Liebesgrüsse eines wilden Bergjuden
Wo diktatorische Herrschaft und westliche Lebensweltlichkeit koexistieren
Im Café „Ali und Nino“ wird die Gegenwart verhandelt – über den scheinbaren Umweg der Vergangenheit. Nur einen Steinwurf entfernt von einer McDonalds-Filiale und der seit 1990 verriegelten armenischen Kirche wird unter stilisiert orientalischen Wandbildern die Frage diskutiert, wer wohl der wirkliche Verfasser von Aserbaidschans modernem und geradezu atemberaubend toleranten Nationalepos Ali und Nino sei.
„Kurban Said“, sagt ein Student, der namenlos bleiben möchte, „war das Pseudonym für Lew Nussimbaum, der 1905 hier in Baku in einer jüdischen Familie geboren wurde. Er war der wohl berühmteste Orient-Erklärer im deutschsprachigen Raum, und diesen Roman – die kosmopolitische Liebesgeschichte zwischen dem jungen Muslim Ali und der georgischen Christin Nino – hätte tatsächlich nur ein Jude schreiben können, der an Aserbaidschan gerade das kulturell Vermischte derart schätzte.“
Wir sprechen englisch, und der junge Mann dämpft trotz der am Nebentisch speisenden Polizisten keineswegs die Stimme, wenn er „Jewish“ sagt. Immerhin hatte sogar Azernews, die offiziöse englischsprachige Zeitung des mehrheitlich schiitischen Landes, stolz vom Besuch des israelischen Verteidigungsministers Moshe Yaalon im September berichtet: Neue Allianzen in einer seit Menschengedenken geostrategisch entscheidenden Region im Schatten Russlands und des Iran. Ironie der Geschichte: Das „christliche“ Armenien ist inzwischen in Richtung Iran orientiert; Aserbaidschan sucht seit Langem die Nähe zum Westen, Israel inklusive. Auch gibt es in Baku eine aktive jüdische Gemeinde mit Synagogen und Kultureinrichtungen.
Wer aber in Aserbaidschan fehlt, das sind indes die Armenier. Im Januar 1990 hatte es ein Pogrom gegeben, Mord und Vertreibung unter dem Vorwand der Revanche für das ebenso gewalttätige armenische Vorgehen in der Enklave Berg-Karabach. Das ehemalige Armenierviertel ist längst neu besiedelt, und jegliche Spuren wären verwischt, gäbe es nicht auch in diesem Fall das Gedächtnis der Literatur: die Romane der 1984 in Baku geborenen und inzwischen in Deutschland lebenden Olga Grjasnowa.
Gerade deshalb ist die Frage nach dem „wirklichen“ Verfasser von Ali und Nino keineswegs eine Bohème-Marotte. Im Gegenteil. Am Tag zuvor hatte die staatlich bestallte Reiseführerin noch eine ganz andere Lesart verteidigt. Der Kleinbus war vorbei an gigantischen Hafenanlagen und großformatigen Firmenschildern wie denen von Halliburton zurück ins Zentrum gerauscht, und Madame Irina hatte im Brustton der Überzeugung erklärt: „Ich bitte Sie! All die Feinheiten der muslimischen und christlichen Kultur, des langen russischen Einflusses, der persischen Prägung. Wie hätte ein Jude all dies beschreiben können? Nein, nein, der wahre Verfasser von Ali und Nino war ein richtiger Aserbaidschaner und hieß …“ Aber hatte der New York Times-Journalist Tom Reiss nicht schon vor Jahren diese Legende widerlegt? Irinas Antwort: „Aber der ist doch gewiss auch Jude, also …“
Wir fuhren vorbei an Protzbauten ähnlich des Pariser Châtelet-Theaters, an einem Regierungsgebäude in venezianisch-stalinistischem Stil in Richtung des postmodernen, von der in London lebenden Star-Architektin Zaha Hadid entworfenen Heydar Aliyev Museums, das den Großtaten des 2003 verstorbenen Autokraten gewidmet ist. „Schöne Autos!“, kommentierte Frau Irina die Ansammlung von Nobelkarossen, mit denen Aliyev sich hatte umherfahren lassen – in seiner Zeit als KP-Chef wie auch nach 1993 als Herrscher über das „neue Aserbaidschan“.
Das großstädtische Ensemble zwischen Altstadt-Moscheen und den drei hochaufstrebenden Glasbeton-Flame Towers kann sich ebenso sehen lassen wie die Schar promenierender Schönheiten, von denen keine einzige verschleiert ist. Repression tobt sich hier diskreter aus, etwa in der Ver-haftung missliebiger Journalisten und Menschenrechtler. Andererseits aber entsteht nirgendwo der Eindruck, dass hier eine unwillige Bevölkerung hineingezwängt würde in eine autoritäre Ölmoderne mit ungeliebter US-Allianz. Selbst die Schwulenbar in einer Seitengasse nahe der Altstadtmauer wirkt nicht wie eine fragil-mondäne „bubble“ inmitten schiitischer Spiritualität.
Doch zurück zu Ali und Nino, dem so ostentativ individualistisch-heterogenen Nationalepos. Woher der Student all dieses Hintergrundwissen habe? „Wie deine Madame Irina sagen würde: Weil auch ich Jude bin, obwohl nicht aschkenasisch, sondern von jenen abstammend, die man hier seit über 1000 Jahren Chasaren oder ‚wilde Bergjuden‘ nennt. Viele sind nach Israel ausgewandert, doch weshalb sollte ich das tun?“ Worauf er lächelnd via Youtube den wohl berühmtesten Spross jener „wilden Bergjuden“ anklickt. Und auf einmal erklingt im schiitischen Baku die bezirzende Stimme der israelischen Pop-Ikone Sarit Hadad und ihr Lobpreis auf jene andere Stadt am Meer: „Bachom hazeh shel Tel Aviv.“ Ambivalentes Öl-Aserbaidschan, deine Mysterien.
Marko Martin lebt, sofern nicht auf Reisen, als Schriftsteller in Berlin. Soeben erschien „Treffpunkt ’89. Von der Gegenwart einer Epochenzäsur“.
Internationale Politik 1, Januar/Februar 2015, S. 132-133