Koordinaten deutscher Außenpolitik
Welche Politik braucht Deutschland? Versuch einer Debatte
Fünf junge Bundestagsabgeordnete formulieren, welche Außenpolitik Deutschland braucht; DGAP-Forschungsdirektor Eberhard Sandschneider analysiert die Texte
von Eberhard Sandschneider
60 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und 15 Jahre nach der Wiedervereinigung ist eine Grundsatzdebatte über die künftige deutsche Außenpolitik wieder einmal überfällig. Die IP bat fünf junge Politiker von SPD, Bündnis90/Grünen, CDU, CSU und FDP um ihren Beitrag.
Die Ausgangssituation lässt sich im Zeitraffer fassen: Besiegt und befreit, in den Westen integriert, nach Osten geöffnet, von der Wiedervereinigung überrascht, in europäische Integration geflüchtet und im Dschungel von Ad-hoc-Entscheidungen verirrt, drückt sich die außenpolitische Elite Deutschlands vor einer offenen und kontroversen Debatte. Hat deutsche Außenpolitik (noch) eine konzeptionelle Grundlage? Brauchen wir eine solche überhaupt, oder ist das nicht das ewig frustrierte Lied von Akademikern und Oppositionspolitikern, die sich gleichermaßen daran abarbeiten, dass ihre wohlmeinenden Ratschläge kaum Niederschlag im Regierungshandeln finden?
Wir haben fünf jüngere Bundestagsabgeordnete gefragt – allesamt Vertreter der künftigen außenpolitischen Elite ihrer Parteien. In knapper Form sollten sie die Eckpunkte und Leitideen ihrer außenpolitischen Vorstellungen formulieren. Was sie schreiben, bleibt generell genug, um Zustimmung zu verdienen. Aber dennoch stimmt das Ergebnis wenig euphorisch. Pauschales liest man zu deutschen Interessen, Vertrautes zum Postulat der Kontinuität, Verschämtes zur Normalisierung, Nostalgisches zu transatlantischen Beziehungen, Euphorisches zu Europa und Verhaltenes zu Eurasien. Den großen Wurf wagt keiner. Wirklich Provozierendes sucht man in allen Beiträgen vergeblich. Aber kann und sollte man das überhaupt erwarten?
Zunächst bleibt festzuhalten: Auf Kontinuität als Maxime zu setzen klingt politisch korrekt, verkennt aber, dass der vielfach beschworene und tatsächlich eingetretene Wandel in unserem außenpolitischen Umfeld eher zu Erstarrung denn zu Handlungsfähigkeit führt. Der Wandel des internationalen Systems verbietet ein Denken in Kontinuitäten und überkommenen Rezepten. Komplexität und Globalisierung sind schon deshalb positiv, weil sie zu neuen Denkansätzen und Lösungsmustern zwingen. In vielen, oft innenpolitisch motivierten Debatten erscheint Globalisierung als Gefahr, nicht als Chance. Aber das Wenige an notwendigen Reformen, die wir bislang zu Wege gebracht haben, verdanken wir nur dem Druck aus globalem Wettbewerb. Und Komplexität zwingt zu neuen und innovativen Lösungen.
Mit dieser Vorgabe erscheinen auch die wesentlichen Spannungsfelder deutscher Außenpolitik in einem anderen Licht. Aus den Beiträgen der Abgeordneten lassen sich drei solcher Spannungsfelder herauslesen, die die Debatte um deutsche Außenpolitik in den nächsten Jahren bestimmen werden:
Europäische Integration – nationale Interessen
Eigentlich ist es die natürlichste Sache der Welt: Alle Staaten haben nationale Interessen. Auch die Deutschen. Doch wir trauen uns nicht, über unsere Interessen zu reden, überhaupt zuzugeben, dass wir so etwas haben könnten oder dürften. Und erst recht trauen wir uns nicht, unsere Interessen offen und ehrlich zu diskutieren. Gebeugt von der Last unserer mörderischen nationalen Vergangenheit versuchen wir die Flucht nach vorn in „europäische Interessen“ anzutreten. Aber sieht man von gefälliger Rhetorik ab, zeigt sich sehr schnell, dass überall in Europa nach wie vor nationalstaatliche Interessen über europäische Interessen gesetzt werden. Und Europa ist trotz aller Integrations- und Erweiterungseuphorie weiter von einer gemeinsamen Identität und gemeinsamen Interessen entfernt denn je.
