Gegen den Strich

01. März 2013

Kapitalismus

Kaum ein Wirtschaftsmodell gerät immer wieder so in die Kritik wie der Kapitalismus. Er befördere die Gier, führe schnurstracks in eine egoistische Ellbogengesellschaft, diene nur den Reichen und halte die
Politik am Gängelband. Warum aber erweist er sich als so zählebig? Und ist der Kapitalismus denn wirklich so schlecht wie sein Ruf?

Die Armen werden immer ärmer, und die Reichen werden immer reicher 

Eine halbe Wahrheit, eine ganze Lüge. Denn an diesem Satz stimmt nur die zweite Hälfte: Die Reichen werden tatsächlich immer reicher. Über Leute, die mit ihren Geschäften ein paar lumpige Millionen verdienen, lachen die modernen Kapitalisten nur – heute geht es um ganz andere Dimensionen. Der reichste Mensch der Welt, ein Mexikaner libanesischer Herkunft namens Carlos Slim, hat ungefähr 69 Milliarden Dollar auf dem Konto; Bill Gates, der Zweitreichste, kann immerhin 61 Milliarden vorweisen; der Dritte in der Liste, Warren Buffett, besitzt 44 Milliarden. Und so weiter.

In diesem Sinne stimmt es sicher, dass (mit einer wenig originellen Metapher zu sprechen) „die Einkommensschere immer weiter aufgeht“. Ja, die Ganz-Furchtbar-Reichen lassen den Rest von uns weit hinter sich zurück. Aber heißt das, dass die Armen der Erde unterdessen im Elend versinken? Nein; denn in Wahrheit werden auch sie immer wohlhabender. Ihr Lebensstandard steigt kontinuierlich – nur eben nicht so schnell wie jener der Herren Slim, Gates und Buffett. Vor gar nicht so langer Zeit galt es noch als Luxus, einen Kühlschrank oder eine Waschmaschine zu besitzen. Heute gelten solche Accessoires in den industriell entwickelten Ländern nicht mehr als Luxus, sondern als Lebensnotwendigkeit.

Armut ist ein relativer Begriff. Gemessen an Warren Buffett ist jeder deutsche Sozialhilfeempfänger ein armer Schlucker. Der gleiche Sozialhilfeempfänger würde aber jedem Fürsten des 15. Jahrhunderts als Mensch mit einem sagenhaften Vermögen erscheinen. Der technische Fortschritt macht’s möglich; diesen Fortschritt hat es bisher nur im Kapitalismus gegeben, in keiner anderen Wirtschaftsform.

Der Kapitalismus führt zum Massenelend

Ach ja?! Eigentlich müsste es heute Hungersnöte geben. Jedenfalls sahen das alle Fachleute in den siebziger Jahren voraus: Sterbende in den Straßen von Singapur, Millionen von Leichen in Indien – und ein China, das am Boden liegt. Stattdessen sehen wir dort heute etwas Anderes: ein Singapur, das blüht, strotzt und gedeiht; auf dem indischen Subkontinent eine wachsende Mittelklasse; eine chinesische Volksrepublik, wo die Staatsgewalt zwar noch Bürger in Arbeitslager sperrt, wo es andererseits aber auch Städte wie Schanghai gibt, in denen das 21. Jahrhundert schon angebrochen ist. Was ist da geschehen? Der Kapitalismus hat in Asien Einzug gehalten. Und er hat kein Massenelend verursacht, sondern im Gegenteil die Massen aus dem Elend herausgeführt.

Dass der Kapitalismus die Ursache des Elends sei, stimmte nicht einmal zu den Zeiten von Karl Marx und Charles Dickens. Gewiss, es hat damals alle Übel gegeben, die der große englische Schriftsteller und der große deutsche Denker anprangerten: Fabrikarbeiter, die für einen Hungerlohn schufteten; Waisenkinder, die in Heimen ausgebeutet wurden; Familien, die im Dreck verhungerten. Die Wahrheit ist aber, dass die Menschen zu Tausenden vom Land in die Städte strömten, um sich dort von den Kapitalisten ausbeuten zu lassen – denn dort, wo es noch keinen Kapitalismus gab, waren die Lebensbedingungen erheblich grausamer. Insgesamt hat es dann nur eine Generation gedauert, bis der Frühkapitalismus humanisiert wurde: Verbot der Kinderarbeit, Verkürzung des ­Arbeitstags, Einführung der ersten Sozialversicherungen. Das Horrorbild, das Marx in seinen Schriften malte, zeigte also nur einen kleinen Ausschnitt aus der Wirklichkeit – und war schon, als er sein „Kapital“ schrieb, halb überholt. Der Kommunismus dagegen hat buchstäblich ganze Länder ins Unglück gestürzt. Denken wir an Kuba, das vor der Machtergreifung von Fidel Castro so reich war, dass Arbeiter aus Italien dorthin auswanderten; heute ist die schöne Karibik-Insel eine bankrotte Zuckerplantage.

