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14. Sep 2006

Keine Angst vor Hamas!

Die Fundamentalisten haben sich zur politischen Kraft entwickelt

Internationale und vor allem israelische Beobachter sorgen sich nach dem Abzug der Israelis aus Gaza, dass entweder Chaos ausbrechen oder die islamisch-fundamentalistische Hamas die Oberhand gewinnen könnte. Doch dabei werden wichtige Veränderungen in der palästinensischen politischen Landschaft übersehen.

Alle Gruppierungen hielten sich an den Waffenstillstand, der Monate vor dem Abzugstermin ausgehandelt wurde. Sie bewiesen damit Verständnis für eine prekäre politische Balance: Gruppierungen wie Hamas haben sicherlich auch an Popularität gewonnen, weil sie den Kampf gegen die Besatzung fortführten. Ohne Frage trugen sie wesentlich dazu bei, dass Israels Ministerpräsident Ariel Scharon einen vor kurzer Zeit noch gänzlich undenkbaren unilateralen Abzug der Israelis überhaupt auf seine Agenda setzte. Und ohne Zweifel bleiben Palästinenser skeptisch, ob Israel damit nicht einfach nur Gaza aufgibt, um die Westbank behalten zu können. Hamas ist jedoch nicht nur die Gruppierung, die einen militärischen Kampf gegen die israelische Besatzung führte. Sie betreibt auch eine pragmatische Politik – nämlich sich trotz der Errungenschaften des „militärischen Widerstandskampfs“, die sie für sich in Anspruch nimmt, an die Waffenruhe zu halten, um den Abzug zu ermöglichen und in einem allgemeinen palästinensischen Interesse zu handeln.

Die Transformation der Hamas begann mit den Kommunalwahlen, die in insgesamt drei Phasen von November letzten Jahres bis November dieses Jahres durchgeführt werden. Hamas nahm mit großem Erfolg daran teil und stellt in einigen Kommunen den Bürgermeister. Dort muss sie sich jetzt mit konkreten Problemen des Alltags beschäftigen. Auf der nationalen Ebene wandelte sie sich mit der Teilnahme an den Wahlen von einer Fundamentalopposition, die das Osloer Abkommen und die in diesem Verhandlungsprozess entstandenen Institutionen wie die Palästinensische Autonomiebehörde ablehnte, zu einer oppositionellen Kraft innerhalb des Systems.

Für diese Wandlung gibt es mehrere Gründe. Hamas ist eine nicht mehr zu vernachlässigende politische Größe geworden. Sich abseits zu halten, bedeutete für sie eher eine politische Belastung. Von ihr wird nun verlangt, sich am politischen Entscheidungsprozess zu beteiligen und die immensen Probleme gemeinsam mit anderen Gruppierungen zu lösen. Sie muss jetzt zeigen, dass sie das Leben der Palästinenser entscheidend verbessern kann.

Um die Transformation der Hamas zu verstehen, muss man sich auch vor Augen führen, dass sie eben nicht nur die militärische Organisation ist, als die sie in der internationalen Öffentlichkeit hauptsächlich wahrgenommen wird. Sie mag eine militärische Agenda verfolgen. Wesentlich wichtiger aber sind ihre effizient geführten sozialen Einrichtungen und ihre politische Agenda. Anders als radikale fundamentalistische Organisationen wie der Islamische Dchihad betont sie in ihrer Grundsatzerklärung, dass sie keine Zerstörung des existierenden politischen Systems wünscht, sondern Veränderungen von innen. Evolution statt Revolution.

Die Transformation der Hamas markiert eine wesentliche Änderung in der palästinensischen politischen Landschaft. Wenn im November Wahlen für den Legislativrat stattfinden und Hamas, wie zu erwarten, dabei Erfolge verzeichnen kann, bricht eine neue Ära für das palästinensische Parlament an. Zum ersten Mal sind Exekutive und Legislative nicht mehr miteinander identisch. Bislang gehörte die Mehrheit der Abgeordneten in mehr oder minder großer Abhängigkeit zur Fatah, der größten PLO-Fraktion, die unter dem Einfluss des im November letzten Jahres verstorbenen PLO-Chefs Jassir Arafat stand. Mit einer Gruppierung wie der Hamas wird sich zum ersten Mal eine Opposition im Legislativrat befinden, die den Namen auch verdient – übrigens auch denkbar in Form einer Partei und nicht mehr als „Befreiungsbewegung“.

Damit wären zum ersten Mal echte Debatten möglich und die Regierung wäre zu größerer Rechenschaftspflicht gezwungen. Ohne Frage kennt die palästinensische politische Landschaft einen gewissen Pluralismus. Doch stand der Legislativrat zu sehr unter dem Einfluss von Jassir Arafat. Weil eine ernst zu nehmende Opposition innerhalb des Systems nicht existierte, war auch ein friedlicher Machtwechsel undenkbar. Mit der Transformation der Hamas ist das nun möglich. Das sollte zur Demokratisierung des Systems beitragen.

Erst reformieren, dann entwaffnen

Zwei Probleme sind dabei nicht zu unterschätzen: die Frage, ob Hamas auch auf Dauer ein durch Wahlen legitimiertes parlamentarisches System respektieren wird, oder ob für sie das Motto „one man, one vote, one time“ gilt. Und die Frage der Entwaffnung radikaler Gruppen, von der das politische Überleben von Präsident Machmud Abbas abhängt.

Es ist das erklärte Ziel der Hamas, einen islamischen Staat zu errichten. Ohne Zweifel wird sie dieses Ziel verfolgen. Aber nicht mit gewaltsamen Mitteln. In der Politik ist alles möglich – auch ein Präsident an der Spitze der Autonomiebehörde, der der Hamas angehört und sich dennoch an die Spielregeln eines parlamentarischen Systems hält.

Was die Entwaffnung radikaler Gruppierungen betrifft, so müssen wir auch die Hypotheken berücksichtigen, die uns durch die Besatzung hinterlassen wurden. In Gaza besitzen wir erst seit dem Abzug volle rechtliche Souveränität. Erst jetzt können wir Sicherheitskräfte in alle Teile des Gebiets schicken, ohne Israel um Erlaubnis zu fragen. Besonders in den letzten Jahren erodierte nicht nur die Autorität der Autonomiebehörde, sondern jegliches Rechtsverständnis, und einzelne militante Gruppierungen konnten das entstandene Machtvakuum für sich nutzen. Unter diesen Umständen ist es verwunderlich, dass eine relative Ruhe und nicht weit größeres Chaos herrscht. Ohne Frage bedarf es tief greifender Reformen der Sicherheitsdienste und der Autonomiebehörde, die sicherlich weit effizienter und verlässlicher agieren könnte. Es wird Zeit in Anspruch nehmen, ein hierarchisch strukturiertes und funktionierendes Sicherheitssystem aufzubauen, für das die Herrschaft des Rechts als oberstes Gebot gilt und nicht die Befehle irgendwelcher selbst ernannten Führer.

Grundsätzlich aber gilt: Angesichts der Transformation der Hamas ist es durchaus denkbar, dass auch sie sich der Herrschaft des Rechts unterwirft, ihre Waffen abgibt und, wenigstens in Gaza, auf ihre militärische Agenda verzichtet, um sich ausschließlich in den politischen Prozess einbinden zu lassen.