Kehrtwende mit Fragezeichen
Erst Möchtegern-Spielmacher, dann Nebendarsteller, jetzt Partner der USA?
Mit dem späten Beitritt zur Anti-IS-Koalition hat die Türkei einen außenpolitischen Wechsel vollzogen – ein spätes Eingeständnis, dass Präsident Recep Tayyip Erdogan mit seinem unrealistischen Hegemonialanspruch im Nahen Osten gescheitert ist. Aber die Bombardements gegen die PKK zeigen: Ankara teilt die Ziele der Allianz gegen den IS nicht wirklich.
Der Tweet, den der außenpolitische Sprecher des Premiers, Ibrahim Kalin, vor zwei Jahren in die Welt schickte, erlangte Berühmheit: Es möge ja so aussehen, als stünde die Türkei allein da in der Welt. Aber „wegen ihres Anstands und ihrer wertebasierten Außenpolitik ist das eine wertvolle Einsamkeit“. Am Ende, so die Überlegung, würden sich alle auf der Seite der Türkei – und damit der richtigen Seite – wiederfinden.
Diese Kurznachricht war eine Reaktion auf die wachsende Kritik an der Außenpolitik der AKP. In drei Ländern des Nahen Ostens, Syrien, Israel und Ägypten, hatte die Türkei keine Botschafter mehr. Die Beziehungen zu den USA und der Europäischen Union hatten sich erheblich verschlechtert. Der Besuch des (damaligen) Premiers Recep Tayyip Erdogan in Washington vom Mai 2013 wurde als Erfolg verkauft. Später wurde klar, dass die Differenzen zwischen der Türkei und den USA in der Syrien-Politik mehr als deutlich angesprochen wurden. Nach der brutalen Niederschlagung der Gezi-Park-Proteste vom Juni 2013 kühlte das Verhältnis Washingtons zu Ankara weiter ab.
Ankaras ehrgeizige, aber orientierungslose Politik in der Syrien-Krise hat die innenpolitische Debatte polarisiert und zu einer Verstrickung der Türkei in den Bürgerkrieg geführt. Nach dem Bruch mit Syriens Diktator Baschar al-Assad finanzierte und unterstützte Ankara zunächst den Syrischen Nationalrat und die Freie Syrische Armee.
Doch selbst als Radikale und Dschihadisten die Oberhand gewannen, half die Türkei weiter allen Gruppierungen, die gegen Assads Regime kämpften. Nachdem schon die Strategie der Politik der „Null-Probleme mit Nachbarn“ einem Hegemonialanspruch im Nahen Osten gewichen war, warf die Erdogan-Regierung auch noch eines der wichtigsten Leitprinzipien türkischer Politik über Bord: Die Nichteinmischung in die innenpolitischen Konflikte der Nachbarländer und die Beibehaltung einer auf den säkularen Fundamenten der Türkei basierenden Außenpolitik.
Der syrische Bürgerkrieg entwickelte sich schnell zu einer brutalen und von tiefem Hass zwischen den ethnischen und religiösen Gruppen dominierten geopolitischen Auseinandersetzung zwischen Saudi-Arabien und dem Iran. Und die Türkei fand sich als Teil eines regionalen religiösen Konflikts wieder. In zahlreichen Medienberichten wurden die „Dschihad-Highways“ für ausländische Kämpfer beschrieben, die Rekrutierungsstellen für die mit Al-Kaida verbundene Al-Nusra-Front oder die lokalen Unterstützernetzwerke in der Türkei, die es dem IS erlaubten, Öl zu verkaufen oder seine Kämpfer in türkischen Krankenhäusern zu behandeln.
Die Realitäten ignoriert
Unter den Kritikern des Coups des ägyptischen Generals Abdel Fattah al-Sisi gegen die Regierung der Muslimbrüder unter Mohammed Mursi gab es wohl keinen schärferen als Erdogan. Wer auch immer die Absetzung Mursis offen oder auch eher diskret guthieß, konnte sich darauf verlassen, von Erdogan des „Verrats an demokratischen Werten“ bezichtigt zu werden. Dabei hat die türkische Regierung mit dem brutalen Vorgehen der Polizei gegen die Demonstranten im Gezi-Park die eigene Demokratie unterminiert. Mit der Niederschlagung der Demonstrationen begann der Verfall der türkischen Demokratie. Der Rechtsstaat wurde unterminiert, die Meinungs- und Versammlungsfreiheit immer stärker eingeschränkt.