Nationale Interessen dürfen nicht mit geopolitischen Ambitionen verwechselt werden. Ambitionen dieser Art gehören der Vergangenheit an, aber das heißt eben nicht, dass wir nicht doch legitime Interessen haben. Wir teilen mit anderen Demokratien das Interesse am Aufbau funktionierender Demokratien, an der Einhaltung von Menschenrechten und der Überwindung von Hunger und Armut in allen Teilen der Welt. Es ist das Interesse Deutschlands, an der Erreichung dieser Ziele mitzuwirken.
Wie lässt sich das mit Europa in Einklang bringen? Deutschland tut gut daran, die „Flucht nach Europa“ zur Ersatzlegitimation verhaltener zu betreiben. Europa hat mit einer sehr (vielleicht aber auch zu) schnellen Erweiterung ohne den notwendigen Konsens über eine Vertiefung einen gewaltigen Schritt in Richtung Überdehnung getan.
Transatlantisches Fundament – neue strategische Partnerschaften
Transatlantische Beziehungen haben ihr nostalgisches Deckmäntelchen verloren. Der Wegfall einer gemeinsamen Bedrohung führt zwangsläufig zu der Einsicht, dass ein Blick zurück in Verklärung nichts zur Bewältigung neuer Herausforderungen beiträgt. Die Zukunft der transatlantischen Beziehungen wird harte Arbeit bedeuten und viele Divergenzen und Interessenkonflikte aushalten müssen. Zwei Aspekte mögen dies verdeutlichen:
Die mantrahaften Beschwörungsformeln transatlantischer Werte sind der US-Administration bestens bekannt. Interessiert ist sie aber vor allem an konkreten Beiträgen zur Lösung internationaler Probleme. Wer in den USA als Partner ernst genommen werden will, sollte weniger Blümchenreden über gemeinsame Werte halten, sondern Tacheles reden über die eigene Handlungsbereitschaft. Die damit verbundenen Belastungen müssen auch hierzulande offen diskutiert werden, gerade weil sowohl die amerikanischen wie die deutschen Streitkräfte mit guten Argumenten die Risiken ihrer Überdehnung betonen. Wer eine aktive deutsche Außenpolitik will, muss bereit sein, die damit verbundenen Kosten aufzubringen.
Wer dazu nicht bereit ist, sollte zumindest einen intellektuellen Gegenentwurf präsentieren können. Aber wo ist – so muss man sich in Washington zu Recht fragen lassen – die intellektuelle und politische Alternative zu einer Strategie eines „Krieges gegen den Terror“? Europas Tradition einer doppelbödigen Menschenrechtspolitik setzt sich fort, und die Forderung nach einem „Dialog der Kulturen“ bleibt unglaubwürdig, solange er mit Regierungen geführt wird, die Menschenrechte mit Füßen treten.
Deutschland schweigt folglich bislang zu dem unverkennbaren außenpolitischen Leitthema der zweiten Bush-Regierung: Freiheit und Demokratie. Welch eine Ironie der Geschichte! Was einst unverbrüchlicher Textbaustein in allen Reden zur Deutschland- und Europa-politik war, erleidet heute das Schicksal moderner Textverarbeitung: markieren, ausschneiden, löschen – aus persönlicher Abneigung gegenüber Präsident George W. Bush in den Papierkorb verschoben.
Dürfen wir uns wirklich wundern, dass das Fundament transatlantischer Beziehungen schwächer wird? Es ist eine Binsenweisheit, dass die USA längst nach einer neuen strategischen Weltsicht handeln. Europa hat darin seine Priorität verloren. Aber neue strategische Partnerschaften anzudenken – China, Russland und Indien stehen an der Spitze – ist weniger ein Bruch mit der konzeptionellen Vergangenheit deutscher Außenpolitik, sondern eine Notwendigkeit für die strategischen Herausforderungen der Zukunft. Auf die Gewichtung wird es ankommen. Und hier bleibt viel Raum für konzeptionelle Gestaltung. Die notwendigerweise engen Beziehungen zu den USA müssen ergänzt werden durch strategische Partnerschaften insbesondere mit Russland und China. Mit einer Gefahr der „Entwestlichung“ hat das nichts zu tun. Traditionelle Transatlantiker mögen den Gedanken weit von sich weisen: Eurasien ist für künftige deutsche Außenpolitik ebenso wichtig wie transatlantische Beziehungen.
