Deutschland zufrieden. Das Land, von dem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zwei Weltkriege ausgingen, hat sich zum Musterknaben entwickelt – westlich orientiert, demokratisch gefestigt und europäisch eingebunden. Das macht­staatlich-nationalistische Denken und Fühlen ist anscheinend aufgegangen in Europäisierung, Globalisierung und Wohlstand. Die „deutsche Frage“, seit 1871 ungelöst, hat sich so gut wie erübrigt; die Angst vor Deutschland, während der Wiedervereinigung massiv zurückgekehrt, spielt kaum noch eine Rolle.

Und doch stellt sich die Frage, ob es so weitergehen kann – oder ob Deutschland nicht eine aktivere Außenpolitik betreiben muss, um zu bewahren, was es in den vergangenen Jahrzehnten gewonnen hat: Frieden, Freiheit und Wohlstand.

Washington blickt gen Pazifik

Das eine Faktum, das Deutschland aus seiner Bequemlichkeit heraus zwingt, ist der tendenzielle Rückzug der USA aus Europa. Barack Obama hat es jüngst bestätigt: Der Blick Washingtons richtet sich zunehmend nach Asien. Dort sind die Märkte der Zukunft, und dort gibt es eine sicherheitspolitische Mammutaufgabe: die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass der Aufstieg Chinas friedlich verläuft. Zudem sind die Amerikaner der Rolle des Weltpolizisten überdrüssig. Das Land ist durch zwei Weltkriege in die Position der globalen Macht hineingezwungen worden. In dem Maße aber, in dem diese Kriege in Vergessenheit geraten und in dem Europa stabil, frei und sicher ist, verringert sich für die USA die Notwendigkeit, Ressourcen für europäische Sicherheit zur Verfügung zu stellen – zumal oft nur zögerliche Unterstützung für die amerikanische Weltordnungsrolle von Europa kommt.

Aus Washingtoner Sicht kann Europa abgehakt werden – „mission accomplished“, zumal in einer Zeit knapper werdender Ressourcen. Folgerichtig hat der schrittweise Abzug der amerikanischen Truppen begonnen. Für die beiden anderen großen europäischen Machtzentren, Frankreich und Großbritannien, ist das kein ernsthaftes Problem, sie haben nicht nur einen ausgeprägten Sinn für nationale Interessen bewahrt, sondern verfügen auch – trotz Kürzungen – über Hard Power und einsatzerprobte Armeen, inklusive dem Garant für Souveränität: der Atombombe. Auf Deutschland trifft all dies nicht zu.

Mehr noch: Die Bundeswehr­reform, bei der es in Wahrheit um Einsparungen geht, nimmt radikale Schnitte vor. Wie lange noch ist die Landesverteidigung gesichert? Dass man in Deutschland davon überzeugt ist, Landesverteidigung sei obsolet, der ewige Friede sei endlich über uns gekommen, könnte sich als Illusion erweisen. Denn wenn es eine historische Konstante gibt, dann besteht sie in Überraschungen – es gibt viel zu viele „unknown unknowns“. Was derzeit zumindest halbwegs stabil aussieht, kann rasch umkippen. Russland und der postsowjetische Raum bleiben volatil, Nordafrika und der Nahe Osten sind alles andere als langfristig pazifiziert. Und über den Ernstfall hinaus ist Hard Power auch Währung im internationalen Verkehr: Wer mehr Schlagkraft hat, den behandelt man mit mehr Respekt.

Sicherheit ist bekanntlich erste Aufgabe des Staates. Deutschland wird sich nicht auf Dauer auf die Sicherheitsgarantie eines befreundeten, aber ferner rückenden Staates verlassen können. Früher oder später muss Berlin auch in diesem Bereich Verantwortung für sich selbst übernehmen. Das postmoderne Paradies, in dem nur noch wirtschaftliche Macht zählt, bleibt Utopie. Wie der Blick etwa nach Asien zeigt, bleibt das Militärische ein sehr wesentlicher Faktor im Zusammenleben der Staaten.

