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02. März 2018

Kleines Wirtschaftslexikon Spanien

Tourismus

Verschuldung

Arbeitslosigkeit

Fünf Jahre Studium, Masterabschluss als Ingenieur – und dann Fremdenführer in Barcelona? Solche Lebensläufe sind in Spanien keine Seltenheit.

Dabei ist das zweitgrößte Land der EU momentan die am schnellsten wachsende Volkswirtschaft der Staatengemeinschaft. Im dritten Quartal 2017 legte das Bruttoinlandsprodukt (BIP) nach Angaben des spanischen Statistikamts um 0,8 Prozent im Vergleich zum Vorquartal zu, während das BIP der Euro-Zone nur um 0,6 Prozent zulegte. Die Gründe für das spanische Wachstum: Der Tourismus boomt, die Bauwirtschaft zieht langsam wieder an – und Meinungsforscher des In­stituts IHS Markit haben festgestellt, dass auch die Stimmung in der Industrie besser wird. Lag die Arbeitslosenquote Anfang 2013 noch auf einem Rekordhoch von 26,9 Prozent, waren im dritten Quartal 2017 weniger als 17 Prozent der Spanier ohne Job.

Allerdings variiert die Lage am Arbeitsmarkt regional. Während in Gegenden wie Andalusien oder Extremadura rund ein Viertel der Menschen keine Beschäftigung findet, traf das in Aragon oder auf den Balearischen Inseln im dritten Quartal gerade mal auf 10 Prozent der Menschen zu.

Eines aber ist allen Regionen gemein: Junge Spanier profitieren bisher kaum vom wirtschaftlichen Aufschwung. Die Jugendarbeitslosigkeit lag laut spanischem Statistikamt im dritten Quartal 2017 bei knapp 36 Prozent, in einzelnen Regionen sogar bei über 60 Prozent. Und wenn die junge Generation arbeitet, dann häufig unter ihrer Qualifikation und mit schlechter Bezahlung. Befristete Arbeitsverträge sind bei jungen Spaniern fast dreimal häufiger als im OECD-Durchschnitt.

Die Gründe für die hohe Jugendarbeitslosigkeit sind vielfältig. Zum einen genießen Arbeitnehmer in Spanien im internationalen Vergleich einen hohen Kündigungsschutz. Auf dem „Strictness of employment protection index“ der OECD erreicht das Land einen Wert von 2,05 – nahezu gleichauf mit dem OECD-Schnitt. Zum Vergleich: In den USA liegt dieser Wert bei 0,26. Diese Tatsache, kombiniert mit den starken wirtschaftlichen Schwankungen der vergangenen Jahre, hat zur Folge, dass Unternehmen gut überlegen, bevor sie neue Mitarbeiter ins Team holen.

Die spanische Regierung hat in den vergangenen Jahren schon viel getan, um den Arbeitsmarkt flexibler zu gestalten. So müssen Löhne inzwischen nicht mehr auf Branchen- oder regionaler Ebene festgelegt werden, sondern können häufiger für nur ein Unternehmen verhandelt werden. Bei Krisen können Arbeitgeber die Löhne zeitweise senken, ohne dass Gewerkschaften oder Betriebsräte vorab zustimmen müssen. Zudem können Chefs leichter kündigen und müssen niedrigere Abfindungen zahlen. Nach Angaben der OECD haben die gesetzlichen Änderungen dazu geführt, dass nun zwar mehr Mitarbeiter eingestellt werden. Allerdings sind nach wie vor 90 Prozent der neu geschaffenen Stellen befristet.

Als ein weiteres Hemmnis für Berufseinsteiger gilt, dass das spanische Bildungssystem vergleichsweise praxisfern ist; Jobanfänger bringen in der Regel wenig Arbeitserfahrung mit. Die schlechtesten Chancen haben Geringqualifizierte, aber auch Akademiker sind in Spanien überdurchschnittlich oft arbeitslos oder arbeiten unter ihrer Qualifikation.

Vom Staat bekommen sie dabei nicht allzu viel Hilfe. Die Ausgaben für Arbeitsmarktdienste lagen 2015 mit 2,505 Prozent des BIP zwar im europäischen Mittelfeld. Allerdings relativiert sich diese Zahl, wenn man sie auf die hohe Anzahl der Arbeitslosen umrechnet. Im Durchschnitt mussten die Mitarbeiter der spanischen Arbeitsagenturen im Jahr 2016 jeweils 596 Menschen pro Jahr betreuen – umgerechnet etwa 2,8 Fälle pro Arbeitstag. Geld aus der Arbeitslosenversicherung gibt es für Spanier nur, wenn sie in den vergangenen sechs Jahren mindestens ein Jahr lang beschäftigt waren. Auf den allergrößten Teil der jungen Arbeitslosen trifft das nicht zu, sodass diese oft die finanzielle Hilfe von Eltern und Großeltern benötigen.

Die Regierung von Ministerpräsident Mariano Rajoy verfolgt das Ziel, bis Ende 2020 die Arbeitslosenquote auf 11,1 Prozent zu senken und eine halbe Million neuer Arbeitsplätze zu schaffen. Zudem gibt es verschiedene Förderprogramme, die auf europäischer Ebene angesiedelt sind. Seit 2012 versucht die Regierung im Rahmen der so genannten europäischen Jugendgarantie, ein duales Ausbildungssystem in Spanien zu etablieren. Zudem läuft eine Jobinitiative für Jugendliche ohne Ausbildung in Regionen mit besonders hoher Arbeitslosigkeit. Die EU stellt dem Land dafür laut Handelsblatt knapp zwei Milliarden Euro zur Verfügung.

Nach EU-Angaben wirken diese Maßnahmen. So sei die Zahl der Lehrlinge von 2013 bis 2016 von nur 4000 auf 15 000 gestiegen. Und statt nur 500 gebe es inzwischen gut 5600 Ausbildungsbetriebe. Kritiker wie der Spanische Jugendrat bemängeln allerdings, dass die Maßnahmen bisher kaum Wirkung zeigten. Einerseits seien die Programme zu unbekannt und erreichten nur einen sehr kleinen Teil der spanischen Jugendlichen. Andererseits würden mit einem Großteil der Gelder bereits bestehende Programme finanziert, sodass für die Betroffenen kaum ein Mehrwert entstehe. Ein Blick auf die aktuelle Arbeitslosenquote zeigt: Es gibt noch einiges zu tun.

