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01. Juli 2006

Keine Kunst ohne KGB

In Moskaus Printmedien ist eine neue Kulturdiskussion entbrannt

„Kultur ist Defizit“, schreibt Rolan Bykow in der Nowija Gazeta (29. Mai 2006). „Ein guter Kaufmann, selbst ein banaler Spekulant sollte begreifen, dass es Gewinn bringt, mit Defiziten zu handeln.“ Ob als Ware, Mangelware oder Spekulationsobjekt, Kultur wurde in den vergangenen Wochen auch in anderen russischen Periodika eifrig diskutiert. Der Kinoregisseur Bykow selbst widmet seinen Aufsatz „Es braucht einen neuen Perseusschild“ dem Zerfall der russischen wie der globalen Kultur. Er stellt dem positiven Wert Kultur das Negativ Zivilisation gegenüber. „Die Logik der modernen Zivilisation schiebt den Menschen an den Rand.“ Liebe, Freundschaft, Haus, Kinder, die Suche nach dem Sinn des Lebens, alles, was die „Homosphäre“ ausmache, werde zur abhängigen Peripherie der Entwicklung „gewisser Grundstrukturen“. Die alten geographischen Imperien seien durch „viel gierigere, prinzipienlosere und grausamere“ Finanzimperien verdrängt worden. Sie hätten der Menschheit einen permanenten Dritten Weltkrieg aufgedrängt und mit Blutorgien auf Fernsehschirmen und Filmleinwänden die globale Öffentlichkeit längst an Gewalt und Terror gewöhnt. Klagen, die wenig neu erscheinen. Kein Wunder, denn Bykow starb im Oktober 1998, das Stück in der Nowija Gazeta hatte er kurz vor seinem Tod verfasst. Aber russische Redakteure bewerten Moral oft höher als Aktualität. Und man muss dem Text zugute halten, dass viele seiner Argumente auch heute treffen. Sie bezeugen, dass russische Intellektuelle längst die gleichen Beobachtungen machen wie ihre westlichen Kollegen.

Bykow erinnert an den Mythos von Perseus und seinem Schild, mit dem er die schlangenhaarige Medusa besiegte. Um ihrem versteinernden Anblick zu entgehen, benutzt der Held Perseus seinen Schild als Spiegel und erschlägt sie. Bykow fordert die Schaffung eines neuen Perseusschen Schildes, fordert eine Heldentat „der Erkenntnis, die der Perseus’ gleichkommt“. Aus dem, was Bykow weiter schreibt, ist zu schließen, dass die Erze dieses Schildes nur Philosophie, Kunst und Kultur sein können.

Aber statt Vorschläge zu machen, wie dieser Schild zu gebrauchen sei, wendet sich Bykow wieder seiner Weltkritik zu: Der moderne Mensch kenne sich selbst viel zu wenig, weil sich alle seine Forschung auf praktische Wissensfelder von der Medizin bis zur Informatik konzentriere. Bykow beruft sich auf Spenglers „Untergang des Abendlandes“ und Gorkijs „Leben  Klim Samgins“, um den Zerfall der Kultur zu beweisen: „Byron, Dante und Puschkin fällt es schwer, mit Restaurants, Prostituierten oder einer Las-Vegas-Show zu konkurrieren.“

Die meisten seiner Kritikpunkte mögen ehrenwert, zutreffend und allgemeingültig sein. Aber schon zu allgemeingültig. Und je länger der Leser mit Bykows Moralpredigt kämpft, um so öfter schielt er auf den Umschlag des Nachrichtenmagazins Profil: „Ohne KGB gibt es keine Kunst“ (22.–29. Mai 2006). Eine auf sehr russische Art originelle These. Allerdings wird die Titelstrecke des Heftes, die der russischen Gegenwartskunst gewidmet ist, dieser Schlagzeile nicht gerecht. Angesichts der 10. Moskauer Ausstellung für moderne Kunst „Art Moskwa“ ventilieren verschiedene Kritiker auf acht Seiten die russische Gegenwartskunst vor allem im Hinblick auf ihren Marktwert und den russischen Käufergeschmack. Immerhin interviewt Profil auch einen Avantgarde-Künstler der Sowjetzeit, Sven Gundlach, Mitglied der Underground-Gruppe „Muchomory“. Auch wenn er mehr nach den Regeln des gegenwärtigen Marktes als nach der einstigen Zensur befragt wird, lässt Gundlach doch Nostalgie für die Sowjetkunst anklingen. Heute sei die Kunst so steril wie die Milch. „Sie ist progressiv, schick verpackt und wird nicht sauer. Aber sie ist nicht mehr lebendig.“

