Zeitenwende in Japan
2022 beschloss Tokio, seinen Militäretat zu verdoppeln. Aber das Projekt muss noch mit Leben gefüllt werden, und der Weg zu einer verteidigungspolitischen Großmacht ist weit.
David van Weel hatte viel Pathos in der Stimme, als er Mitte November 2023 in einem Hörsaal der Universität Tokio erklärte: „Wir sind Ozeane voneinander entfernt. Aber unsere Sicherheit ist eng miteinander verbunden!“ Daher sei es von zentraler Bedeutung, dass sich der Austausch zwischen Japan, einer der größten Volkswirtschaften der Welt, und dem Nordatlantikpakt, dem größten Milittärbündnis, zügig intensiviere. „Wir sind gleichgesinnte Partner“, betonte van Weel.
Das sieht man in Japan auch immer stärker so. Van Weel, der als Assistant Secretary General for Emerging Security Challenges den NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg zu Fragen künftiger Herausforderungen berät, war mit einer größeren Delegation in die japanische Hauptstadt gereist. Das NATO-Japan-Symposium war nur der öffentliche Teil. Hinter verschlossenen Türen sprachen NATO-Vertreter mit Offiziellen der japanischen Regierung über mögliche Formen einer engeren Zusammenarbeit.
Mit welcher Detailschärfe werden Japan und die NATO in Zukunft sicherheitspolitische Informationen austauschen? Mit wem wird Japan, das die weltweit größte US-Militärpräsenz außerhalb der Vereinigten Staaten beherbergt, über die kommenden Jahre außer den USA noch Militärübungen durchführen? Und öffnet die NATO bald eine Repräsentanz in Tokio (eine Idee, die bislang am Veto des französischen Präsidenten Emmanuel Macron scheiterte)? All diese Fragen sind derzeit auf dem Tisch, weil man sich zwischen Brüssel und Tokio über eine Sache längst einig ist: Man teilt nicht nur liberale Werte und die Demokratie, sondern auch mehrere geopolitische Herausforderungen.
Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine seit Februar 2022 hat auch in Japan zu einem Umdenken geführt. Tokio trägt die Sanktionen gegen Moskau mit und nimmt dafür höhere Rohstoffpreise in Kauf, was die Inflationsrate auf die für das alternde ostasiatische Land untypische Höhe von über 3 Prozent getrieben hat. Vor allem aber malt man sich in Tokio eine düstere Zukunft aus: Was, wenn Russlands Invasion nicht die einzige bleibt und beispielsweise China seine Drohungen gegenüber Taiwan wahrmacht? Denn noch stärkere Kopfschmerzen als das Verhalten Moskaus macht jenes von Peking. Chinas Regierung, die die unabhängig und demokratisch regierte Insel Taiwan für sich beansprucht, hat über die vergangenen Jahre immer wieder angekündigt, Taiwan notfalls mit Zwang unter Kontrolle zu bringen. Da die USA mehrmals zu verstehen gegeben haben, in einem solchen Fall an der Seite Taiwans zu stehen, würde sich wohl auch der US-Partner Japan hinter Taiwan stellen.
So hat es auch in Japan so etwas wie eine „Zeitenwende“ gegeben. Die Verteidigungspolitik soll ein neues Niveau erreichen. Mit der Nationalen Sicherheitsstrategie, die der konservative Premierminister Fumio Kishida im Dezember 2022 verkündete, wurde bis 2027 eine Verdopplung des Wehretats auf ein Volumen von 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts beschlossen.
„De-Risking können wir kaum erreichen, wenn wir uns nicht gleichzeitig sicherheitspolitisch stärken“
Für Japan sind die Folgen noch weitreichender als die Zeitenwende für Deutschland: Denn das ostasiatische Land hat offiziell nicht einmal ein Militär. Seit die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki im August 1945 die Kapitulation herbeiführten, hat sich Japan in Pazifismus geübt. Die 1947 durch die siegreichen USA eingeführte Nachkriegsverfassung verbietet in Kapitel 9 ausdrücklich „Krieg als ein souveränes Recht“. Folglich sind die Selbstverteidigungskräfte – Japans Quasi-Militär – in ihren Befugnissen beschränkt gewesen. Bei Auslandseinsätzen waren sie bisher dafür bekannt, eher wie humanitäre Helfer zu agieren. Der Ukraine hilft Japan finanziell, darüber hinaus hat es aber nur „nichttödliche“ Unterstützung geleistet, wie beispielsweise mit der Lieferung von Helmen und Schutzwesten.