Außenpolitische Normalität – Politik der Ad-hoc-Entscheidungen
Die Kernfrage lautet also: Wie muss 15 Jahre nach der Wiedervereinigung deutsche Außenpolitik aussehen, um fundamentale nationale Interessen zu wahren? Zu den Ritualen von Außenpolitikdebatten gehören Klagen über mangelnde konzeptionelle Grundlagen. Aber die gebetsmühlenartige Wiederholung der Forderung nach einer Konzeption für deutsche Außenpolitik ist abwegig. Bestenfalls erreicht man damit eines: Pauschale Programmatik und nostalgische Selbstvergewisserung statt pragmatischer und flexibler Ideen. Wer hätte im Jahr 2000 vermocht, eine solche Konzeption zu erstellen, die Ende 2001 noch Gültigkeit gehabt hätte? Wer würde es heute wagen, Sicherheitsrisiken so einzuschätzen, dass Planungssicherheit auch nur für die nächsten fünf Jahre entstünde?
Außenpolitik entsteht im sachlichen Streit um die richtigen Lösungen. Wir brauchen nicht notwendigerweise eine Konzeption, wohl aber eine Debatte, die diesen Namen verdient. Wir brauchen Ideen, Anregungen, Alternativen, die aus der Diskussion ihren Weg in außenpolitisches Handeln finden. Der Prozess ist ebenso wichtig wie das Ergebnis.
Aus den genannten Spannungsfeldern lassen sich die drei zentralen Koordinaten künftiger deutscher Außenpolitik ableiten. Sie bestehen in der Sicherung transatlantischer Zusammenarbeit trotz konkurrierender Interessen, im Ausbau strategischer Partnerschaften mit aufstrebenden Staaten in Asien und in der Vermeidung von Überdehnung in der Europäischen Union.
Zu allen diesen Koordinaten gibt es keine Patentrezepte. Die Beschleunigung politischen Wandels setzt Flexibilität als Handlungsmaxime voraus. Aber wer hinter jeder Kontroverse gleich eine Krise der deutschen Außenpolitik vermutet und jede Debatte mit einem abwertenden -ismus garniert, übersieht einen einfachen Sachverhalt: Wir brauchen harte und kontroverse Debatten nötiger denn je! Nehmen wir uns also beim Wort. Am Anfang jeder Politik steht die Debatte. Wie nötig sie ist, zeigen die nachfolgenden Beiträge.
Unsere Chance ist Europa
Dietmar Nietan
»Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinigten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.«
Wie weitsichtig und klug waren doch die Mütter und Väter unserer Verfassung, als sie mit dieser Präambel 1949 deutlich machten, dass Deutschlands Grundgesetz nur im internationalen Kontext zu verstehen ist. Wir sehen unsere Verantwortung in der Weltgemeinschaft – vor allen Menschen. Wir wollen dem Frieden in der Welt dienen, nicht mit, sondern in einem vereinten Europa! Wer diesen Auftrag unseres Grundgesetzes ernst nimmt, findet hier unmissverständlich den Rahmen für eine „deutsche“ Außenpolitik. So manchem Strategen einer „neuen“ deutschen Außenpolitik empfehle ich deshalb, sich diese Selbstverpflichtung zu vergegenwärtigen.
Unsere Geschichte verpflichtet uns Deutsche gerade heute, in einer Welt voller Unrecht, Armut, Ausbeutung und daraus resultierenden globalen Bedrohungen auch international mehr Verantwortung zu übernehmen. Bedarf es aber deshalb eines größeren außenpolitischen Gewichts der Bundesrepu-blik Deutschland? Ich sage eindeutig ja!
Auch hier lohnt der Blick auf den ersten Satz unserer Grundgesetzpräambel: Wir wollen in einem vereinigten Europa dem Frieden in der Welt dienen. Dieser Auftrag kennt keinen „deutschen Weg“ in der Außenpolitik. Wer Deutschland mehr Gewicht in der Welt geben will, muss sich daher mit Haut und Haaren einem Ziel verschreiben: die europäische Einigung voranzubringen und mit einer gemeinsamen EU-Außen- und Sicherheitspolitik Europas Gewicht in der Welt zu stärken! Dies ist eine politische Zielsetzung, die gerade wegen ihrer europäischen Sichtweise unseren nationalen Interessen dient. Denn in einer globalisierten Welt mit einem teilweise immer anonymer und entfesselter agierenden Kapitalismus ist kollektive Zukunftssicherung der intelligenteste Weg, unseren Bürgern auch in Zukunft Wohlstand, soziale Gerechtigkeit und damit Freiheit zu sichern. Die EU ist hier unsere Heimat. Sie ist das am weitesten gediehene System kollektiver Zukunftssicherung.
