IP

01. Okt. 2018

Konkurrierende Logiken

Bedingungen für einen Veränderungsprozess in Syrien

Der Krieg geht dem Ende zu, nun wird um die politische Zukunft Syriens gerungen. Russland spricht sich für ein international finanziertes Wiederaufbauprogramm aus, während die EU-Staaten dafür ein Mindestmaß an politischer Veränderung verlangen. Auf jeden Fall braucht man Gesprächskanäle nach Damaskus, auch offizielle.

In Syrien geht der Krieg dem Ende zu. Zwar redet niemand vom Frieden, aber Russland und der Iran haben dafür gesorgt, dass der syrische Präsident Baschar al-Assad den Konflikt militärisch weitgehend für sich entschieden hat. Die Provinz Idlib im Nordwesten des Landes dürfte früher oder später und – sofern die russisch-türkische Absprache vom September hält – auch ohne größeres Blutvergießen wieder unter die Kontrolle der Regierung in Damaskus kommen. Der so genannte Islamische Staat (IS) hat seine territoriale Kontrolle über weite Teile Syriens und des Iran verloren. Als Terror­organisation bleibt er aber gefährlich. Die von den USA unterstützte und östlich des Euphrat dominierende kurdische PYD weiß nicht, wie lange sie sich noch auf diese amerikanische Präsenz und Hilfe verlassen kann, und sucht deshalb die Annäherung an ­Damaskus.

Angesichts der militärischen Entwicklungen wird nun auch wieder über die politische Zukunft Syriens gerungen – allerdings nicht in innersyrischen Gesprächen unter Vermittlung der Vereinten Nationen, wie es die Sicherheitsratsresolution 2254 (2015) vorsieht, sondern zwischen den einflussreichen regionalen und internationalen Mächten.

Zwei unterschiedliche Ansätze

Russland kontrolliert nicht nur den Luftraum über Syrien, sondern hat in vielen ehemaligen Rebellengebieten eigene Militärpolizei stationiert und sich zudem um eine Reorganisation der syrischen Streitkräfte bemüht. Nach der erfolgreichen militärischen Befriedung des Landes müsse es, so Moskau, nun um wirtschaftliche Stabilisierung sowie die Rückkehr von Flüchtlingen und Vertriebenen gehen. Dafür sei internationale Hilfe beim Wiederaufbau erforderlich, insbesondere aus der Europäischen Union, die schließlich ein Interesse an einer stabilen Nachbarschaft habe. Die Regierung in Moskau hat vorsorglich schon einen logistischen Masterplan für die Rückkehr der Flüchtlinge aus den Nachbarstaaten und den europäischen Fluchtländern erstellt – dass die Betroffenen dazu nicht befragt wurden, ist allenfalls ein Detail. Zudem bemüht man sich, Assad bestimmte Zugeständnisse abzuringen, nicht zuletzt die Zustimmung, eine Verfassungskommission einzusetzen.

Auch die Europäische Union, ihre Mitglieder und gleichgesinnte Staaten verschließen sich keineswegs den militärischen Realitäten. Sie sprechen nicht mehr davon, dass Assad gehen müsse. Aber sie bestehen auf einer anderen Logik: Substanzielle Hilfe für den Wiederaufbau Syriens könne es nur geben und sei auch nur dann sinnvoll, wenn ein Mindestmaß an politischer Veränderung erreicht werde. Andernfalls, so wird zutreffend argumentiert, bliebe das Land gesellschaftlich fragmentiert und es bestünde ein hohes Risiko, dass erneut gewaltsame Konflikte ausbrechen oder sogar – wie Jahre zuvor im Irak – eine neue Terrororganisation, ein „IS 2.0“, entstehe und sich ausbreite.

Als Maßstab für einen solchen Veränderungsprozess werden die Einrichtung einer Verfassungskommission unter der Ägide des UN-Sondergesandten für Syrien, Staffan de Mistura, in Genf oder auch von den Vereinten Nationen überwachte Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in Syrien genannt. Die Vereinigten Staaten teilen im Prinzip diese Position; allerdings besteht ihr vorrangiges Ziel darin, den iranischen Einfluss in Syrien zurückzudrängen.

Ungesühnte Kriegsverbrechen

Im Rahmen des einen wie des anderen Ansatzes wird kaum etwas geschehen, um diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die für Hunderttausende Tote, die weitgehende Zerstörung ganzer Stadtteile und Orte oder das Elend der knapp zwölf Millionen Binnenvertriebenen und Flüchtlinge Verantwortung tragen. Das gilt sowohl für Akteure innerhalb als auch außerhalb des Landes. Assad und sein Machtapparat haben seit Beginn der Proteste 2011 mit einer Politik der gezielten Todesschüsse sowie der Entlassung zahlreicher Extremisten aus den Gefängnissen des Regimes maßgeblich für eine Radikalisierung des Aufstands gesorgt. Damit haben sie die terroristische Bedrohung, der man sich mit russischer Hilfe entgegenzustellen behauptete, in Teilen überhaupt erst – und höchstwahrscheinlich mit Absicht – geschaffen.1