Die zweite Entwicklung, die die bisherigen Rahmenbedingungen erschüttert, ist die krisenhafte Ent­wicklung der Europäischen Union. Sie zeigt, dass es mit Durchwurschteln nicht mehr getan ist. Die beteiligten Staaten müssen sich entscheiden, ob sie dauerhaft Macht an zentrale, übergeordnete Institutionen abgeben wollen. Vereinbarungen souveräner Staaten, die unter dem Druck der nationalen Wählerschaft jederzeit wieder zurückgenommen werden können, sind offenbar nicht ausreichend, um das EU-Gefüge zusammenzuhalten. Deutschland muss für sich festlegen, welchen Stellenwert die EU in Zukunft haben soll. Die Krise zwingt zur Entscheidung.

Somit steht Berlin vor Weichenstellungen, die mit Westbindung, Ostpolitik und Wiedervereinigung vergleichbar sind. Es hat, prinzipiell ge­sehen, drei Optionen: Deutschland kann auf die nationale Karte, auf die transatlantische Karte oder auf die europäische Karte setzen. Oder diese Karten zu einem Blatt mischen.

Die nationale Option

Erstens, die nationale Option. Von allen europäischen Ländern hat Deutschland am ehesten die ökonomische Basis, um Weltpolitik gegebenenfalls auch alleine betreiben zu können. Deutschland verfügt zwar, im Gegensatz zu Frankreich und Großbritannien, nicht über einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat. Doch es ist bedeutendes Mitglied in fast allen wichtigen internationalen Gremien und spielt ganz oben mit in der Weltwirtschaftsliga. Deutschland könnte daher versucht sein, seine Einbindungen abzuschütteln und sich ganz auf die Verfolgung direkter, nicht abgeleiteter nationaler Interessen zu konzentrieren. Als machtbewusster Nationalstaat könnte Deutschland eine eigenständige weltpolitische Rolle anstreben und beispielsweise seine Beziehungen zu den BRIC-Ländern ausbauen und neue Allianzen schmieden, je nach Bedarf. Es könnte sich auch noch stärker als bisher als Handelsstaat positionieren, ohne Rücksichtnahme auf kollektive Interessen und Verbündete.

Immer wieder blitzt ein solcher Unilateralismus in der deutschen Außenpolitik auf: als Gerhard Schröder 2003 im Wahlkampf den USA ein Nein zum Irak-Krieg entgegenschleuderte oder als Angela Merkel und Guido Westerwelle den engsten Verbündeten 2011 die Unterstützung in Bezug auf die Libyen-Intervention versagten. In den meisten größeren Parteien gibt es minoritäre Strömungen, die für die Idee eines eigenständigen „deutschen Weges“ empfänglich sind.

Als strategische Option ist die Herauslösung Deutschlands aus transatlantischen und europäischen Bindungen bisher allerdings nicht ernsthaft ins Spiel gebracht worden. Meistens erschöpft man sich in der rhetorischen Ablehnung: Widerwillen gegen die amerikanische Führungsrolle und Abneigung gegen „Brüsseler Bürokratie“. Als unterschwellige Strömung deutscher Außenpolitik jedoch ist die nationale Option einflussreicher geworden. In dem Maße, in dem Deutschlands Gewicht seit der Wiedervereinigung gewachsen ist, haben sich auch die Beziehungen zur Außenwelt verschoben. Die Bereitschaft zum Konflikt ist gestiegen, und manche Beobachter meinen, einen verstärkten Hang zur Selbstgerechtigkeit feststellen zu können.

Deutschland als Bedrohung

Der Weg in den eigenständig agierenden nationalen Machtstaat aber ist Deutschland verwehrt. Jede Politik, die diese Richtung einschlägt, würde sofort massiven Widerstand provozieren. Das Kapital, das deutsche Regierungen seit Adenauer bei den Nachbarstaaten und Schlüsselpartnern aufgebaut haben, würde vernichtet. Deutschland würde sofort wieder als Bedrohung wahrgenommen, das fast verblasste Bild nationalsozialistischen Größenwahns wäre wieder präsent. Es würden sich, aus Angst vor Deutschland, sofort Gegenkoalitionen bilden, zunächst informelle, später formelle. Das wiederum würde es jeder deutschen Regierung unmöglich machen, politische und wirtschaftliche Interessen zu verfolgen. Denn für einen echten Alleingang ist Deutschland weder groß noch stark noch mächtig genug. Deutschland ist darauf angewiesen, im Konsens zu agieren.