Der Kapitalismus ist ungerecht

Aber überhaupt nicht. Es war einmal eine Frau, die war so arm, dass sie es sich nicht einmal leisten konnte, ihre Wohnung zu beheizen. Ihren ersten Roman schrieb sie deshalb in einem Café. Es folgten sechs weitere Bücher, mit denen sie die Herzen unzähliger junger und älterer Leser rund um den Globus verzauberte. Der Name jener Frau ist Joanne K. Rowling; sie lebt heute in einem Schloss und ist reicher als die Königin von England. Ist es unfair, dass sie mit den (großartigen) Harry-Potter-Büchern viele Millionen Pfund verdient hat, während weniger erfolgreiche Romanciers auf Brotberufe angewiesen sind? Ist es ungerecht, wenn jemand in der Lebenslotterie gewinnt? Wem hat Joanne K. Rowling mit ihrem Erfolg denn etwas weggenommen? Und wem nehmen erfinderische Köpfe wie Bill Gates (der Herr von „Microsoft“) etwas weg, wenn sie Konzerne gründen und sich einen ausschweifenden Lebenswandel gönnen?

Hinter dem Satz „Der Kapitalismus ist ungerecht“ verbirgt sich ein falsches Bild. Es ist das Bild von der Wirtschaft als Kuchen. Der Kuchen wird aus dem Backofen gezogen und aufgeschnitten; und wenn die Reichen sich ihr Stück genommen haben, bleibt für den Rest von uns nur noch ein kleiner Teil übrig. Aber so funktioniert der Kapitalismus gar nicht. Es gibt keinen fertigen Kuchen, der nur noch verteilt werden müsste. Die Wirtschaft ist kein Nullsummenspiel. Es kommt nicht so sehr darauf an, das Bruttosozialprodukt gleichmäßig aufzuteilen – wichtiger ist, dass in einer Gesellschaft möglichst viel produziert wird. Je höher die Produktivität, desto höher der Lebensstandard für alle. Nichts spricht dagegen, dass Reiche ordentlich besteuert werden. Es spricht aber auch nichts dagegen, dass Leute unverschämt viel Geld verdienen, sei es mit ihren Ideen, sei es mit harter Arbeit, sei es durch pures Glück.

Der Kapitalismus ist anarchistisch und regellos

Im Gegenteil. Das kann nur jemand behaupten, der noch nie das Regelwerk der New Yorker Börse in der Hand gehalten hat: Es ist so dick wie ein Telefonbuch – in vielen juristischen Details wird dort mit enormer Spitzfindigkeit festgehalten, welche Aktien wann und von wem gehandelt werden dürfen. Ohne solche Regeln würde die Börse nicht einen Tag lang funktionieren.

Geschäftsgrundlage des Kapitalismus ist die Gewaltfreiheit: Niemand darf sich Reichtum verschaffen, indem er seinem Konkurrenten einen Revolver unter die Nase hält, kein Feudalherr kann Leibeigene herumkommandieren, wer etwas von jemand anderem haben will, der muss es kaufen. Die Voraussetzung des Kapitalismus ist also das schiere Gegenteil von Anarchie und Regel­losigkeit: Als erstes braucht man einen Rechtsstaat, in dem jeder – auch der niedrig Geborene, auch der Angehörige einer verhassten Kaste oder Ethnie – seine legitimen Ansprüche anmelden kann. Man benötigt sauber geführte Grundbücher. Man braucht Behörden, die Firmen registrieren, ohne dass vorher Schmiergeld fließt. Im Falle eines Bankrotts darf sich der Gerichtsvollzieher nicht scheuen, auch im Haus des Polizeipräsidenten seinen Kuckuck aufzukleben. In manchen Ländern – im postkommunistischen Russland etwa – hat die Einführung des Kapitalismus just aus diesem Grund nicht funktioniert: Es gab nicht einmal Ansätze eines Rechtsstaates. Niemandem war bewusst, dass man für eine kapitalistische Wirtschaft klare Regeln braucht. Alte Machteliten rissen sich mit vorgehaltener Waffe den gesellschaftlichen Reichtum unter den Nagel. Das Resultat: nicht Freihandel und Wohlstand, sondern die offene Herrschaft des sowjetischen Geheimdienstes.