Bildung

Das spanische Schulsystem ist in drei Einheiten gegliedert: Kinder besuchen bis zum Alter von sechs Jahren eine Vorschule, danach die Grund- und im Alter von zwölf bis 16 Jahren eine weiterführende Schule. Die Schüler lernen alle zusammen in Gesamtschulen. In Deutschland ist umstritten, ob ein solches System für mehr Chancengleichheit sorgt. In Spanien zumindest scheint dies nicht der Fall zu sein. Dort verfügen laut OECD nur 58 Prozent der Bevölkerung zwischen 25 und 64 Jahren über einen Sekundarabschluss; im OECD-Durchschnitt sind es 75 Prozent.

Überhaupt könnte die Leistung spanischer Schüler besser sein. Beim Rechnen bekamen sie 2015 in der ­PISA-Studie nur 486 Punkte, vier weniger als im OECD-Schnitt. Lesen klappte etwas besser. Besonders bedenklich ist die hohe Schulabbrecherquote. Nach Angaben des europäischen Statistikamts Eurostat verlässt in Spanien jeder fünfte Schüler die Schule ohne Abschluss. Zum Vergleich: In Deutschland ist es jeder zehnte. Als ein Grund dafür werden die hohen Schülerzahlen in den Klassen genannt, die es den Lehrern kaum ermöglichen, Schüler individuell zu fördern.

Zudem lockte bis vor zehn Jahren die boomende Baubranche mit hohen Löhnen, sodass manche Jugendliche die Arbeit auf dem Bau der Schulbank vorzogen. Seit der Immobilienmarkt im Zuge der Finanzkrise eingebrochen ist, rächt sich das. Gerade Geringqualifizierten bleibt oft nichts anderes übrig, als sich von Aushilfsjob zu Aushilfsjob durchzuhangeln.

Die Regierung ist sich dieser Probleme bewusst und hat bereits 2014 einen nationalen Aktionsplan aufgestellt. Er sieht vor, dass Bildungseinrichtungen verschiedene Maßnahmen vorschlagen können, um die Abbrecherquoten zu senken. Ende 2016 wurden dafür 13,5 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Daneben hat die Regierung eine Online-Plattform eingerichtet, auf der sich Betroffene über ihre Erfahrungen austauschen können. Durch diese Maßnahmen ist der Anteil der Schulabbrecher zuletzt leicht gesunken; im Jahr 2020 soll er bei 15 Prozent liegen. Allerdings gibt es regional erhebliche Unterschiede: Während in manchen Regionen der Anteil auf 10 Prozent gefallen ist, bricht anderswo jeder vierte seine Schulausbildung ab.

Da betriebliche Ausbildungen nach dem Schulabschluss in Spanien kaum verbreitet sind, hat akademische Bildung dort einen sehr hohen Stellenwert. Das zeigt sich vor allem an den steigenden Studierendenzahlen. 2014 waren nach Angaben von Eurostat fast 80 Prozent der Spanier zwischen 20 und 24 Jahren für ein Studium eingeschrieben. Zudem sind viele Berufe wie Krankenpfleger, die bei uns über eine Ausbildung erreicht werden, in Spanien an Universitäten angesiedelt.

Allerdings besteht auch bei der universitären Bildung Reformbedarf. Viele Unis sind überfüllt. Gleichzeitig wird der Bildungsetat kleiner. Insbesondere während der Finanzkrise erhöhte die Regierung den Spardruck. So verkündete Ministerpräsident Rajoy Anfang 2012, im Bildungswesen rund drei Milliarden Euro einsparen zu wollen. Seit Beginn der Finanzkrise wurden laut Deutschem Akademischem Austauschdienst (DAAD) in den spanischen Hochschulen 6477 Vollzeitstellen abgeschafft; der Anteil der über 50-Jährigen liegt heute um 12 Prozentpunkte höher als 2008.

Viele Universitäten haben seitdem die Studiengebühren angehoben. Bachelorstudiengänge sind laut DAAD seit Beginn der Krise um 32 Prozent teurer geworden, Masterstudiengänge sogar um 75 Prozent. Im Schnitt zahlen Studierende demnach 2011 Euro pro Jahr. Viel Geld für spanische Familien – vor allem, da selbst ein erfolgreicher Abschluss keine Garantie für einen Arbeitsplatz ist.

Fußball

Kurze Pässe, konstanter Ballbesitz, schnelle Ballwechsel: Mit diesem Stil ist der spanische Fußball weltbekannt geworden. Ebenso verzweigt wie die Laufwege spanischer Spieler sind allerdings auch die Geldflüsse auf ihren Konten – oft auf Kosten der Steuerzahler.

Fußball ist in Spanien mit klarem Abstand der Nationalsport Nummer eins. Spieler wie Raúl sind Nationalhelden. Klubs wie der FC Barcelona und Real Madrid zählen zu den umsatzstärksten Vereinen überhaupt. Doch der sportliche Glanz kann kaum überdecken, dass der spanische Fußball in mancherlei Hinsicht in einer tiefen Krise steckt. Die spanischen Klubs sind nach wie vor stark verschuldet; zahlreiche bekannte Spieler werden der Steuerhinterziehung bezichtigt.

Ausgelöst wurde die Debatte um die Vereinsfinanzen im Jahr 2012 durch eine Anfrage der Linkspartei an die spanische Regierung. Dabei kam heraus: Viele Profiklubs hatten ihre Steuern nicht bezahlt und schuldeten den Finanzämtern insgesamt 752 Millionen Euro, fast 150 Millionen Euro mehr als noch vier Jahre zuvor. Knapp 90 Prozent der Schulden entfielen auf die erste und zweite Liga. Schätzungen zufolge kam dazu noch einmal rund eine halbe Milliarde an ausstehenden Leistungen für die Sozialversicherung. Die Vereine verwiesen auf die Finanz- und Immobilienkrise: Die Sponsoren knauserten in dieser Zeit, die Immobilienpreise waren im Keller, die Fans selbst knapp bei Kasse.

