Konflikt und Kooperation
China rüstet auf und provoziert im Indo-Pazifik immer wieder Streit mit seinen Nachbarn. Europa ist gefordert, zusammen mit den USA ein Konzept der zivilen Abschreckung zu entwickeln. Anders sieht es bei der Friedenssicherung weltweit und bei der Rüstungskontrolle aus: Da gibt es Potenziale zur Zusammenarbeit mit Peking.
Eine „neue Ära des Wiederaufstiegs“ verkündete Staats- und Parteichef Xi Jinping mit seinem Amtsantritt 2013. Zu diesem „chinesischen Traum“ gehört auch der „Traum von einem starken Militär“. Folglich wurden seither die chinesische Armee und ihre Waffensysteme modernisiert. Das Arsenal wurde um Raketen unterschiedlicher Reichweiten erweitert, auf chinesischen U-Booten sind inzwischen nukleare Langstreckenraketen stationiert. Daneben entwickelt Peking militärisch einsetzbare Technologien wie Hyperschall-Waffen oder unbemannte Systeme und forscht an militärischen Anwendungen von Künstlicher Intelligenz.
Nach Angaben des Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI)war China 2020 zweitgrößter Produzent von Rüstungsgütern nach den USA und vor Russland. Auf dem Nationalen Volkskongress Anfang März wurde erneut ein Anstieg der Verteidigungsausgaben angekündigt. Sie steigen laut Haushaltsplan um 6,8 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Umgerechnet rund 208 Milliarden US-Dollar will Peking 2021 für das Militär ausgeben, wobei Experten im Westen davon ausgehen, dass Chinas offizielles Budget nicht alle Verteidigungsausgaben enthält.
Für eine werdende Weltmacht ist es eine natürliche Ambition, militärisch stark sein zu wollen – selbst wenn sie keine erkennbaren Feinde hat. Dass sich diese werdende Weltmacht auf ein Wettrüsten mit der bestehenden Weltmacht, den USA, einlässt, ist dann wohl kaum vermeidbar.
Ist China bereit, seine Stellung als Weltmacht militärisch durchzusetzen? Dass Peking die Beteiligung an UN-Friedensmissionen nutzt, um seinen Soldaten die Möglichkeit zu geben, Kampferfahrung zu sammeln, ist erst einmal eine gute Nachricht. Denn dadurch trägt es zu Stabilität und Sicherheit bei, insbesondere in Afrika.
Anders sieht das in Chinas unmittelbarer Peripherie aus. Hier ist Peking Urheber von Konflikten mit seinen Nachbarn, wie etwa im chinesisch-indischen Grenzgebiet, im Ost- und Südchinesischen Meer oder durch seine Bedrohung Taiwans. Das Potenzial einer Eskalation ist seit der Machtübernahme Xi Jinpings auffällig gestiegen, auch weil es der chinesischen Führung darum geht, die Bewegungsfreiheit der USA im Pazifik deutlich einzuschränken. Amerikanische Schiffe patrouillieren im Südchinesischen Meer, um die Freiheit der Schifffahrt zu demonstrieren, und China antwortet mit Provokationen durch immer riskantere Manöver.
Das Südchinesische Meer beansprucht China zu fast 90 Prozent als sein Hoheitsgewässer. Den Haager Schiedsspruch von 2016, der die Unrechtmäßigkeit der chinesischen Gebietsansprüche in diesem Meer festgestellt hatte, lehnt Peking strikt ab.
Den Inselstaat Taiwan betrachtet die Volksrepublik als Teil des chinesischen Territoriums. Der Druck auf Taiwan ist durch immer häufigere Marinemanöver stark angestiegen. Chinesische Flugzeuge verletzen nahezu täglich den Luftraum des Inselstaats. 2019 kündigte Xi Jinping in seiner Neujahrsansprache an, Taiwan zur Not gewaltsam mit dem Festland zu vereinen; 2020 wiederholte Premier Li Keqiang diese Drohung. Zudem dringt Chinas Küstenwache immer wieder in das Inselgebiet um die japanisch kontrollierten Senkaku-Inseln im Ostchinesischen Meer ein.
Spannungen in Asien sind zur Normalität geworden – ein Novum in einer Region, in der es seit Ende des Vietnam-Krieges weitgehend friedlich zuging. Das tangiert auch Europas Interessen, in erster Linie wegen der wirtschaftlichen Abhängigkeit von maritimen Handelsrouten im Indo-Pazifik. Jeder Konflikt, der diese Handelswege gefährdet, hätte negative Auswirkungen auf globale Lieferketten. Daneben würde es Europa auch sicherheitspolitisch empfindlich treffen, sollte China umfangreiche maritime Territorien kontrollieren. Die wirtschaftliche Abhängigkeit von Peking würde um die sicherheitspolitische Dimension erweitert. Drittens bedroht das Ziel, die ganze Region der Hegemonie eines autokratischen Chinas zu unterwerfen, auch Europas Interesse an der Wahrung und Ausweitung von Demokratie, Menschenrechten und einer regelbasierten Ordnung.