Kriegsverbrechen wurden in unterschiedlichem Maße auf allen Seiten der syrischen Frontlinien verübt. Gleichzeitig trugen die politischen Entscheider in Katar, in anderen arabischen Golfstaaten und in der Türkei mit ihrer Patronagepolitik dazu bei, die Opposition zu fragmentieren. Dabei förderten sie – mitunter auch vorsätzlich – dschihadistische Gruppen und setzten aktiv auf eine Militarisierung des Aufstands. Warnungen vor einem solchen Kurs erhielten hier wenig Gehör.2

Staaten der Europäischen Union und die USA haben in unterschiedlicher Form zivile Oppositionskräfte und als moderat eingestufte Rebellen unterstützt; diese wurden allerdings immer mehr geschwächt und gerieten an vielen Stellen sogar zwischen die Fronten. Aus dem Aufstand wurde ein offener und internationalisierter Krieg, in dem letztlich nur Russland und der Iran eine echte Strategie verfolgten.

Indem diese Länder ihr militärisches Gewicht vorbehaltlos auf Seiten ihres Verbündeten in Damaskus einbrachten, ist Syrien heute abhängiger vom Ausland als jemals zuvor. Assad und seine Leute versuchen zwar, Differenzen zwischen dem Iran und Russland aktiv zu nutzen, aber sie haben viel an tatsächlicher Souveränität an das russische Militär beziehungsweise an die iranischen Revolutionsgarden verloren. Letztere betrachten Syrien mittlerweile als Garanten ihres Einflusses und zentralen Bestandteil einer iranisch dominierten „Achse des Widerstands“.

Russland ist weder an einer solchen iranischen Machtprojektion noch an weiterer regionaler Eskalation interessiert. Vielmehr strebt es eine Normalisierung der Lage unter einer international anerkannten Regierung in Damaskus an, die weiterhin mit Moskau kooperiert. Als der mit Abstand wichtigste Power Broker in Syrien hat sich Russland sehr viel vorgenommen, tatsächlich wohl mehr, als es liefern kann: neben Stabilisierung, Verfassungsdebatte, Militärreform, Flüchtlingsrückkehr und lokalen Versöhnungsarrangements eben auch die Vermeidung einer israelisch-iranischen militärischen Konfrontation in Syrien.

Einiges davon entspricht auch europäischem Interesse. Dass Europa allerdings, wie einige Politiker und Kommentatoren gern wiederholen, Russland in Syrien brauche, trifft allenfalls teilweise zu. Mindestens so zutreffend ist, dass Russland Europa in Syrien braucht.

Deshalb ist es gut, dass Deutschland sich entschieden hat, in einer über die internationalen Frontstellungen hinausweisenden Vierergruppe – zusammen mit Frankreich, der Türkei und Russland – nach möglichen Gemeinsamkeiten zu suchen. Auch mit dem Iran wird man hierzu trotz der sehr viel größeren Differenzen über die Zukunft Syriens im Gespräch bleiben müssen.

Realistische Politik betreiben

Die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten sollten weiterhin die Bemühungen der Vereinten Nationen um einen politischen Prozess unterstützen, die sich seit geraumer Zeit auf die Einrichtung einer innersyrischen Verfassungskommission konzentrieren. Die Aussichten, dass dies gelingt und tatsächlich in eine neue Verfassung mündet, die die Weichen für ein inklusiveres politisches System stellt, sind allerdings gering.

Auch bei der Forderung nach von den Vereinten Nationen überwachten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in Syrien gilt es realistisch zu sein: Selbst halbwegs freie und faire Wahlen dürften zu einer Bestätigung Assads führen, wenn alle anderen politischen Kräfte sich nicht durch wundersame Fügung auf einen glaubwürdigen Kandidaten oder eine Kandidatin einigen sollten. Insofern ist eher davor zu warnen, die eigene Politik gegenüber Syrien von dem Zustandekommen einer Verfassungskommis­sion oder der Abhaltung von Wahlen abhängig zu machen.

Deutsche und europäische Politik sollten sich an den Tatsachen vor Ort orientieren. Die Folgen von sieben­einhalb Jahren Krieg und Gewalt sind verheerend: Syrien ist größtenteils zerstört, die Wirtschaft liegt am Boden und mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist vertrieben oder auf der Flucht. Vielen fehlen die notwendigen Dokumente, um Identität oder Besitz nachzuweisen. Die meisten Kinder in den Konfliktregionen haben während der vergangenen sieben Jahre gar keine oder nur sehr unregelmäßig die Schule besucht. Der Anteil an Kinderarbeit und Ehen von minderjährigen Mädchen ist im Verlauf der Kriegsjahre eklatant gestiegen.3