Für Experten ist allerdings klar, dass neben der Finanzkrise auch die Laisser-faire-Politik früherer Jahre für die hohen Schulden verantwortlich ist. Sport und Politik sind in Spanien eng miteinander verknüpft; Wirtschaftsbosse, Politiker und Vereinsvorstände kennen sich oft gut und helfen einander im Zweifelsfalle. Ein Beispiel dafür lieferte der überschuldete Rekordmeister Real Madrid, der 2001 durch ein fragwürdiges Immobiliengeschäft seine Kasse aufbesserte: Die Stadt zahlte dem Klub für sein Vereinsgelände fast eine halbe Milliarde Euro, obwohl das Areal wohl nur einen Bruchteil davon wert war.

Insbesondere seit der Finanzkrise, als die Bevölkerung unter der rigiden Sparpolitik der konservativen Regierung litt, sorgt der finanzielle Hochmut vieler Vereine für Kritik. 2012 wurde deshalb ein Reorganisationsplan für den Sport eingeführt, der langsam Wirkung zeigt. Im Oktober 2017 lagen die Gesamtschulden der Klubs nach Angaben der spanischen Steuerbehörde noch bei 256,8 Millionen Euro. Rund 188,8 Millionen Euro davon müssen nach wie vor die Vereine der ersten und zweiten Liga begleichen. Laut des Ligaverbands LFP wird der Schuldenberg bis Mitte 2020 nur noch 50 bis 70 Millionen Euro betragen.

Inzwischen hat der spanische Fußball allerdings ein neues ­Problem: Steuerhinterziehung. Lange Zeit galten für Fußballstars in Spanien extrem niedrige Steuersätze. Laut des so genannten Beckham-Gesetzes mussten nichtspanische Spieler bei einem Wechsel nach Spanien nur knapp 25 Prozent Einkommensteuer bezahlen – und zwar ausschließlich auf Einnahmen, die in Spanien erzielt wurden. Unter der ­sozialistischen Regierung wurde diese Sonderregelung 2010 abgeschafft, doch viele Fußballprofis haben sich mit dem Steuerzahlen trotzdem nicht angefreundet.

Gleich mehrere prominente Personen mussten sich zuletzt vor Gericht verantworten. Dem portugiesischen Startrainer José Mourinho etwa wird vorgeworfen, rund 3,3 Millionen Euro am Fiskus vorbeigeschleust zu haben; bei Luka Modric von Real Madrid sollen es in den Jahren 2013 und 2014 fast 900 000 Euro gewesen sein. Die Barça-Profis Lionel Messi und Javier Mascherano haben bereits Bewährungsstrafen bekommen; Real Madrid-Profi Marcelo muss fast eine halbe Million Euro an den Staat nachzahlen. Etwas anders gelagert ist der Fall beim jahrzehntelangen Verbands­präsidenten Ángel María Villar; ihm wird Korruption vorgeworfen.

Für besonderes Aufsehen sorgte eine Anzeige der Staatsanwaltschaft im Sommer 2017 gegen Superstar Cristiano Ronaldo. Der 32-Jährige soll auf den Britischen Jungferninseln und in Irland ein undurchsichtiges Unternehmenskonstrukt aufgebaut haben und so zwischen 2011 und 2014 knapp 14,8 Millionen Euro am spanischen Fiskus vorbeigeschleust haben. Im Fall eines Schuldspruchs drohen ihm bis zu dreieinhalb Jahre Haft sowie eine Geldstrafe in Millionenhöhe. Ronaldo reagierte auf die Forderung der Staatsanwaltschaft, indem er ein Foto von sich und seinen drei Kindern in sozialen Netzwerken veröffentlichte und schrieb: „Ich bin der Gefangene dieser wundervollen Kinder, ahahaha.“

Inzwischen hat jedoch selbst die spanische Liga gemerkt, dass sich etwas ändern muss, und Good-Governance-Regeln eingeführt. Danach bekommt jeder Verein nach Durchsicht seiner Lizenzunterlagen eine individuelle Gehaltsobergrenze auferlegt; Schummeleien werden mit Zwangsabstieg geahndet.

Die fragwürdigen finanziellen Machenschaften der Vereine bedrohten sogar zeitweise den sportlichen Erfolg der spanischen Liga. Der Weltverband FIFA warf dem spanischen Verband RFEF wenige Tage nach Auslosung der Gruppenphase für die Fußball-WM 2018 in Russland in einem Schreiben vor, nicht frei von staatlichen Einmischungen in interne Angelegenheiten zu sein. Nach den Korruptionsvorwürfen gegen den früheren Verbandspräsidenten Ángel María Villar soll Spaniens Oberster Nationaler Sportrat, also eine politische Instanz, Neuwahlen beim RFEF gefordert haben. Die erste Befürchtung, Spaniens Nationalmannschaft könne wegen der Vorwürfe von der Weltmeisterschaft ausgeschlossen werden, hat sich nicht bewahrheitet. Damit das so bleibt, sollten sich die Verantwortlichen aber wohl nicht nur ihre Spielstrategie, sondern auch die Fair-Play-Regeln nochmal genauer anschauen.

Gesundheit

Immerhin knapp zwei Drittel der Spanier sind der Meinung, dass die medizinische Versorgung in ihrem Land gut oder weitestgehend gut ist. Das zeigt ein Bericht des spanischen Gesundheitsministeriums von 2016. Im Vergleich etwa zu den Deutschen sind Spanier mit ihrem Gesundheitssystem recht zufrieden. Aber liegen die guten Umfragewerte tatsächlich an der guten Versorgung oder eher an den niedrigen Ansprüchen der Bevölkerung?

Das spanische Gesundheitssystem ist im europäischen Vergleich noch recht jung; es wurde erst nach dem Tod Francos Ende der 1970er-Jahre etabliert. In den vergangenen Jahrzehnten hat dieses System zu einer erheblichen Verbesserung der Lebensbedingungen geführt. Während zu Beginn der 1990er Jahre noch elf von tausend Kindern unter fünf Jahren gestorben sind, waren es 2013 nur noch vier. Inzwischen haben die Spanier mit 83 Jahren im Vergleich zu anderen OECD-Ländern die zweithöchste Lebenserwartung, und das, obwohl sie mehr rauchen, weniger Gemüse essen und vergleichsweise oft übergewichtig sind. Nur Japaner leben im Schnitt noch länger.