Erst danach folgt ein zweiseitiger Aufsatz von Georgij Bowt, der sich mit der Titelthese auseinander setzt: „Worüber reden, wenn es nichts zu sagen gibt.“ Er vergleicht allerdings weniger die neurussische Kunst mit der sowjetischen, als die neurussische Opposi-tion mit den sowjetischen Dissidenten. Bowt erklärt, unter der Diktatur seien die russische wie auch andere Nationen gebärfreudiger gewesen. Das gelte auch für Gedanken. Damals, so Bowt, war die Opposition per se verboten, die Dissidentenbewegung sei schon zahlenmäßig viel zu schwach gewesen, um das Sowjetsystem zu kippen. Aber Abweichler wie Michail Bulgakow, Alexander Sinowjew oder Andrej Sacharow hätten nicht nur als Menschen, sondern auch als Denker Mut entwickelt. „Überhaupt den Gedanken zu fassen, dass alles ganz anders sein könnte, war damals, in der Welt totaler Gleichgesinnung, sehr schwierig.“ Courage auch als geistige Eigenschaft zu provozieren, das war wohl der einzige schöpferische Charakterzug der Sowjetzensur.

Angesichts dessen, was Musik und bildende Kunst heute liefern, erinnert Bowt sich mit Ironie an Breschnjews ZK-Apparatschiki für Kulturfragen: „Ach, ihr selbstzufriedenen Nichtskönner, die hätten euch beigebracht zu singen und zu malen.“ Auch die heutigen Oppositionellen bezeichnet Bowt als völlig armselig. „Ihnen fehlen kulturpolitische Prinzipien, die sie von der Staatsmacht unterschieden, die sie zu verteidigen bereit wären, ganz zu schweigen davon, irgendetwas dafür zu opfern oder sogar in die Verbannung zu gehen.“ Tatsächlich teilen die meisten Galionsfiguren der Opposition mit der linientreuen politischen Mehrheit Geschäftssinn, Hang zum Luxus und Arroganz gegenüber der Restbevölkerung.

Das Nachrichtenmagazin Kommersant Wlast befasst sich mit dem Einfluss des Staates auf die Literatur, genauer auf Kinderliteratur. Der Cover-titel „Wer unsere Kinder verdirbt“ (22. Mai 2006) ist einem Jugendbuch gewidmet, das in Moskaus Supermärkten ausliegt – „Kinder gegen Zauberer“, aufgemacht im Stil der Harry-Potter-Bände. Inhalt: Helläugige russische Kadettenschüler, unterstützt von pensionierten KGB-Offizieren, Elitesoldaten und orthodoxen Geistlichen, stoppen eine Invasion schwarzäugiger, hakennasiger Zauberer mit jüdischen Namen, die von NATO-Kriegern und Harry Potter persönlich unterstützt werden und sich die russische Seele unterwerfen wollen. Herausgeber ist ein Verlag, dessen Name „Lubjanka-Platz“ schon geistige Nähe zum russischen Inlandsgeheimdienst FSB indiziert.