Mehr Einsatz für eine fortschreitende europäische Integration, grundlegende Umwidmung von Agrarsubventionen hin zu einer neuen Nachbarschaftspolitik, sich wieder mehr als Partner der „kleinen“ EU-Mitgliedsstaaten zu verstehen, Russland weiter an Europa heranzuführen, ohne die Wachsamkeit für die dortige Aushöhlung der Demokratie zu verlieren, die eigenen militärischen Fähigkeiten der EU im Sinne einer Stärkung des europäischen Pfeilers im transatlantischen Bündnis auszubauen, mit eigenen konkreten Initiativen eine neue Partnerschaft mit den USA zu begründen, den Lissabon-Prozess mit der Erarbeitung eines europäischen Sozialmodells zu verbinden, die Fähigkeiten zur Krisenprävention zu erhöhen – all dies und noch viel mehr fällt mir ein, wenn ich die Frage beantworten soll, welche Außenpolitik unser Land braucht. Aber der Ort für diese Außenpolitik muss die EU sein. Ich halte einen deutschen Sitz im Sicherheitsrat für sehr erstrebenswert, wenn Deutschland diesen Sitz als eine Vertretung der EU-Interessen verstehen würde. Das würde unsere französischen und britischen Freunde vielleicht nicht freuen, aber für Europa wäre es gut – und damit auch für uns …
Verantwortung auf multilateralen Wegen
Alexander Bonde
Die grüne Vision deutscher Außenpolitik ist die Herausbildung einer neuen internationalen Ordnung, die nach menschenrechtlichen, ökologischen, sozialen, demokratischen, friedlichen und freiheitlichen Maßstäben gestaltet wird. Das ist die Wertematrix, an der sich grüne Außenpolitik orientiert. Umgesetzt werden können diese Werte ausschließlich durch den Multilateralismus – ein Grundsatz, dem in der deutschen Außenpolitik seit der Nachkriegszeit immer Beachtung geschenkt wurde. Doch bleibt Deutschland auf gewohnten Pfaden?
Die deutsche Außenpolitik wurde seit 1945 maßgeblich von zwei Konstanten bestimmt: dem europäischen Einigungsprozess auf der Grundlage enger Kooperation mit Frankreich und den transatlantischen Beziehungen. Beide Orientierungen gelten nach wie vor, aber sie bedürfen einer grundlegenden Neugestaltung seit den Ereignissen des 9.11. (1989) und des 11.9. (2001).
Die erste Zäsur, die deutsche Wiedervereinigung, veränderte die geostrategischen Rahmenbedingungen, das Verhältnis der Europäer untereinander wie ihre Beziehung(en) zu den USA. Die Terroranschläge auf das World Trade Center und das Pentagon markierten eine weitere Zäsur. Die Anschläge verursachten ein Gefühl der Verwundbarkeit und veränderten Gesellschaft und Politik der USA. Amerika ist nun gewappnet, im Kampf gegen den Terrorismus die Welt in seinem Sinne neu zu ordnen, um wieder Sicherheit zu erlangen.
Nicht erst seit dem Waffengang im Irak stehen die transatlantischen Beziehungen vor immensen Herausforderungen: Die Mehrheit der Europäer will die außenpolitischen Beziehungen mit den USA lockern und einen unabhängigeren Weg einschlagen. Wie sollte deutsche und europäische Außenpolitik auf die Haltung seiner Bevölkerung und das unilaterale Vorgehen Amerikas reagieren?
Ein für viele Bürger emotional nahe liegender Lösungsweg wäre, den Vorschlägen zu folgen, Europa zu einer Gegenmacht im Rahmen einer multipolaren Weltordnung aufzubauen. Doch wer seinen nationalen und europäischen Gestaltungsspielraum behalten, ja erweitern will, sollte von diesen Versuchungen Abstand nehmen. Ein langfristig gangbarer Weg ist, die europäische Vereinigung voranzubringen und den Amerikanern deutlich zu machen, dass ein starkes Europa auch gut für die transatlantische Partnerschaft ist.