Wer in Spanien krank wird, geht zunächst zum Hausarzt. Erst dieser kann den Patienten bei Bedarf an einen Facharzt überweisen. Das Recht auf eine staatliche Gesundheitsversorgung ist in Spanien sogar in der Verfassung verankert. Ärztliche Untersuchungen sind daher in aller Regel kostenfrei. Allerdings wird diese Regelung im Alltag mehr und mehr ausgehöhlt. So müssen zahnärztliche Behandlungen weitgehend selbst gezahlt werden, ebenso wie 40 Prozent der Kosten für Arzneimittel. Nach Angaben der OECD müssen Spanier für ihre Versorgung insgesamt vergleichsweise viel Geld aus der eigenen Tasche zahlen. Vor allem in Großstädten wie Barcelona und Madrid schließen daher inzwischen diejenigen, die es sich leisten können, zusätzlich eine private Krankenversicherung ab.

Dazu kommt: Die staatliche Versorgung ist nicht optimal. Ein Indikator dafür ist die Menge an verabreichten Antibiotika. Nach Angaben der OECD schlucken 1000 Spanier im Schnitt 21,6 Dosen Antibiotika pro Tag; Niederländer dagegen gerade mal die Hälfte. Die Behandlungen könnten also besser auf die Patienten abgestimmt werden. Gerade bei fachärztlichen Behandlungen müssen spanische Patienten außerdem oft mit langen Wartezeiten rechnen. Die spanische Regierung bemüht sich zwar, dieses Problem in den Griff zu bekommen, etwa indem sie mehr Geld für besonders gefragte Behandlungen zur Verfügung stellt. Bisher sind die Wartelisten jedoch nach wie vor lang.

Ein Grund dafür ist, dass es vergleichsweise wenig Personal gibt. Während im OECD-Schnitt 9,1 Krankenschwestern auf 1000 Einwohner kommen, sind es in Spanien gerade mal 5,1. Zum Vergleich: In der Schweiz sind es 17,4. Das liegt einerseits daran, dass sich in Spanien vergleichsweise wenige Menschen in diesem Job ausbilden lassen. Andererseits arbeiten viele der ausgebildeten Fachkräfte dann im Ausland. Ein weiteres Problem: Obwohl die spanische Bevölkerung in den vergangenen Jahren vergleichsweise stark gealtert ist, gibt es dort wenige Allgemeinärzte.

Die Wirtschaftskrise ab 2008 hat die Probleme des spanischen Gesundheitssystems nochmals verschärft. Während die staatlichen Gesundheitsausgaben von 2000 bis 2009 genau wie im OECD-Schnitt um 4 Prozent gewachsen sind, sind sie seitdem um 1,9 Prozent zurückgegangen. Im OECD-Schnitt lag das Wachstum immerhin noch bei 0,3 Prozent.

Derzeit liegen Spaniens jährliche Ausgaben pro Einwohner kaufkraftbereinigt bei 3248 Dollar. Zum Vergleich: In Deutschland sind es 5551 Dollar. Die Kürzungen während der Finanzkrise machten sich für die spanische Bevölkerung auch im Alltag bemerkbar: Sprechstunden wurden reduziert, Ärzte entlassen, die Eigenbeteiligung für Medikamente erhöht. Das führte zu zahlreichen Demonstrationen der Belegschaften, aber auch der Bevölkerung.

Inzwischen hat sich die Stimmung wieder beruhigt. Klar ist aber: Auch wenn die spanische Bevölkerung heute deutlich besser versorgt ist als noch vor 30 Jahren, könnte das Gesundheitssystem effizienter sein. Sonst könnte es mit der Zufriedenheit der Spanier irgendwann vorbei sein.

Innovation

Es war ein spanischer Politiker, der 1859 im Hafen von Barcelona das erste U-Boot der Welt zu Wasser ließ, um damit Korallen zu sammeln. 1923 startete in Madrid der weltweit erste Tragschrauber, der statt Tragflächen Rotorblätter hatte. Und den Wischmopp erfand der Luftfahrtingenieur Manuel Jalón Corominas in den 1950er Jahren – für ihn ein nützliches Utensil, um Flugzeughallen zu säubern.

So lang die Tradition des spanischen Erfindungsgeists zurückreicht, so sehr hat Spaniens Wirtschaft in den Jahren der Krise ab 2008 an Innovationskraft verloren. Das hat auch damit zu tun, dass viele Budgets für Forschung und Entwicklung zusammengestrichen wurden. Mit dem Wiederaufschwung der spanischen Wirtschaft in den vergangenen Monaten wächst nun wieder die Lust auf Neues.

12,8 Milliarden Euro hat Spanien im Jahr 2014 nach Angaben des Spanischen Observatoriums für Forschung, Entwicklung und Innovation für Forschung ausgegeben. Knapp die Hälfte davon entfiel auf den öffentlichen Sektor. Was die Anzahl der wissenschaftlichen Veröffentlichungen angeht, so liegt Spanien weltweit mit 77 000 Publikationen an zehnter Stelle. Spanische Unternehmen forschen laut European Innovation Scorebord im europäischen Vergleich eher wenig und melden unterdurchschnittlich viele Patente an. Das gilt vor allem für die zahlreichen Kleinunternehmen, die gut 94 Prozent ausmachen. Dabei sind die Voraussetzungen für digitale Innovationen gut: Das schnelle Internet ist in Spanien sehr gut ausgebaut.

Nachholbedarf besteht bei der Forschungsförderung: Nach Angaben der europäischen Statistikbehörde Eurostat hat die spanische Regierung im Jahr 2015 rund 1,2 Prozent des BIP für Forschung und Entwicklung ausgegeben – deutlich weniger als der EU-Durchschnitt. Im November 2015 hat die Regierung Rajoy eine staatliche Forschungsagentur ähnlich der Deutschen Forschungsgemeinschaft gegründet. Da die Agentur ins Wirtschaftsministerium integriert ist, ist sie jedoch stärker politisch abhängig als ihr deutsches Pendant.