Die Wlast-Autorin Anna Katschurowskaja versuchte vergeblich, den Verfasser des Buches ausfindig zu machen, laut Klappentext ein griechischer Bestsellerautor; aber selbst beim griechischen Schriftstellerverband ist er völlig unbekannt. Die Autorin folgert, dass der Grieche fiktiv ist und das Buch eine Schöpfung vom Staat angeheuerter russischer Ghostwriter. Sie verweist auf Aussagen des russischen Bildungsministers von 2003. Der forderte damals einen „Kinderbuchhelden im Staatsauftrag“, der „mit Harry Potter konkurrieren und zur Sittlichkeit erziehen soll“. Katschurowskaja hält sich mit Kommentaren zurück, schließt aber mit dem ironischen Vorschlag, weitere russische Strebertypen zu schaffen, die gegen so schädliche westliche Figuren wie Winnie Puh oder Mogli ins Feld ziehen könnten.

Dass in Russland heftige Phobien gegen den Westen und seine Kultur wuchern, bestätigt auch das Journal Ogonjok. Der Titel ist dem indischen Kino gewidmet: „Indien ist wie Russland nicht nach Cannes gekommen. Aber die Inder kriegen deshalb keine Komplexe. Weil ihr Bollywood Hollywood besiegt hat“ (22.–28. Mai 2006). Ogonjok porträtiert die indische Filmindustrie, stellt aber ein Interview mit Daniil Dondurej daneben: „Vampire können keine Helden sein.“ Der Kinokritiker wird befragt, ob Russland das US-Kino bekämpfen solle, und verteidigt Hollywood. „Die Amerikaner verkaufen in erster Linie nicht Spezialeffekte, sondern Mythologie, sie bieten dem Zuschauer den erfolgreichsten Traum an.“ Der amerikanische Traum, der sich an protestantischen Werten wie Treue gegenüber Familie und Job orientiere, präge auch das amerikanische Kino. Es sei einfach humaner als das neue russische Kino. „Eine Stadt vernichten, um ,die Anderen‘ zu besiegen, wie passt das in die heutige Lage, wo im ganzen Land Fremdenfeindlichkeit wächst?“ Damit spielt Dondurej auf den Fantasy-Blockbuster „Wächter des Tages“ an. Vor allem aber kritisiert er vom Kultusministerium gesponserte Kriegsfilme wie „Die 9. Rotte“. Dieser Streifen verdreht die blutige Niederlage der Sowjetarmee in Afghanistan zu einem heroisch-opferreichen Sieg. Wobei die jungen slawischen Helden des Filmes härter, zäher und immer einen Tick schneller als ihre fanatischen Feinde sind. Außer solch Goebbelsschen Sekundärtugenden propagiert „Die 9. Rotte“ nur eine Idee: Es ist süß, fürs Vaterland zu sterben. „In diesem Film stellt keiner die Frage: Wofür wurde dieser Krieg geführt? Wofür sind diese Jungen gefallen?“, beklagt Dondurej. Der Film verliere auch kein Wort darüber, dass der sowjetische Afghanistan-Krieg ein ungerechter Krieg war. Dondurejs Fazit: „Der Hauptwert, den wir dem Zuschauer anbieten, ist, Amerika den Mittelfinger zu zeigen.“ Statt das amerikanische Kino zu bekämpfen, solle man anfangen, eine eigene positive Mythologie zu entwickeln.

Zumindest die liberalen Moskauer Printmedien kritisieren, dass der Staat wieder dabei ist, sich der Kultur als Propagandamittel zu bemächtigen. Insofern hat auch Bykows acht Jahre alte Kritik durchaus etwas Prophetisches. Er krönt seine Moralpredigt mit der Forderung nach einer Deklaration der Rechte der Kultur, die er mit der amerikanischen „Bill of Rights“ vergleicht. Bykow endet pathetisch: „Heute ist verständlich, dass eben die Kultur eines der Hauptrechte des Menschen ist, ein allgemeines Recht, ohne das uns nie erlebte Leiden erwarten.“ Leider schützt heute keine Deklaration die Rechte der russischen Kultur vor den wachsenden Ambitionen des Staates.

STEFAN SCHOLL, geb. 1962, lebt als freier Autor in Twer, Russland. Zuletzt erschien von ihm „Aus dem macht ihr keinen Menschen mehr“ (2004).

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 7, Juli 2006, S. 58-59

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