Jedoch meine ich mit Partnerschaft nicht die Aufgabe eigener Positionen. Grundsätzlich sollten wir es begrüßen, dass die USA die Welt demokratisieren wollen. Jedoch unterscheidet sich rot-grüne Außenpolitik in der Frage der Mittel zur Erreichung dieses Zieles. Militärische Gewalt kann nicht das Instrument sein, um Demokratie und Frieden zu entwickeln: Sie darf nur in einer akuten Bedrohungslage als ultima ratio eingesetzt werden.
Um weltweit Demokratie zu fördern, ist multilaterale Zusammenarbeit nötig, die auf internationalem Recht gründet. Auch Probleme wie die Proliferation von Massenvernichtungswaffen, die Stabilisierung von failing states und der Klimaschutz erfordern multilaterale Foren für einen nachhaltigen Strategiedialog. Dafür müssen die Strukturen der UN und NATO reformiert und den neuen Herausforderungen angepasst werden. Europäische Außenpolitik hat keine andere Wahl, als auf die veränderte weltpolitische Lage zu reagieren. Vor allem wir Deutsche können nicht in der Nostalgie der guten alten Zeiten verharren, sondern sollten uns im europäischen Bunde mit den Amerikanern daran setzen, die Welt mit friedlichen Mitteln zu verändern.
Für Verlässlichkeit und Substanz
Eckart von Klaeden
Nur mit einer Außen- und Sicherheitspolitik, die bündnis- und führungsfähig bleibt, kann Deutschland in der internationalen Politik des 21. Jahrhunderts bestehen. Die Weichen für die Zukunft müssen neu gestellt werden.
Allen rot-grünen Lippenbekenntnissen zum Trotz hat Deutschland nicht nur seine soziale und ökonomische Modellfunktion verloren, sondern auch seine außenpolitische Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit. Das zeigt schon ein Blick auf den Bundeshaushalt: Die jetzige Bundesregierung hat die Ausgaben für die Außen- und Sicherheitspolitik stetig zurückgefahren. 1991 beanspruchten die drei Ministerien mit internationalen Aufgaben (Auswärtiges Amt, Entwicklungszusammenarbeit, Verteidigung) noch über 20 Prozent des Bundeshaushalts – heute sind es nur noch etwa zwölf Prozent. Das spricht nicht für die gestiegene internationale Verantwortung eines Landes, das sich unermüdlich für einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat bewirbt.
Wer Handlungs- und Führungsfähigkeit gewinnen will, der braucht die richtigen Konzepte und einen langen Atem. Global denken bedeutet im 21. Jahrhundert, dass jedes Land auf dieser Welt unser Nachbar ist. Erforderlich sind daher dauerhafte Strategien der Zusammenarbeit und Konfliktbewältigung.
Niemals zuvor waren Außen- und Sicherheitspolitik so eng verbunden und aufeinander angewiesen. Auch in Berlin müssen die Kräfte gebündelt und neu fokussiert werden. Deutschland braucht wieder eine Außen- und Sicherheitspolitik aus einem Guss, die ihre Ziele und Prioritäten schlüssig benennt. Ihre Grundlage sind – und das gehört zum bleibenden Vermächtnis Konrad Adenauers – das vitale Interesse an der Vertiefung der Europäischen Union, die Bewahrung und immerwährende Erneuerung der transatlantischen Partnerschaft und die besondere Verantwortung für Israel. Diese Einsicht signalisiert, dass eine Kurskorrektur notwendig ist. Die Regierung Schröder/Fischer hat seit 2002 die Weichen in eine unberechenbare Zukunft gestellt, die Deutschland aus dem atlantischen Verbund herausgeführt hat. Sie hat nicht nur das transatlantische Verhältnis beschädigt, sondern auch deutsche und europäische Interessen gefährdet. Gerade die neuen EU-Mitgliedsstaaten in Mittel- und Osteuropa haben diese Entwicklung mit Sorge registriert.
Das 21. Jahrhundert wird von Ressourcenkonflikten, Spannungen zwischen kulturellen Identitäten und religiös motiviertem Terrorismus geprägt werden. Alle diese Herausforderungen werden Amerika und Europa nur gemeinsam meistern können. Konkret bedeutet das: Innerhalb und außerhalb Europas müssen sowohl Koalitionen als auch Konfliktszenarien lagegerecht gehandhabt werden. Verlässlichkeit und Flexibilität schließen sich nicht aus. Oft bedingen sie sich sogar.