Dafür wächst die Start-up-Szene. Mit Barcelona und Madrid sind gleich zwei spanische Städte unter den zehn größten europäischen Start-up-Hubs, wie der Blog EU-Start-ups.com in einer Umfrage ermittelte. An Orten wie der Barcelona Tech City finden Gründer nicht nur günstige Büros, sondern können auch Kontakt zu Investoren knüpfen. Internationale Konferenzen wie die Barcelona Start-up Week sorgen dafür, dass spanische Gründungen weltweit bekannter werden. Zu den jüngsten Erfolgsgeschichten zählt das in Barcelona ansässige Unternehmen Wallbox, dessen Ladesysteme für Elektro- und Hybridfahrzeuge auch in Deutschland angeboten werden.

Spanische Start-ups haben 2016 Wagniskapital in Höhe von 402,8 Millionen Euro erhalten. Allerdings stehen Gründer hier vor einem ähnlichen Problem wie manche deutsche Jung­unternehmer. Wer ganz am Anfang steht, findet noch relativ leicht passende Förderprogramme. Doch sobald die jungen Unternehmen wachsen und höhere Summen brauchen, wird die Investorensuche oft schwierig. Daran ändern auch staatliche Finanzierungshilfen bisher wenig.

Kreditkrise

Das ist mal ein Schnäppchen: Exakt 100 Cent hat die spanische Santander Bank bezahlt, als sie im vergangenen Juni die Banco Popular übernahm. Ein Kaufpreis, der den Niedergang des mehr als 90 Jahre alten Geldinstituts in drei Ziffern deutlich macht. Die Fast-Pleite der Banco Popular gilt als Rückschlag für den gesamten spanischen Bankensektor. Dabei schien die große Krise der Branche gerade erst weitgehend überwunden. Um die Jahrtausendwende hatten sich zahlreiche regionale Banken bei der Vergabe von Immobilienkrediten verspekuliert. Nachdem 2007 die internationale Bankenkrise kam und kurz darauf der Immobilienmarkt in Spanien zusammenbrach, mussten mehrere Geldhäuser mit hohen staatlichen Zuschüssen gerettet werden.

Rasch stellte sich heraus, dass das Land ein hausgemachtes Problem hatte. Ende der neunziger Jahre hatte die konservative Regierung das Bodenrecht liberalisiert, sodass jede Gemeinde problemlos Agrarland zu Bauland umwidmen konnte. Da für Spaniens Sparkassen anders als in Deutschland nicht das Regionalprinzip gilt, konnten sich die so genannten Cajas landesweit an Immobilienprojekten beteiligen. Zahlreiche überdimensionierte Hotel- und Infrastrukturprojekte wurden in dieser Zeit beschlossen.

Die sozialistische Regierung, die 2004 die Führung übernahm, befeuerte den Bauboom weiter. Ihre Steuerpolitik folgte dem Motto „Eine Zweitwohnung nicht nur für die Reichen“. Mit der Folge, dass sich das Gesamtvolumen der Immobilienkredite binnen drei Jahren vervierfachte. Als 2008 die Wirtschaft zusammenbrach, wurden viele Spanier arbeitslos und konnten ihre Hypotheken nicht mehr bezahlen. Plötzlich fielen selbst solche Kredite aus, die als sicher gegolten hatten. Insgesamt saßen Spaniens Banken Schätzungen zufolge auf Ramschkrediten in Höhe von 180 Milliarden Euro.

Bekannt wurde das Problem, als die Regierung im Mai 2012 überraschend verkündete, dass sie das viertgrößte spanische Geldinstitut Bankia weitgehend verstaatlichen werde. Für die Bevölkerung war das ein Schock. Erst ein Jahr zuvor war Bankia – ein Zusammenschluss aus sieben ehemals eigenständigen Cajas – an die Börse gebracht und spanischen Anlegern als sicheres Investment versprochen worden. Auch weitere kleine Banken wurden während der Krise verstaatlicht.

Weil es der Regierung trotz allem nicht gelang, das Problem in den Griff zu bekommen, beantragte sie Mitte 2012 Hilfen aus dem europäischen Rettungsschirm ESM. Allerdings beantragte man die Hilfen speziell für den Bankensektor. Die von der EU auferlegten Reformpflichten betrafen dementsprechend nicht den gesamten Staatshaushalt. Insgesamt bekam das Land 100 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt, für die der spanische Staat haftete. Von diesem Geld rief Madrid in den folgenden Jahren rund 40 Milliarden Euro ab.

Zu den Reformen, die die spanische Regierung im Anschluss einleitete, gehörte die Gründung einer Bad Bank, genannt Sareb, in der die ausfallgefährdeten Kredite zusammengefasst wurden. Dadurch konnten die Altlasten in den Bilanzen der spanischen Banken weitgehend abgebaut werden. Die Bad Bank versucht nun, ihre faulen Kredite und gefloppte Immobilienprojekte zu verkaufen; entstehen dabei Verluste, haftet der spanische Staat. Außerdem wurden schwach aufgestellte Banken bei einem unabhängigen Stresstest identifiziert, falls nötig umstrukturiert und verpflichtet, ihr Eigenkapital zu stärken. Regulierung und Überwachung des Bankensektors wurden verstärkt. Schon 2014 konnte Spanien einen ersten Teil seiner EU-Hilfen zurückzahlen.

Allerdings sind noch längst nicht alle Risiken gebannt, wie das Beispiel der Banco Popular zeigt. Zudem hat die Krise zu einer starken Konzentration in der Branche geführt. Gab es vor der Krise 55 eigenständige Geldhäuser, so ist heute nur ein gutes Dutzend übrig. Kurz nach der Übernahme der Banco Popular im Juni 2017 fusionierten die Krisenbanken Bankia und Banco Mare Nostrum. An beiden Banken hielt der spanische Staat zwei Drittel der Anteile. Die Fusion soll dazu beitragen, dass die Banken schneller reprivatisiert werden können. Die Veräußerung der Bankia-Anteile an der Börse läuft bisher allerdings schleppend. Dass der EU-Kredit in voller Höhe wieder eingespielt werden kann, gilt als unwahrscheinlich.