Die beim ersten Hinhören scheinbar inhaltslose Erklärung Kishidas, dass sich Japans Verteidigungssektor künftig gegen Angriffe auch mit Waffen wehren darf, verrückt das nationale Selbstverständnis.
Aufwachen aus der Träumerei
In den Augen von Kishidas Regierung und seiner Liberaldemokratischen Partei (LDP) ist das Umdenken aber eher ein Aufwachen aus einer jahrzehntelangen Träumerei. „Wir leben in einer Zeit, in der wir unser Gift wählen müssen“, sagt Akira Igata. Er leitet das Zentrum für fortgeschrittene Technologieforschung an der Universität Tokio und berät die japanische Regierung in sicherheitspolitischen Fragen. Igata argumentiert: „Wenn man mehr in seine Sicherheit investieren will, dann wird man dafür auf etwas Wohlstand verzichten müssen.“ Dafür sei es nun an der Zeit.
Im Nachkriegs-Japan schien für diesen Zielkonflikt bisher immer nur eine Lösung akzeptabel: Man verzichtete auf Rüstung, um möglichst viel Wohlstand zu genießen. Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine ist es aber nicht nur die LDP, die mehr Verteidigungsstärke für nötig hält. Auch die Opposition, die bisher stärker pazifistisch eingestellt war, sieht Aufrüstung nun weitgehend als notwendig an, die Bevölkerung ebenfalls. Igata zeigt sich erleichtert: „De-Risking können wir kaum erreichen, wenn wir uns nicht gleichzeitig sicherheitspolitisch stärken.“
Auf der wirtschafts- und handelspolitischen Ebene denkt Japan die Dimension nationaler Sicherheit schon länger mit. Zwar ist die Abhängigkeit von China als größtem Handelspartner über die vergangenen Jahre noch weiter gestiegen. Aber das Problem der hierdurch entstehenden Anfälligkeit hat Tokio erkannt. Durch bi- und multilaterale Handelsverträge ist der Weg bereitet worden für eine stärkere Verflechtung mit Südkorea und mehreren Ländern Südostasiens sowie der EU und Pazifikanrainern. Die Bedeutung Chinas soll sukzessive ausbalanciert werden.
Und in Tokio freut man sich darüber, dass der Blick auf China nun auch von Europa aus ein anderer sei. „Bei bilateralen Treffen haben wir seit Jahren betont, dass China eine Bedrohung sein kann“, sagt Hitoshi Kikawada. „Aber in der EU wogen die ökonomischen Potenziale des riesigen chinesischen Marktes lange Zeit schwerer. Das korrigiert sich jetzt.“ Kikawada ist Abgeordneter der regierenden LDP und war von Oktober 2021 bis August 2022 parlamentarischer Vizeminister für Außenpolitik.
In Russlands Krieg gegen die Ukraine sieht er, auch wenn er es so direkt nicht ausdrückt, ein für Japan wohl einmaliges politisches Potenzial. „Wir haben schon lange versucht, unsere Verteidigung zu stärken, da Japans Selbstverteidigungskräfte den aktuellen Herausforderungen nicht gewachsen sind. Aber in der Vergangenheit war der politische Widerstand hiergegen immer sehr groß.“ Am liebsten hätte die LDP den Pazifismus-Artikel 9 aus der Verfassung gestrichen, was aber entweder an mangelnden Mehrheiten im Parlament oder wegen der pazifistischen Mehrheitsmeinung in der Gesellschaft schwierig schien.