Deutschland kann auch deshalb nicht in der Liga der BRICs spielen, weil es eine tiefe Abneigung gegen das Militärische hegt. Anders als den aufstrebenden Machtstaaten fehlt Deutschland der Wille zum Aufbau von Hard Power. Militärische Gewalt mag innerhalb Europas keine Rolle mehr spielen, will man aber in der Weltliga mitspielen, muss man in der Lage sein, glaubhaft mit Erzwingungsgewalt drohen zu können.

Geografie und Geschichte haben zu dem Ergebnis geführt, dass deutsche Macht um so größer ist, je mehr das Land mit europäischen Nachbarn im Konzert agiert. Je mehr Vertrauen die Nachbarn in deutsche Verantwortung und Fairness haben, um so besser sind die Chancen für Deutschland, seine Ziele zu erreichen. Ausgleich der Interessen und Bemühen um den gemeinsamen Nenner sind somit nicht Zeichen von Schwäche, sondern Voraussetzung für deutsche Stärke.

Die transatlantische Option

Die zweite Option für deutsche Außenpolitik ist die Intensivierung der transatlantischen Partnerschaft. Die viel diskutierte Abwendung der USA von Europa ist kein Schicksal. Sie hängt auch damit zusammen, dass von Europa keine Impulse für eine Erneuerung des Verhältnisses ausgehen. Washington sucht Unterstützung beim Management der globalen Ordnung und ist enttäuscht, dass Europa meistens nur widerwillig mitzieht. Berlin hat die Option, das Angebot der „partnership in leadership“, das vor über zwei Jahrzehnten von George Bush senior gemacht wurde, anzunehmen und zum Schlüsselpartner der USA in Europa zu werden.

Eine neue transatlantische Partnerschaft könnte die Chancen erhöhen, dass die liberale Weltordnung auf Dauer Bestand hat: Dass Demokratie, offene Gesellschaften, Marktwirtschaft und Globalisierung die Fundamente auch der „postwestlichen“ Ordnung bilden, einer Welt also, in der das relative Gewicht von Europa und Amerika schrumpft. Das liegt eindeutig im deutschen Interesse: ökonomisch, weil Deutschland auf freien und sicheren Welthandel angewiesen ist, politisch, weil die Chancen der Bewahrung von Frieden und Freiheit in einer liberalen Weltordnung größer sind als in einer Welt, in der autokratische und demokratische Pole sich im Dauerclinch befinden.

Allerdings müsste sich Deutschland, um für die USA ein interessanter Partner in globalen Angelegenheiten zu sein, erheblich dynamisieren. Dass Obama so häufig mit dem türkischen Premier Recep Tayyip Erdo˘gan telefoniert, hat eben auch damit zu tun, dass die Türkei eine aktive, geostrategisch ausgerichtete Außenpolitik betreibt.

Um zum Partner der USA auf Augenhöhe zu werden, müsste Berlin erstens zum geostrategischen Akteur werden. Es müsste sich von seiner passiven Haltung verabschieden, strategische Initiativen entwickeln und mit Nachdruck verfolgen. Zweitens ist Berlin nur dann wirklich interessant für Washington, wenn es Schlüsselmacht in Europa ist – sich außenpolitisch also eng mit Paris, London und Brüssel verbindet. Berlin müsste drittens bereit sein, Ressourcen in diese Partnerschaft einzubringen. Das müssen nicht in erster Linie militärische Ressourcen sein. Doch ganz ohne Hard Power kann Deutschland in einer engen transatlantischen ­Partnerschaft nicht bestehen. Es könnte sich aber beispielsweise auf die „softe“ Seite von Hard Power spezialisieren (Polizei, Training und dergleichen), müsste dies aber mit Entschlossenheit tun.

Ein solcher neuer transatlantischer „bargain“ könnte geopolitische, sicherheitspolitische und ökonomische Elemente umfassen. Er würde auf der Überzeugung gründen, dass beide Seiten ein überragendes Interesse an Erhalt und Expansion der liberalen Weltordnung haben. Er würde zugleich auf der Einsicht beruhen, dass bei allen Differenzen nur eine enge Partnerschaft in der Lage ist, diese Ordnung gegen ihre Verächter zu schützen und zu stärken. Insbesondere würden beide Seiten sich einig sein, dass der Aufstieg Chinas nur dann in für alle Seiten gedeih­liche Wege geleitet werden kann, wenn Amerika und Europa gemeinsam passende Rahmenbedingungen dafür anbieten.