Der Internationale Währungsfonds hat Spanien daher im Juni 2017 empfohlen, sich besser gegen die nächste Krise zu wappnen. Trotz der jüngsten Fusionen gebe es noch Raum für Zusammenschlüsse und weitere Maßnahmen, um die Profitabilität zu steigern. Kritiker warnen allerdings vor neuen Risiken, die so entstehen. Denn die drei größten Bankengruppen horten gut 60 Prozent aller Spar­einlagen. Too big to fail? Ein Kreditkollaps könnte die nächste große Verstaatlichung unvermeidbar machen.

 

Netzwerke der Korruption

Wer in Spanien lebt, findet einige Gründe, den Glauben an die Politik zu verlieren. Einer davon ist die Korruption. Nachdem die Justiz lange Zeit wenig unternommen hatte, haben die jüngsten Untersuchungen eines deutlich gemacht: Die Korruption ist tief verankert im Milieu der etablierten Parteien. Im Korruptionsindex von Transparency International liegt Spanien auf Platz 41, zwischen Costa Rica und Georgien, und zählt damit zu den korruptesten Ländern Europas. Zuletzt musste sogar Ministerpräsident Rajoy als Zeuge vor Gericht erscheinen – als erster amtierender Regierungschef der spanischen Geschichte.

Rajoys Partei, die konservative Volkspartei Partido Popular (PP), gilt als besonders tief in die korrupten Strukturen verstrickt. Der Vorwurf ist dabei meist ähnlich: Die Angeklagten sollen bei der Vergabe öffentlicher Aufträge Schmiergelder angenommen und Gelder veruntreut haben.

Ende 2014 etwa wurden in der so genannten Púnica-Affäre zeitweise mehr als 50 Politiker und Geschäftsleute festgenommen. Als Schlüsselfigur des kriminellen Netzwerks galt der PP-Politiker Francisco Granados. Kurz danach sorgte die „Gürtel-Affäre“ für Schlagzeilen, benannt nach dem Hauptangeklagten Francisco Correa. Der Nachname des beschuldigten Geschäftsmanns lautet auf Deutsch übersetzt Gürtel. Ein korruptes Netzwerk rund um Correa, dem auch namhafte PP-Mitglieder angehörten, soll in den Jahren 1999 bis 2005 insgesamt rund 700 Millionen Euro veruntreut haben. Correa ist inzwischen zu einer Haftstrafe von 13 Jahren verurteilt; weitere Verfahren gegen ihn laufen.

Für viel Aufsehen sorgte im April 2017 die Verhaftung des Madrider Regionalpräsidenten Ignacio González, ebenfalls PP-Mitglied. Ihm wird vorgeworfen, in einen Korruptions­skandal rund um die Madrider Was­serwerke verwickelt zu sein. Er soll mit öffentlichen Geldern zu überhöhten Preisen Unternehmen in Lateinamerika aufgekauft und dabei in die eigene Tasche gewirtschaftet haben. Ein Teil der illegalen Gelder soll in schwarze Kassen seiner Partei geflossen sein.

Die Ursache für diese Zustände sah der 2011 verstorbene spanische Journalist Javier Praderas in der Historie begründet. Praderas beschreibt in einem posthum veröffentlichten Manuskript, wie die spanischen Parteien bei ihrer Etablierung Ende der 1970er Jahre stark subventioniert wurden und weitreichende Rechte bekamen, etwa bei der Besetzung von Ämtern. Dazu kam, dass während des Wirtschaftsbooms in den 1980er Jahren die öffentliche Hand über die Hälfte aller Ausgaben tätigte. All das habe dazu beigetragen, die Entstehung von Korruption zu begünstigen.

Und es ist wohl auch ein Grund dafür, dass die PP-Führung lange versuchte, die Korruptionsskandale zu vertuschen. Weitere etablierte Parteien wie die sozialistische Partei PSOE sowie die katalanische Regierungspartei CDC und die Familie des langjährigen CDC-Ministerpräsidenten Jordi Pujol sind ebenfalls von Korruptionsvorwürfen betroffen. Die Pujols etwa sollen über die Jahre rund 30 Millionen Euro aus Geldwäsche und Steuerhinterziehung ins Ausland gebracht haben.

Welch weite Kreise solche Korrup­tionsnetzwerke in Spanien ziehen, lassen abgehörte Gespräche aus dem Büro von Ignacio González erahnen. „Mal sehen, ob wir das Thema des Antikorruptionsstaatsanwalts geregelt bekommen“, sagte der Angeklagte bei einem seiner Telefonate. Ob es Zufall war, dass kurz danach der Anwalt Manuel Moix zum Chef der Antikorruptionsbehörde ernannt wurde? Lange hatte er das Amt auf jeden Fall nicht inne. Es häuften sich die Beschwerden von Beamten: Moix tue alles, um die Ermittlungen gegen González zu blockieren. Als dann auch noch bekannt wurde, dass Moix Anteile an einer in Panama registrierten Firma und eine Villa in Madrid besitzt, die er den Steuerbehörden verschwiegen hatte, blieb dem Behördenchef nur noch der Rücktritt.

Ebenso wie sich die Justiz nun gegen alle Widerstände allmählich an die Aufarbeitung der Verbrechen macht, wächst auch der politische Widerstand gegen die beteiligten Politiker und Unternehmer. Mit der liberalen Ciudadanos-Partei sowie den Linkspopulisten von Podemos sind zwei neue politische Gruppierungen erstarkt, für die der Kampf gegen Korruption Priorität hat. So musste im Frühjahr 2017 auf Druck von Ciudadanos der Regionalpräsident von Murcia zurücktreten, gegen den die Staatsanwaltschaft wegen finanzieller Unregelmäßigkeiten beim Bau eines Kulturhauses ermittelte. In seiner Heimatstadt waren dabei sechs Millionen Euro verschwunden. Die PP störte das nicht: Sie wollte an ihrem Kandidaten Pedro Antonio Sánchez festhalten.

Smart City Santander

Autokarossen wälzen sich durch die Straße, Motoren dröhnen und die Luft hängt schwer zwischen den Häuserblöcken – jeder Stadtbewohner dieser Welt kennt diese Situation. Kein Wunder, dass weniger Verkehr und frische Luft bei Stadtplanern von Antwerpen bis Zürich ganz oben auf der To-do-Liste stehen.