So unternahm die LDP schon über das vergangene Jahrzehnt, vorangetrieben durch den nationalistischen Premier Shinzo Abe (der zwei Jahre nach seinem Rücktritt einem Attentat zum Opfer fiel), immer wieder kleinere Schritte, um die Streitkräfte trotzdem zu stärken. Gerade vor dem Hintergrund des aufstrebenden Chinas, mit dem auch Japan Territorialstreitigkeiten hat, wollte Abe eine „Normalisierung“ erreichen, also eine von den USA unabhängige Verteidigungsfähigkeit. Wenn der 2022 ermordete Abe, dem sich Kikawada eng verbunden fühlte, dieses Ziel aussprach, kritisierten Skeptiker oft eine Abkehr vom Pazifismus.
Damit lagen sie nicht falsch: Unter Abes Regierungen wurde die Verteidigungsbehörde auf den Status eines Ministeriums gehoben. 2014 wurde die Verfassung so uminterpretiert, dass die Selbstverteidigungskräfte auch dann einschreiten dürften, wenn nicht Japan selbst, sondern auch ein Sicherheitspartner bedroht sei. Auch Einschränkungen für Waffenexporte wurden gelockert. „Diese Schritte waren notwendig“, sagt Kikawada. „Um uns herum rüsteten China und Nordkorea auf. Wir konnten nicht einfach zusehen.“
Spärliche Kritik
Den größten Schritt aber markiert die Nationale Sicherheitsstrategie. Und die Kritik im Inland hieran fällt wohl nicht zuletzt deshalb überraschend spärlich aus, weil sich Partnerstaaten wie Deutschland auf ähnliche Weise umstellen.
Allerdings steht Japan mit seinem Beschluss auch vor neuen Problemen. Kikawada gehört zu denjenigen, die bezweifeln, dass 2 Prozent des BIP ausreichen, um Japan und seine Verbündeten wirksam zu verteidigen. Dabei ist nicht einmal geklärt, wie der künftige Etat finanziert wird: Gegen die Idee von Premier Kishida, neue Steuern zu erheben, formierte sich schnell Widerstand. Auch Neuverschuldung ist angesichts der hohen Staatsschuldenquote Japans unpopulär. Die Sache bleibt vorerst ungeklärt.
Und selbst wenn das Geld einmal da ist, prangen Fragezeichen hinter der Mittelverwendung. Die Selbstverteidigungskräfte – ähnlich wie die Bundeswehr – haben seit Jahren Probleme, Rekruten zu werben. Der Sold ist niedrig, der Komfort gering: In japanischen Kasernen haben selbst Offiziere keine Einzelzimmer – im Gegensatz zu US-Kollegen, die in Japan auch stationiert sind. Kurz: Die Streitkräfte gelten als unattraktiver Arbeitgeber.
Japans Streitkräfte haben Probleme, Rekruten zu werben: Der Sold ist niedrig, der Komfort gering
Abgesehen von der Herausforderung, ein künftig üppiger finanziertes Militär auch personell entsprechend wachsen zu lassen, ist die Rüstungsindustrie nicht annähernd so stark, wie die Regierung es sich wünschen würde. Zwar sind weltweit führende Unternehmen in der Schwerindustrie, im Hightech- und IT-Sektor in Japan beheimatet. Aber durch jahrzehntelange Exportbeschränkungen hat das Land heute kaum wettbewerbsfähige Rüstungsunternehmen. Die Selbstverteidigungskräfte kaufen vor allem US-Gerät.
„Es wird noch viele Jahre brauchen, bis Japan hier aufholt“, urteilt Ken Jimbo, Professor für Politik an der Tokioter Keio-Universität und Experte für Diplomatie und Sicherheit. Ein Prestigeprojekt, das Japan auch als möglichen Rüstungsexporteur etablieren soll, ist eine Kooperation mit Großbritannien und Italien beim Bau eines Kampfjets. Zuletzt verkaufte Japan zudem ein Radarsystem an die Philippinen. Aber viel mehr gibt es nicht zu berichten. Diverse andere Ausschreibungen verlor das Land. „Wir schneiden bisher sehr schlecht ab“, so Jimbo. „Wir müssen viel verändern.“
Internationale Politik 1, Januar/Februar 2024, S. 94-97
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