Der oft verspottete Tweet über die „wertvolle Einsamkeit“ der Türkei war wohl nicht nur ein Versuch der Regierung, die ruinösen Konsequenzen der eigenen Politik zu verschleiern. Er deutet auch auf einen allerdings völlig unrealistischen Versuch hin, die Türkei zu einem, wie es die Regierung nennt, „autonomen Spielmacher“ in der Region zu formen.
Dass ihre Politik während und nach der arabischen Revolte sowie im Syrien-Konflikt den eigenen Status und die Einflussmöglichkeiten in der Region nachhaltig beschädigt, das zu akzeptieren ist Ankara nicht bereit. Dabei hat die Erdogan-Regierung alles richtig gemacht, als sie die Demonstranten unterstützte, die gegen ihre korrupten und verkrusteten Regime und für Demokratie auf die Straße gegangen sind. Der Wunsch, das demokratische Experiment zu unterstützen, war durchaus ehrenwert.
Aber dieser Ansatz war zum Scheitern verurteilt, weil die Türkei die strategischen und politischen Realitäten im Nahen Osten geradezu bewusst ignoriert, ihre eigene Macht überschätzt und ihre Rolle in der regionalen politischen Ordnung nicht begriffen hat. Sie berauschte sich an der Vision, den Nahen Osten vom Erbe des Imperialismus zu befreien, die „Kontaminierung“ durch westlichen Einfluss rückgängig zu machen und letztendlich den Weg zu einem islamischen Block um die AKP zu bereiten. Die Muslimbrüder in Ägypten so beharrlich zu unterstützen, hat Ankara aber nur die Ablehnung anderer politischer Bewegungen und einiger Staaten am Golf eingebracht. Erst nach dem Tod des saudischen Königs Abdullah und der Machtübernahme seines Thronfolgers König Salman, der eine gemäßigte Position gegenüber der Bewegung einnahm, hat man einen Modus Vivendi für die türkisch-saudischen Beziehungen gefunden. Anstatt „Spielmacher“ im Nahen Osten zu sein, ist die Türkei heute ein Nebendarsteller an der Seite Saudi-Arabiens, das Irans Einfluss in Syrien eindämmen will. Und das ist nicht die einzige außenpolitische Degradierung. Hat man die Türkei einst als Modelldemokratie für die arabischen Staaten gesehen, gilt sie jetzt weltweit als Unterstützerin radikaler Dschihadisten.
Geisel der eigenen Politik
Das endgültige Zerbröckeln der türkischen Außenpolitik begann mit der Eroberung Mossuls durch den IS. Wohl hatte die AKP in ihrer 13-jährigen Regierungszeit mit einigen Tabus der türkischen Republik gerade in der Kurdenfrage gebrochen. Sie entwickelte Beziehungen zu den irakischen Kurden und hob Restriktionen gegen türkische Kurden auf. Sie begann Verhandlungen mit der kurdischen Arbeiterpartei PKK, später sogar mit deren inhaftiertem Führer Abdullah Öcalan und stieß 2012 einen Friedensprozess an. Der Waffenstillstand, der damals ausgehandelt wurde, hielt bis zum Juli 2015. Mit den irakischen Kurden hat die AKP eine so enge Arbeitsbeziehung etabliert, dass manche sogar vermuteten, Ankara würde deren Unabhängigkeit akzeptieren. Das war bis dato undenkbar gewesen. Als Antwort auf den Einfluss des Iran auf die irakischen Schiiten verfolgte die Türkei auch geopolitisch eine enge Kooperation mit der kurdischen Regionalregierung, insbesondere mit ihrem Präsidenten Masud Barzani und seiner Partei, der KDP.