Deutsche Außen- und Sicherheitspolitik im Zeitalter der Globalisierung kann nur Weltpolitik sein. Die auffallende Neigung der rot-grünen Koalition, international nur punktuell und mit humanitärer Begründung aufzutreten, hat mit verantwortungsvoller Politik nichts zu tun. Es ist kein Zufall, dass am Horizont schwelende Probleme nicht wahrgenommen und auch nicht angemessen gelöst werden können. Kurzum: Deutschland braucht eine vorausschauende und langfristig angelegte Außen- und Sicherheitspolitik. Sie muss verlässlich und berechenbar sein und nüchtern die eigenen Interessen wahrnehmen. Die gegenwärtige außenpolitische Beliebigkeit wird diesem Anspruch nicht gerecht.
Wider eine Ad-hoc-Politik
Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg
Nach dem Krieg und vor dem annus mirabilis 1989/90 definierte sich deutsche Außenpolitik jahrzehntelang durch ein scheinbar fest gefügtes Korsett überschaubarer Machtkonstellationen. Heute treffen wir auf asymmetrische Gefährdungslagen: die Bedrohungstrias aus Terrorismus, scheiternden Staaten und Massenvernichtungswaffen. Die sicherheitspolitischen Bündnisse und internationalen Organisationen stehen vor fundamentalen Neuausrichtungen. Deutschlands Rolle als gelegentlicher Balancefaktor inner- und außerhalb Europas musste in den letzten Jahren zunehmend selektiven Bindungen weichen. Das transatlantische Verhältnis hat Schaden genommen.
Dabei ist augenfällig, dass die USA und Europa den asymmetrischen Bedrohungen dieser Zeit kaum unabhängig voneinander effektiv entgegentreten können. Angesichts der aktuellen Herausforderungen dürfen europäische Einheit und transatlantische Partnerschaft keine sich aus-schließenden Optionen sein. Diesbezüglich ist und bleibt eine Politik der doppelten Integration ohne Alternative. Ziel der deutschen bzw. europäischen Politik sollte jedoch nicht die Schaffung einer „multipolaren Welt“ sein. Dies könnte als Versuch missverstanden werden, einen (illusionären) Gegenpol zu den USA zu etablieren. Das europäisch-amerikanische Verhältnis ist im Sinne einer balancierten Partnerschaft eher komplementär-gesamtgewichtig statt konträr-gegengewichtig zu ges-talten.
Die vorhandenen Institutionen sind beidseitig zu stärken. Hierbei bleibt die NATO die zentrale Organisation für unsere Sicherheit. Auf der Basis einer gemeinsamen Bedrohungsanalyse und, daraus folgend, der sicherheitspolitischen Bündnisinteressen müssen Europäer und Amerikaner in einem strategischen Dialog die NATO den aktuellen und künftigen weltpolitischen Gegebenheiten flexibel anpassen – allerdings ohne die Bedeutung der Allianz mit missverständlichen Äußerungen zu relativieren. Einer gelegentlich aufkeimenden „toolbox-Mentalität“ ist entgegenzuwirken – auch hinsichtlich eines spiegelbildlichen deutschen Verhaltens. Schließlich ist die Debatte um die Zukunft der UN nicht lediglich auf tagespolitisch reizvolle Einzelaspekte zu reduzieren.
Ein Merkmal unserer Außenpolitik war stets die Kontinuität. Angesichts der zunehmenden Unberechenbarkeit der Bedrohungen mag Kontinuität schwieriger erscheinen, muss aber Grundmaxime unserer außenpolitischen Willensbildung wie des Handelns bleiben.
Wir müssen die Logik der Abfolge unseres außenpolitischen Handelns umkehren: Nicht eine Ansammlung unschlüssiger Einzelentscheidungen ergibt ein tragfähiges Konzept, sondern aus der Formulierung des Konzepts muss sich die Logik der Handlungsform ergeben. Es darf kein Verharren in einer Doktrin kurzfristiger außenpolitischer Willensbildungen geben.