Kein militärischer Beitrag in Sicht
Mit einem entscheidenden militärischen Beitrag im indopazifischen Raum könnte Europa seine politische Bedeutung demonstrieren und Amerika militärische Unterstützung bieten. Doch dazu dürfte es wohl nicht kommen. Es würde gewaltige Anstrengungen bedeuten, die mit den derzeitigen Verteidigungsbudgets der Europäer nicht in einem überschaubaren Zeitraum zu erreichen sind. Ebenso wenig wäre ein europäischer Konsens über ein solches Engagement denkbar. Die Frage ist also: Wie kann Europa außerhalb der militärischen Dimension ein Konzept ziviler Abschreckung entwickeln?
Zunächst sollte die EU, wenn möglich im Bündnis mit Großbritannien, die Beziehungen zu anderen asiatischen Staaten dahingehend stärken, dass es die internationale Ordnung im Indo-Pazifik mitgestalten kann. So hat es Außenminister Heiko Maas mit der Verabschiedung der Leitlinien zum Indo-Pazifik, die Anfang September 2020 beschlossen wurden, angekündigt. Deutschland setzt insbesondere auf eine stärkere Zusammenarbeit mit asiatischen Demokratien wie Japan, Indien oder Südkorea und mit den ASEAN-Staaten, also auf die Diversifizierung der deutschen wirtschaftlichen und politischen Beziehungen. Auch andere EU-Mitglieder haben eine Strategie für den Indo-Pazifik oder erarbeiten sie gerade.
Sie müssen nun, erstens, ihre gefassten Ziele umsetzen. Zweitens ist ein gemeinsames und koordiniertes Auftreten der EU im Indo-Pazifik nötig. Auch hierfür gibt es Ansätze. So soll nach einem Vorstoß Frankreichs, Deutschlands und der Niederlande auf EU-Ebene eine Indo-Pazifik-Strategie formuliert werden. Das spricht für eine Neuausrichtung der europäischen Asien-Politik, die China signalisiert, dass Europa sich für eine regelbasierte Ordnung in Asien einsetzt.
Zu einer solchen Ordnung gehört auch und gerade Taiwan, das sich der immer aggressiveren Sicherheitspolitik der Volksrepublik ausgesetzt sieht. Sollte Peking tatsächlich versuchen, Taiwan mit Gewalt zu erobern, hätte das weitreichende Konsequenzen für die Sicherheit in der Region, für die internationalen Beziehungen und für die Rolle der Demokratie in Asien. Eine europäische Indo-Pazifik-Politik muss daher auch einen Fahrplan für die Beziehungen zu Taiwan enthalten.
Die EU könnte ein weiteres deutliches Signal setzen, indem sie ein bilaterales Investitionsabkommen mit Taiwan aushandelt. Als Voraussetzung gilt der Abschluss des Investitionsabkommens mit China, das bis Ende dieses Jahres ratifiziert werden soll. Mit Blick darauf sollte die EU den günstigsten Moment nutzen, um auch ein Abkommen mit Taiwan zu verhandeln. Das würde dazu beitragen, Taiwan zum Status eines normalen Partners zu verhelfen. Taiwans Präsidentin Tsai Ing-wen hat bereits mehrmals erklärt, dass man bereit sei, ein solches Abkommen auszuhandeln.
Um der sicherheitspolitischen Herausforderung Chinas zu begegnen, bedarf es schließlich der Koordination mit den Vereinigten Staaten. Dass sich die EU und die USA auch unter der Biden-Regierung in Bezug auf China nicht immer einig sein werden, ist wohl unvermeidlich. Doch der US-Präsident kündigte auf der Münchner Sicherheitskonferenz an, dass man sich „gemeinsam auf einen langfristigen strategischen Wettbewerb mit China vorbereiten“ müsse. Es ist ein Angebot an Europa, sich mit den USA abzustimmen und dort, wo es möglich ist, eine gemeinsame Politik zu betreiben. Mit Amerika als Sicherheitsgarant im Indo-Pazifik könnte Europa China beispielsweise stetig dazu mahnen, sich an internationale Regeln und völkerrechtliche Urteile zu halten.
Europäische Überlegungen zu einem Konzept ziviler Abschreckung sollten auch das Thema Rüstungskontrolle beinhalten. Joe Biden hatte bereits in München angekündigt, den New-START-Vertrag mit Russland um weitere fünf Jahre zu verlängern. Schon lange bestehen die USA darauf, dass China an den Verhandlungen um dieses Abkommen teilnimmt. Peking weigert sich aber bisher, über sein vergleichbar kleines, aber wachsendes Atomwaffenarsenal zu verhandeln. Europa sollte versuchen, auf China einzuwirken, um es mit an den Verhandlungstisch zu nuklearen Rüstungskontrollverhandlungen zu holen.
Dr. Angela Stanzel ist Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Asien bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).
Internationale Politik Special, Mai, 03/2021, S. 33-35
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