Als Mossul fiel, besetzte der IS das türkische Konsulat und nahm Diplomaten und Mitarbeiter gefangen. Die Geiselnahme machte die türkische Außenpolitik selbst zur Geisel des IS. Als der IS überraschend in Richtung Erbil, der Hauptstadt der autonomen Kurdengebiete, und das Shingal-Gebirge vordrang und dort einen Genozid an den Jesiden beging, bat Barzani die Türkei um Hilfe. Doch diese blieb aus. Es war die US-Luftwaffe, die Stellungen des IS bombardierte und den kurdischen Peschmerga half, den IS zurückzuschlagen. Im Shingal-Gebirge war es die PKK, der Erzfeind der Türkei und Barzanis, die erfolgreich gegen den IS kämpfte und die flüchtenden Jesiden rettete. Die selbst erklärte Regionalmacht Türkei verlor sämtliche hegemonialen Ansprüche und außenpolitische Glaubwürdigkeit in dem Moment, als sie den irakischen Kurden nicht zur Hilfe kommen wollte oder konnte.
Als der Iran versuchte, diesen Fehler auszunutzen und sich selbst in der kurdischen Politik ins Spiel zu bringen, wurden die USA wieder im Irak und in Syrien aktiv. Mit einer Allianz arabischer Staaten begannen sie den Luftkampf gegen den IS. Lange blieb die Türkei dieser Koalition fern. Weil Ankara so beunruhigt über die Erfolge der mit der PKK verbündeten PYD in Syrien war, vermittelte die Politik der Türkei den Eindruck, sie unterstütze den IS.
Dieser Eindruck verhärtete sich, als der IS die kurdische Stadt Kobane zu erobern versuchte. Wohl nahm die türkische Regierung mehr als 200 000 Flüchtlinge aus der Region auf. Aber sie beschränkte sich auf die Rolle des Zuschauers, als der IS die Stadt unter Beschuss nahm und beinahe eroberte. Mit dem geradezu schadenfrohen Kommentar „Kobane fällt bald“ verursachte Erdogan zwei Tage andauernde gewalttätige Ausschreitungen zwischen Anhängern der PKK und islamistischen Kräften, die mehr als 50 Menschen, meist Kurden, das Leben kosteten.
Dank amerikanischer Luftangriffe konnte der Fall Kobanes verhindert werden. Auch die Türkei ließ schließlich Peschmerga-Kämpfer in Richtung Kobane passieren. Nur war mit dem amerikanischen Einsatz für irakische und dann syrische Kurden der Eindruck entstanden, dass Washington Hüter einer autonomen Kurdenregion und Förderer einer kantonalen Selbstbestimmung syrischer Kurden werden könnte. Es mag gewiss nicht die Absicht Ankaras gewesen sein, aber der Annäherungsprozess mit den Kurden war nun beendet.
Das amerikanisch-türkische Abkommen von Ende Juli 2015, das die Nutzung des türkischen Luftwaffenstützpunkts Incirlik für Angriffe der Koalitionsstreitkräfte gegen IS-Stellungen im Irak und in Syrien erlaubt, ist ein Ergebnis dieser Ereignisse. Gefordert hatten die USA dies schon lange. Dass die Türkei endlich zugestimmt hat, zeigt, dass sie ihre Ambitionen einer autonomen und hegemonialen Politik endlich zurückschraubt. Und dass sie sich neu positioniert, ist Ergebnis ihrer wachsenden Entfremdung von den westlichen Verbündeten und der Isolation in der Region. Einzig verblieben sind gute Beziehungen zu Katar und ein Zweckbündnis mit Saudi-Arabien im Kontext des Krieges in Syrien. Auch das Atomabkommen mit dem Iran spielt eine Rolle. Die Türkei muss ihre eigene Position in der Region wieder stärken. Um dem nun wachsenden Einfluss des Iran etwas entgegenzusetzen, braucht sie die USA als verlässlichen Partner.