Wir werden im positiven, nicht im übermütigen Sinne Mut brauchen. Mut, um zu verdeutlichen, wie potenziell verwundbar auch unser Land angesichts der Bedrohungslage geworden ist. Mut, um gewohnte und lieb gewonnene Strukturen – seien sie militärischer oder ziviler Art – dieser Erkenntnis anzupassen. Mut, um auch in unserer Bevölkerung mehr um Verständnis gegenüber unseren Partnern zu werben. Allerdings auch Mut, um begründetes Unverständnis wieder in einen wirklich konstruktiven Dialog münden zu lassen. Insgesamt sollte sich unsere Außenpolitik auf einer ernst zu nehmenden Definition nationaler wie europäischer Interessen begründen.
Freiheit fördern – Werte sichern
Alexander Graf Lambsdorff
Deutschland braucht eine wertgebundene, langfristig angelegte Außenpolitik. Die Werte im Mittelpunkt dieser Politik müssen Freiheit und Demokratie sein. Immanuel Kant stellte vor 200 Jahren fest, dass Demokratien einander nicht bekriegen und erkannte damit die Verbindung zwischen der inneren Ordnung eines Staates und seiner Rolle im internationalen System. Seine These übersetzt in praktische Außenpolitik lautet: Die Förderung von Demokratie und Freiheit ist die erfolgreichste Friedenspolitik. Sie erfüllt den Auftrag der Präambel des Grundgesetzes, „in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“. Deshalb müssen die Unterstützung des Freiheitsgedankens und die Vermittlung demokratischer Werte Richtschnur deutscher Außenpolitik werden. Von diesen Kernelementen ausgehend, ist das Wertegerüst deutscher Politik klar definiert: Einsatz für Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft, Toleranz und Verständigung unter den Völkern. Die Bundesrepublik hat Instrumente geschaffen, die geeignet sind, wertgebundene Politik umzusetzen. Politische Stiftungen, international tätige Bildungswerke bieten konkrete Handlungsfähigkeit im Rahmen der „intersocietal diplomacy“. Kürzungen auf diesem Gebiet sind kurzsichtig – sie müssen später durch weit höheren Aufwand ausgeglichen werden.
Deutschland braucht eine interessengeleitete, transparente Außenpolitik. Wie jedes andere Land hat auch Deutschland nationale Interessen, die in Klarheit kommuniziert werden müssen. Diese Interessen – eingebettet in ein zusammenwachsendes Europa – sind: Erhalt der Sicherheit und Freiheit unseres Landes, der EU und der NATO; Stärkung der UN und des Völkerrechts; Erhalt des demokratischen Rechtsstaats; Sicherung und Ausbau des Wohlstands; Erhalt und Erweiterung des freien Handels in der Welt; sichere Versorgung mit Energie und anderen Ressourcen; Erhalt einer lebenswerten Umwelt; Erhalt und Pflege der deutschen Kultur und Sprache. Die Verfolgung dieser Interessen ist Gegenstand deutscher Außenpolitik.
Deutschland braucht eine europäisch globalisierte Außenpolitik. Als mittelgroßes Land sind wir politisch kein global player. Im Verbund der EU aber kommt Deutschland Mitverantwortung für die Entwicklung der globalen Rolle Europas zu. Unser Streben nach einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik setzt die Bereitschaft voraus, die Realität einer entstehenden multipolaren Ordnung anzuerkennen, in der nicht jeder Pol jederzeit gleich stark sein wird. Die Vormachtstellung der USA, die Stagnation Russlands (mit offenem Ausgang) und die Aufstiege Chinas und Indiens machen klar, dass im 21. Jahrhundert nur die EU als Ganzes imstande sein wird, mit anderen großen Machtzentren mitzuhalten. Das erfordert die Überwindung nationaler Egoismen mit schrittweiser Übertragung des gesamten Spektrums außenpolitischer Instrumente auf die europäische Ebene: Diplomatie, Entwicklungszusammenarbeit, Handelspolitik, Militär und Nachrichtendienst. Noch ist eine gemeinsame Außenpolitik Ziel, nicht Realität Europas. Das muss sich ändern, denn die Alternative ist so klar wie unerfreulich: Die Staaten Europas nehmen die Rolle der griechischen Stadtstaaten im Römischen Reich ein – kulturell reizvoll, wirtschaftlich interessant, aber politisch unbedeutend. Aus Verantwortung für Europas Werte darf es hierzu nicht kommen. Deshalb ist auch eine neu definierte enge Partnerschaft mit den USA nötig. Hinzukommen muss eine ernst gemeinte Zuwendung zu Afrika als unserem Nachbarkontinent, dessen Entwicklung in unserem eigenen Interesse liegt.
Internationale Politik 6, Juni 2005, S.