Dass die Digitalisierung dazu beitragen kann, diese Ziele zu erreichen, darüber wird auch in Deutschland häufig diskutiert. „Smart City“ ist zum Schlagwort für Stadtverwaltungen geworden. Eine kleine Stadt in Nordspanien hat nun radikal umgerüstet: Santander gilt als die erste echte Smart City weltweit.

Einst eine florierende Hafenstadt, kämpfte Santander schon länger mit strukturellen Problemen. Nicht nur, dass nach der Finanzkrise die Wirtschaft am Boden lag. Dazu kam eine miserable Infrastruktur. Der öffentliche Nahverkehr war so schlecht, dass sich die Bürger lieber ins Auto setzten, obwohl die Parkplatzsuche eine Qual war. Die Luft war voller Abgase, die Stadt voller Lärm, die Stadtverwaltung überarbeitet und ineffizient.

Schließlich kam die Stadt auf die Idee, das Institut für Telekommunikation an der Universität von Kantabrien um Hilfe zu fragen. Ein Team um Institutsleiter Luis Sánchez entwickelte eine Vision: Aus dem idyllisch gelegenen, aber schlecht organisierten Hafenort sollte die erste smarte Stadt Europas werden. Da die Europäische Union die Pläne als zukunftsweisend einstufte, übernahm sie einen beträchtlichen Teil der Kosten.

Insgesamt wurden in den folgenden Jahren rund 20 000 Sensoren in Santander installiert, die das Stadtbild nachhaltig verändert haben. So wird die Zahl der Fahrgäste in den Bussen durch Sensoren erfasst. Je mehr Passagiere es gibt, desto mehr Busse werden eingesetzt. Mehr als 400 Parkplätze in der Stadt sind mit Sensoren ausgestattet und registrieren so, wenn ein Auto dort hält. Über eine App können Autofahrer sehen, welche Stellplätze noch frei sind.

Sensoren messen auch die Lärmbelastung und die Wetterdaten an ausgewählten Punkten. Die Wetterdaten werden für die automatische Bewässerung der Stadtparks genutzt. Regnet es zu wenig, schalten sich automatisch Sprinkleranlagen an und auch wieder ab. Smarte Laternen sparen Strom, indem sie nur dann leuchten, wenn gerade Fußgänger vorbeilaufen. Und auch die Müllabfuhr ist digitalisiert: Mittels Sensoren erkennen und melden öffentliche Mülleimer, wenn sie geleert werden müssen.

Auch die Bürger werden eingebunden. Sie können ihre Stadtverwaltung mit wenigen Klicks auf kaputte Mülltonnen oder Schlaglöcher hinweisen; Vereine und Organisationen können Wünsche für weitere digitale Projekte vorbringen. Auf Anregung des Fremdenverkehrsamts wurde eine App für virtuelle Stadtführungen entwickelt. Touristen halten ihre Handykamera auf eine Sehenswürdigkeit und bekommen zusätzliche Infos angezeigt. Und viele Einzelhändler haben inzwischen einen QR-Code am Schaufenster: Kunden, die den Code mit einer App scannen, bekommen angezeigt, welche Angebote es gerade im Laden gibt.

Manch ein deutscher Datenschützer würde angesichts all dieser Projekte wohl die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Ist es nicht fahrlässig, dem Staat so viele persönliche Daten zu überlassen? Was ist, wenn Hacker das IT-System der Stadt angreifen und so womöglich die gesamte Infrastruktur lahmlegen?

Schwerwiegende Angriffe auf das System sind bisher nicht bekannt. Und die Stadtverwaltung verweist darauf, dass alle Daten anonymisiert erhoben und ausgewertet werden. Santanders Bürger scheinen sich damit zufrieden zu geben und freuen sich über die Vorteile, die ihnen ihre digitale Stadt bietet. Von größeren Protesten gegen die Digitaloffensive ist nichts bekannt.

Wenig bekannt ist bisher allerdings auch, wie sich die Smart City auf die Jobbilanz in der Stadt auswirkt. Auf der einen Seite werden weniger Mitarbeiter gebraucht, etwa in den Parks oder für die Müllabfuhr. Auf der anderen Seite sind in der Verwaltung neue Jobs entstanden; Einzelhändler berichten von steigenden Umsätzen durch ihre digitalen Dienste. Vor allem aber profitiert die Stadt Santander von einem weiteren Pioniereffekt: Sowohl Touristen als auch Stadtplaner aus aller Welt sind interessiert daran, die erste Smart City aus der Nähe kennenzulernen. Dem Fremdenverkehr in der Stadt hat das gut getan.

Tourismus

Historische Städte, lange Strände, Schinken und Wein: Spanien hat Besuchern aus aller Welt einiges zu bieten. An vielen Orten gibt es inzwischen deutlich mehr Touristen als Einwohner – und das führt in der spanischen Bevölkerung zu Widerstand.

Befeuert wurde der spanische Tourismusboom unter anderem durch die Terroranschläge in Ländern wie Ägypten oder Tunesien, die viele Urlaubsgäste auf andere Reiseziele ausweichen ließen. 80 Millionen Touristen haben Spanien laut Hochrechnungen im abgelaufenen Jahr besucht. Der Tourismus steht für 11,1 Prozent des BIP und beschert dem Land Einnahmen von 119 Milliarden Euro im Jahr. Allein in Barcelona arbeiten 120 000 Menschen als Fremdenführer, in der Gastronomie oder Hotellerie.

Die katalanische Hauptstadt gilt als besonders beliebtes Reiseziel. In manchen Straßenzügen gibt es mehr Zimmer für Fremde als für Einheimische. Die Folge: Die Mieten sind in den vergangenen Jahren rasant gestiegen – so sehr, dass sich gerade junge Spanier Wohnungen kaum noch leisten können.

Ähnliche Probleme gibt es auch in anderen Teilen des Landes. Die Baleareninsel Mallorca platzt ebenso aus allen Nähten wie die kleinen Ortschaften rund um den Jakobsweg. So manches Dorf ist inzwischen überfordert. Seit den 1990er Jahren hat sich die Zahl der Pilgernden verdreißigfacht; 2016 kamen fast 280 000 Wanderer in Santiago de Compostela an. In Palma de Mallorca landen täglich bis zu fünf Kreuzfahrtschiffe – und mit ihnen auf einen Schlag bis zu 20 000 Touristen. Das verschmutzt Wasser und Luft und produziert jede Menge Müll. Zudem kommt der Aufschwung längst nicht bei allen an. Während sich Immobilien- und Hotelbesitzer über die steigenden Einnahmen freuen, verdienen Zimmermädchen auf Mallorca oft nur 2,50 bis drei Euro pro Zimmer. Jobs im Tourismus sind oft saisonal befristet, die ­Arbeitsbedingungen prekär.