Die europäische Option

Die dritte Option für deutsche Außenpolitik wäre, das ernsthaft umzusetzen, was im Lissabonner Vertrag angelegt ist: den Aufbau einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU. Das würde bedeuten, dass deutsche Außenpolitik auf Alleingänge verzichtet, dass Berlin keine Sonderbeziehungen mit großen Mächten (USA, Russland, China) anstrebt und sich konsequent darum bemüht, eine eng mit den EU-Partnern abgestimmte Nachbarschaftspolitik zu betreiben. Eine gemeinsame Außenpolitik würde unter dem Zwang der Einigung auf gemeinsame Positionen und gemeinsames Handeln stehen – was derzeit eben nur eine von mehreren Optionen ist.

Berlin müsste darauf hinwirken, dass der neue diplomatische Dienst der EU tatsächlich als Dach der 27 einzelstaatlichen diplomatischen Dienste fungiert, statt wie derzeit als beliebige Ergänzung. Und in der Sicherheitspolitik müsste Deutschland darauf setzen, deutsche militärische Kapazitäten mit denen anderer EU-Länder zu vernetzen und verzahnen, mit der Perspektive des Aufbaus einer europäischen Armee. Deutschland könnte zur treibenden, integrierenden Kraft werden, die der Außen- und Sicherheitspolitik der EU bislang fehlt.

Das wichtigste Argument für eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik ist Macht: Gemeinsam sind wir stärker. Wenn die EU-Staaten gemeinsam agieren, sind sie Global Player und haben Gestaltungsmacht. Statt künftig von den USA und China dominiert zu werden, kann ein geeintes Europa Mit-Führung auf der Weltbühne beanspruchen. Anders gesagt: Statt zum Objekt der Politiken Anderer, zum Spielball, herabzusinken, kann Europa Herr seines eigenen Schicksals bleiben.

Der Preis dafür ist ein Verzicht auf nationale Eigenständigkeit im Rahmen der EU. Es besteht Zwang zur Einigung. Um handlungsfähig zu bleiben beziehungsweise zu werden, muss das nationale Veto aufgegeben werden. Niederlagen werden – auch für große und mächtige Staaten – unvermeidbar sein.

Die Realisierungschancen für ein gemeinsames Handeln der EU-Staaten auf der Weltbühne hängen zum einen vom politischen Willen insbesondere der mächtigeren Mitgliedstaaten ab, diesen Weg nicht nur pro forma zu gehen, sondern mit allen Konsequenzen. Zum anderen aber kann die Integration von Außen- und Sicherheitspolitik nur in dem Tempo vorangehen, in dem sich die Integra- tion der EU insgesamt bewegt. Außen- und Sicherheitspolitik sind äußerst sensible Kernbereiche der Souveränität, von denen im Ernstfall die Existenz des Staates abhängt. Hier zu teilen und zu verbinden erfordert ein hohes Maß an Vertrauen. Dieses Vertrauen bildet sich nur, wenn die EU in anderen Bereichen zur Schicksalsgemeinschaft zusammenwächst.

Ob die europäische Option realisiert werden kann, hängt also von vielen Variablen ab: vom politischen Willen in den EU-Hauptstädten und von der Zukunft der Integration insgesamt. Selbst wenn Berlin mit Nachdruck auf die EU-Karte in der Außen- und Sicherheitspolitik setzen würde – wenn London oder Paris sich nicht unter ein gemeinsames Dach bringen lassen wollen, oder wenn die EU es nicht schafft, sich in der Euro-Krise zu erneuern, wird es höchstens eine rudimentäre gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik geben.

Die neue „Normalität“

Seit der Wiedervereinigung ist deutsche Außenpolitik in doppelter Hinsicht „normal“ geworden. Zum einen hat sie es mit den „normalen“ Aufgaben der Außenpolitik demokratischer Staaten zu tun: der Förderung und Bewahrung von Frieden, Freiheit und Prosperität. Und zweitens hat Deutschland mehrere Optionen im Hinblick darauf, auf welchem Weg es dies tun will. Berlin kann auf nationale Eigenständigkeit, transatlantische Koordination oder Einbettung in die EU setzen. Alle drei Ansätze spielen eine Rolle in der Praxis deutscher Außenpolitik, und für alle drei gibt es unterstützende Milieus. Warum also nicht einfach so weiter machen?