Der Untergang des Kapitalismus steht bevor

Seufz. Wie oft haben wir das jetzt schon gehört oder gelesen? „Der internationale Kapitalismus steckt seit zehn Jahren in einer Krise, die sich ständig verschärft und deren letzte Zuckungen man kaum noch zyklische Aufschwünge zu nennen wagt.“ So stand es vor 30 Jahren in einer linksradikalen deutschen Zeitschrift. Allerdings brach dann peinlicherweise nicht der Kapitalismus zusammen – stattdessen musste der kommunistische Ostblock Konkurs anmelden. Zu den besten Eigenschaften des Kapitalismus gehört nämlich, dass es Pleiten gibt und jede Spekulationsblase irgendwann auch wieder platzt. Für die Betroffenen mag das bitter sein – es bedeutet aber wenigstens, dass nur einzelne Firmen und Banken untergehen und nicht gleich die ganze Gesellschaft vor dem Nichts steht. Nach der Krise ist es bisher noch immer wieder weitergegangen (auch nach der Wirtschaftsdepression der dreißiger Jahre, die viel ernster, viel furchtbarer war als alles, was wir heute erleben). Denn das Jüngste Gericht kommt erst am Ende aller Tage.

Wer für den Kapitalismus ist, muss auch für ­Sozialabbau und Nachtwächterstaat eintreten 

Stimmt nicht. Mittlerweile ist leider vergessen, was zum Kollaps des Kommunismus geführt hat: die Gründung einer freien Gewerkschaft. Die polnische „Solidarnosc“ musste sich Dinge erkämpfen, die in jeder westlichen Gesellschaft selbstverständlich sind – das Streikrecht, das Demonstrationsrecht. Die „Solidarnosc“ hat damit das Fundament für den Übergang zu einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung gelegt. Schließlich besteht der Kapitalismus nicht nur aus Unternehmern; er besteht auch aus Arbeitnehmern jeder Couleur, die sich in Organisationen zusammenschließen und aggressiv ihre Interessen vertreten. Es ist kein Fehler, dass es wütende Betriebsräte gibt, sie gehören dazu. Die Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts träumte zwar vom Sozialismus – in Wirklichkeit hat sie aber einen wertvollen Beitrag zur Entwicklung und Vermenschlichung des Kapitalismus geleistet.

Manche Liberalen meinen, der Staat sollte sich am besten ganz aus der Wirtschaft heraushalten. Seine Aufgabe erschöpfe sich darin, Eigentumsrechte zu garantieren und das Leben der Bürger zu beschützen. Diese Liberalen irren grundsätzlich. Gerade in einem kapitalistischen Land hat der Staat eine aktive Rolle zu spielen. Er sollte etwa eine Infrastruktur bereitstellen, ohne die freier Handel gar nicht möglich ist. Die Interstate Highways in den Vereinigten Staaten wurden nicht von Privatfirmen, sondern von der Regierung Eisenhower (einer republikanischen Regierung!) quer durch die Wüsten und Prärien gebaut. Es ist auch vollkommen legitim, wenn der Staat kapitalistische Monopole zerschlägt. Theodore Roosevelt (noch ein Republikaner!) machte sich einen guten Namen damit, dass er – zuerst als Gouverneur des Staates New York, dann als Präsident – den Kampf gegen die „Räuberbarone“ aufnahm. Sein demokratischer Nachnamensvetter Franklin Delano war (auch wenn Ultraliberale das anders sehen) überhaupt kein Linker. Mit seinem „New Deal“ hat er 1933 nicht den Sozialismus eingeführt, sondern die Banken und damit den Kapitalismus gerettet: Es ist vor allem Franklin D. Roosevelt zu verdanken, dass in Amerika aus der Krise keine machtvolle totalitäre Bewegung erwuchs. Auch die Einrichtung einer gesetzlichen Krankenversicherung, wie sie jetzt die Regierung Obama versucht, ist keine bolschewistische Maßnahme.

Dass man solche Selbstverständlichkeiten betonen muss, zeigt allerdings, wie schlecht es um den Kapitalismus bestellt ist. Heute finden ihn beinahe nur noch Leute gut, die sich in sektenhaften politischen Zirkeln zusammengeschlossen haben. Diese Leute erweisen der guten Sache einen Bärendienst, indem sie einander an Radikalität und politischem Dogmatismus übertreffen – als gelte es wieder einmal, eine reine Lehre vor der schmutzigen Realität zu bewahren. So weit ist es also gekommen, dass man den Kapitalismus auch noch gegen seine Verteidiger verteidigen muss. Die falschen Freunde dieser Wirtschaftsform lenken von ihrem vielleicht größten Vorzug ab: Es ist möglich, den Kapitalismus nach unseren Vorstellungen zu modellieren. Der Kapitalismus ist ein Chamäleon.

Hannes Stein lebt als Schriftsteller und Journalist in New York. Im Februar 2013 erschien sein Roman „Der Komet“.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2013, S. 60-65

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