Inzwischen gibt es daher immer mehr Menschen, die offen an dem Massenansturm Kritik üben. Im September sorgte die erste Anti-Tourismus-Demonstration auf Mallorca für Furore; zuvor gab es bereits Proteste in Barcelona und San Sebastián. Am Strand von Barcelona hielt eine Menschenkette aus Einheimischen Touristen davon ab, ins Wasser zu springen; in Palma wurden Restaurantgäste mit Konfetti überschüttet. Graffitis mit den Worten „Go home tourists“ finden sich an zahlreichen Straßenecken.

Die Regierung in Madrid wiegelt ab: Kritik an den steigenden Touristenzahlen zu üben mache keinen Sinn, entgegnete Ministerpräsident Rajoy den Kritikern. Er sei eben Spaniens wichtigste Einkommensquelle.

Immerhin versucht die Regierung inzwischen, Regeln zu finden. In Barcelona können Wohnungen nur noch unter strengen Auflagen in Ferien­apartments umgewandelt werden. Die Inselregierung von Mallorca hat beschlossen, dass Wohnungsbesitzer ein Jahr lang keinen Antrag auf Vermietung an Touristen stellen dürfen. Für neue Hotels gilt ein Baustopp.

Ob all das hilft, die Touristen von weiteren Reisen abzuhalten, ist allerdings fraglich. Die Zahl der Frühbucher für den Sommer 2018 liegt bereits jetzt um etwa 6 Prozent über dem Vorjahreswert.

Verschuldung

Nicht alle Rekorde machen stolz, und so verhält es sich auch mit diesem: Spanien ist einer der am stärksten verschuldeten Staaten der EU.

Besonders bitter wirkt diese Tatsache im Rückblick. Denn bis vor zehn Jahren galt Spanien noch als Vorbild für andere EU-Staaten. Die Staatsschulden betrugen mit 400 Milliarden Euro nur knapp 36 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, pro Kopf rund 8600 Euro. Doch mit dem Ausbruch der internationalen Finanz- und spanischen Immobilienkrise rutschte der Staat tief in die roten Zahlen; fehlgeleitete Konjunkturprogramme verschlimmerten die Situation weiter. Mit den Spätfolgen dieser Krisenjahre kämpfen spanische Finanzpolitiker bis heute.

Die Probleme sind allerdings in mancher Hinsicht auch hausgemacht. Schon Anfang des Jahrtausends waren die Schulden des spanischen Privatsektors rasant angewachsen. Als ein Grund dafür gilt der EU-Beitritt des Landes im Jahr 1986: Die Mitgliedschaft in der Staatengemeinschaft schürte Hoffnungen auf einen Wohlstand, den sich das Land eigentlich nicht leisten konnte. Das galt vor allem im Immobiliensektor. Private Haushalte kauften Zweitwohnungen auf Pump; Unternehmen stießen überdimensionierte Hotel- und Infrastrukturprojekte an.

Als 2008 der Immobilienmarkt in Spanien zusammenbrach, wurden die Schulden der privaten Haushalte zum Problem für die Banken – und für den Staat. Um die Wirtschaft wieder anzukurbeln, legte die damalige sozialistische Regierung ein umfassendes Konjunkturprogramm auf. Sie baute den öffentlichen Sektor aus und erhöhte die Sozialausgaben. Konjunkturelle Wirkung hatte das wenig. Was übrig blieb, waren ein Haushaltsdefizit von 11 Prozent und ein riesiger Schuldenberg.

Trotz einer strikten Sparpolitik ist es den nachfolgenden Regierungen bisher nicht gelungen, dieses Problem in den Griff zu bekommen. Die spanischen Staatsschulden haben zuletzt einen neuen Rekord erreicht: Das Haushaltsdefizit war mit 4,7 Prozent des ­Bruttoinlandsprodukts 2016 das höchste der Europäischen Union. Die Staatsverschuldung, die Ende 2016 kurzzeitig unter die 100-Prozent-Marke fiel, ist wieder gestiegen. Die europäischen Maastricht-Kriterien erlauben maximal 60 Prozent, weshalb Brüssel ein Defizitverfahren gegen Madrid eingeleitet hat. Bis Ende 2018 soll die Regierung das Haushaltsdefizit unter 3 Prozent des Bruttoinlands­produkts senken.

Auch die Verschuldung der Privathaushalte ist zuletzt wieder gewachsen. Insgesamt haben die Spanier im abgelaufenen Jahr 715 Milliarden Euro an Immobilien- und Konsumkrediten aufgenommen; das sind 7,9 Milliarden mehr als noch Mitte 2016. Allerdings wird dieser Anstieg von Experten als moderat eingestuft. Die spanischen Banken achten inzwischen, wie auch von der Europäischen Union gefordert, deutlich stärker auf die Bonität ihrer Kunden.

Um nun auch die Staatsbilanz wieder in den Griff zu bekommen, gilt es für Ministerpräsident Mariano Rajoy, mehrere strukturelle Probleme zu lösen. Seit der Konservative Ende 2015 die Mehrheit im Parlament verloren hat, führt er eine Minderheitsregierung, unterstützt von der sozialistischen PSOE. Die PSOE ist gegen eine Verschlankung des öffentlichen Dienstes ebenso wie gegen eine Kürzung der Sozialausgaben. Auch über Reformen im Renten- und Gesundheitssystem gibt es Streit. Diese schwierige Konstella­tion führte dazu, dass Rajoys Finanz­minister Cristóbal Montoro zuletzt weitere Schulden aufgenommen und sogar auf die Rücklagen der Rentenkassen zurückgegriffen hat, um die nach wie vor hohen Staatsausgaben zu bezahlen.

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Bibliografische Angaben

IP Wirtschaft 1, März - Juni 2018, S. 26 - 43

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