Erstens muss Deutschland einfach mehr tun, um die Voraussetzungen seines Wohlstands zu sichern, angesichts der Umbrüche in der geopolitischen Tektonik, der Hinwendung der USA zum Pazifik, des Aufstiegs neuer Mächte, der Dynamisierung der Entwicklungen in der EU.

Zweitens ist es, vor allem aufgrund knapper Ressourcen, von Bedeutung, dass der außen- und sicherheitspolitische Apparat eine klare Marschrichtung hat. Tagtäglich werden außen­politische Entscheidungen getroffen, und für diese brauchen die Handelnden Orientierung: Ist der Sicherheitsratssitz eine Priorität oder die Zusammenarbeit mit dem neuen diplomatischen Dienst der EU? Muss die Bundeswehr mit mehr Kampfeinsätzen rechnen? Mit wem koordiniert man seine Russland-Politik, mit Brüssel oder Washington oder keinem von beiden? Soll sich Deutschland mehr bei der Befriedung von Bergkarabach engagieren? Eine Außen- und Sicherheitspolitik, die alles ein bisschen tut, läuft Gefahr, Ressourcen zu verschwenden und deutschen Interessen nicht zu dienen, sondern gegebenenfalls sogar zu ­schaden. Und: Die Grundlinien der Außen- und Sicherheitspolitik müssen vom Souverän, vom Wähler, unterstützt werden.

Drittens ist das Gewicht Deutschlands in den letzten Jahren erheblich gewachsen. Damit ist deutsche Außenpolitik nicht nur für Deutsche von Bedeutung, sondern zunehmend auch für Europa und die Welt. Als europäische Macht und als wichtiger Mitspieler auf der Weltbühne muss Deutschland sich konsistent und schlüssig verhalten. Deutschland hat Führungsverantwortung, und es schadet deutschen Interessen, wenn Nachbarn und Partner vor den Kopf gestoßen werden. All dies zwingt zur Klärung des eigenen Standorts, der eigenen Interessen, zum Entwurf einer Zielvision und des Weges dorthin. Das muss keine ausgefeilte Grand Strategy sein, aber doch: ein Kompass, Wegweiser ins Ungewisse.

Rückkehr der Machtfrage

Im größeren historischen Rahmen ließe sich die Herausforderung, vor der Deutschland steht, auch als Rückkehr der Machtfrage charakterisieren.

Deutschland hat ein belastetes ­Verhältnis zur Macht, was nach dem Zerstörungsrausch der NS-Zeit ja kein Wunder ist. Die europäische ­Eini­gung war die Antithese zur Machtpolitik, begründet auf juristischen Verträgen und ökonomischem Austausch. Dass die USA Machtstaat blieben, und zwar sehr erfolgreich, ermöglichte den Deutschen – und zu gewissem Grad auch den anderen ­Europäern – die Abkehr von Machtpolitik. Die Mitte Europas wurde entmachtet und damit die deutsche Frage gelöst.

Doch nun kehrt die Machtfrage zurück. Sie stellt sich innerhalb der EU: Wer gibt den Ton an, wenn es keine Einigung gibt, aber eine Entscheidung nicht umgangen werden kann? Berlin und Paris? Oder nur Berlin? Und auf globaler Ebene: Sind Deutschland, Frankreich, Großbritannien und andere EU-Staaten bereit, die EU mit Machtmitteln auszustatten, um auf der globalen Bühne eine Rolle zu spielen?

Als mächtiger Staat, dem zwangsläufig Führungsverantwortung zukommt, kann Deutschland sich nicht einfach wegducken. Nichthandeln hat ebenso Konsequenzen wie Handeln.

Der Alleingang ist Deutschland dabei verwehrt. Es braucht enge Kooperationen. Ein neues Bündnis mit den USA würde die liberale Weltordnung stärken. Und eine gemeinsame EU-Außen- und Sicherheitspolitik könnte die östliche und südliche Nachbarschaft stabilisieren und Europas Gewicht auf der Weltbühne zur Geltung bringen. Vernünftig eingesetzt, kann deutsche Macht ein Segen sein. Solange sie sich ihrer Möglichkeiten und Grenzen bewusst ist.

Dr. ULRICH SPECK ist außenpolitischer Analyst und Publizist in Heidelberg und gibt den Global Europe Morning Brief heraus.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/ Februar 2012, S. 88-96

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