Kurswechsel gegenüber dem IS
In der Vergangenheit hatte sich Präsident Barack Obama mehr als einmal über das ungenügende Engagement der Türkei im Kampf gegen den „Islamischen Staat“ und die laschen Grenzkontrollen beschwert, die es ausländischen Kämpfern erleichtern, nach Syrien einzureisen. Doch nach dem Attentat in Suruc am 20. Juli dieses Jahres, bei dem 33 Menschen getötet wurden, die Hilfsgüter und Spielzeug nach Kobane bringen wollten, ging es in den Verhandlungen über die Nutzung des türkischen Luftwaffenstützpunkts plötzlich ganz schnell (Premierminister Ahmet Davutoglu machte sofort den IS verantwortlich; der IS selbst hat sich dazu nie geäußert). Nach Schilderung der meisten Beteiligten wurde das Abkommen noch am 20. Juli geschlossen, am 22. Juli wurde es vom Kabinett verabschiedet.
Als Vergeltung für den türkischen Kurswechsel, keine Verwundeten der Terrormiliz mehr auf eigenem Boden zu behandeln, töteten IS-Kämpfer einen türkischen Soldaten. Daraufhin eröffnete die türkische Luftwaffe das Feuer auf IS-Stellungen in Syrien. In einer schon Wochen zuvor gestarteten Aktion gegen IS-Anhänger in der Türkei begann die türkische Polizei nun auch, deren Spitzenleute festzunehmen. Mit dem Abkommen, dessen Einzelheiten nicht bekanntgemacht wurden, und der Errichtung einer Sicherheitszone (Details werden noch diskutiert) machte die Türkei klar, wo sie nun steht: auf der Seite der transatlantischen Allianz und vor allem der Vereinigten Staaten.
Eskalation mit der PKK
Allerdings zeigt sich auch, dass Ankara noch andere Gründe hatte, sich am Kampf zu beteiligen. Einen Tag nach den Attacken auf IS-Stellungen bombardierten türkische Streitkräfte Stützpunkte der PKK in der autonomen Kurdenregion – als Vergeltung für die Morde an drei Polizisten in Ceylanpinar und Diyarbakir, für die die PKK die Verantwortung übernommen hatte. Den Friedensprozess mit den kurdischen politischen Gruppierungen erklärte Erdogan kurz darauf für null und nichtig. Weitere Luftangriffe gegen die PKK und eine politische Offensive gegen die gemäßigte türkische Kurdenpartei HDP folgten, die bei den letzten Parlamentswahlen 13 Prozent und 80 Sitze erlangt hatte.
Jetzt befindet sich die Türkei in einem eskalierenden Konflikt mit der PKK. Mehr als 40 türkische Sicherheitskräfte und 390 PKK-Kämpfer haben laut türkischem Generalstab bereits ihr Leben verloren. Die weitreichende Verhaftungswelle, die seit dem 20. Juli läuft, richtet sich offensichtlich eher gegen zivile Anhänger der HDP als gegen Kämpfer des IS oder Mitglieder der PKK.
Der Schritt, der Koalition gegen den IS beizutreten, war eine strategische Entscheidung Ankaras. Allerdings scheint die Türkei die Ziele ihrer Verbündeten nicht zu teilen. Sie will verhindern, dass die syrischen Kurden zu einem unverzichtbaren Partner der USA werden. Da kein anderes Land Bodentruppen stellt, werden die Kurden weiterhin den Schutz Washingtons genießen. Mit dem Beitritt zur Koalition wollte die Türkei – auch mit Hilfe einer Flugverbotszone – eine weitere Vergrößerung des Kurdengebiets gen Westen verhindern. Ob diese Zone nach einer Befreiung vom IS zu einem sicheren Gebiet wird, bleibt unklar, denn Ankara sähe gerne die in dieser Region lebenden Turkmenen an der Macht.
Bislang werden die Attacken gegen die PKK von den Alliierten widerwillig toleriert. Ein Angriff auf die mit der PKK verbündete PYD oder ihren militärischen Arm, die YPG in Syrien, wäre jedoch inakzeptabel. Sollte Ankara dem Kampf gegen die PKK Priorität vor dem Zurückschlagen des IS geben – dann wäre das Abkommen um Incirlik gescheitert.
Soli Özel ist Professor für Internationale Beziehungen an der Istanbuler Kadir-Has-Universität und derzeit Fellow der Robert Bosch Academy.
Internationale Politik 5, September/Oktober 2015, S. 51-55