Der Zugang zu sauberem Wasser, Nahrungsmitteln und Elektrizität sowie legale Erwerbsmöglichkeiten fehlen vor allem in den von der Regierung zurückeroberten oder unter russischer Vermittlung und entsprechendem Druck „versöhnten“ Gebieten. Von einer echten Befriedung sind diese Gebiete weit entfernt. Berichte über willkürliche Festnahmen oder Morde an ehemaligen Kämpfern, zivilen Aktivisten oder Verwaltungskräften in diesen Städten und Landkreisen mögen nicht in jedem Fall zutreffen, häufen sich aber. Es wäre illusorisch, auf die Rückkehr einer großen Zahl von Flüchtlingen und Binnenvertriebenen zu setzen, wenn diese sich ihres Lebens, ihrer Freiheit und ihrer Eigentumsrechte nicht sicher fühlen können.

Auch ein international finanziertes Wiederaufbauprogramm, wie es Russland vorschlägt, würde eher zur Bereicherung von Kriegsgewinnlern als zum gesellschaftlichen Frieden beitragen, wenn das fehlt, was im Sprachgebrauch internationaler Organisationen als sicheres, ruhiges und neutrales Umfeld bezeichnet wird. Dies wäre ein Mindestmaß an politischer und rechtlicher Veränderung, das sich eben nicht an der Vorlage einer neuen Verfassung oder einem Wahlakt bemisst, sondern daran, ob Verbliebene wie Rückkehrer, Sieger und Besiegte gleichermaßen Schutz genießen und Rechte wahrnehmen können. Das ist heute nicht gewährleistet.

Konkrete Fortschritte einfordern

Aussagekräftige Wahlen werden ohnehin erst möglich sein, wenn ein politischer Raum entsteht, wie es ihn – äußerst begrenzt – vor 2011 in Syrien durchaus gab. Europäisches Engagement für Wiederaufbau wird umso stärker von konkreten Bedingungen und Fortschritten abhängig gemacht werden müssen. „Mehr für mehr“: Dazu gehören der Erhalt von regionalen und kommunalen Strukturen, die eine Beteiligung der lokalen Bevölkerung sichern, ebenso wie der Aufbau in Gebieten, die sich heute noch außerhalb der Regierungskontrolle befinden.

Stabilisierungsmaßnahmen dagegen müssen umgehend beginnen, zunächst in ausgewählten Bereichen und in Zusammenarbeit mit lokalen und kommunalen Akteuren. Auch dafür gibt es Voraussetzungen, nicht zuletzt den ungehinderten Zugang für humanitäre Organisationen und den Schutz besonders verletzlicher Gruppen.

Um in dieser Hinsicht überhaupt Einfluss zu gewinnen, braucht es allerdings Gesprächskanäle nach Damaskus, und zwar nicht nur solche informeller Art. Deutschland sollte sich mit den wichtigsten EU-Partnern auf eine gemeinsame Linie verständigen, wie und auf welchem Niveau man die politischen Kontakte mit der Regierung in Damaskus wieder aufnehmen will. Gleichzeitig muss ein gezieltes personalisiertes Sanktionsregime gegen hoch- und höchstrangige Kriegsverbrecher aufrechterhalten werden.

Berlin hat die diplomatischen Beziehungen mit Syrien nie abgebrochen, hat allerdings wie die meisten EU-Staaten seine Botschaft geschlossen. Die Anwesenheit von Diplomatinnen und Diplomaten vor Ort erlaubt aber immer auch eine bessere Beobachtung und realistischere Bewertung der Lage; sie schafft Zugänge und zeigt der syrischen Zivilgesellschaft, dass ihr Land dem Rest der Welt nicht gleichgültig ist.

Beziehungen dieser Art sind kein Ausdruck von Sympathie; sie sind notwendiger Teil einer internationalen Politik, die helfen und gestalten will.

Prof. Dr. Volker Perthes ist Geschäftsführender Vorsitzender und Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Er bedankt sich bei Yasemin Pamuk für ihre Mitarbeit.

1 Guido Steinberg: Das Ende des IS. Die Fragmentierung der jihadistischen Bewegung. SWP-Studie 2018/S20, S. 12.

2 Muriel Asseburg: Syrien: Keine Militarisierung des Konflikts fördern, SWP Kurz gesagt 21.11.2011.

3 UNHCR Whole of Syria 2018 Protection Need Overview, https://hno-syria.org/data/downloads/protection.pdf.

  • 1Guido Steinberg: Das Ende des IS. Die Fragmentierung der jihadistischen Bewegung. SWP-Studie 2018/S20, S. 12.
  • 2Muriel Asseburg: Syrien: Keine Militarisierung des Konflikts fördern, SWP Kurz gesagt 21.11.2011.
  • 3UNHCR Whole of Syria 2018 Protection Need Overview, https://hno-syria.org/data/downloads/protection.pdf.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November-Dezember 2018, S. 54-58

Teilen

Themen und Regionen

Mehr von den Autoren