Drohen mit Miss America
Brief aus ... New York
Die Folterdebatte in den USA ist verlogen. Das ist wahrscheinlich gut so
Bei mir um die Ecke gibt es ein nettes Café, das „Tiny Cup“ heißt. Man bekommt dort exzellenten French Toast mit Ahornsirup serviert, und die Pancakes sind auch nicht von schlechten Eltern. Selbstverständlich – befinden wir uns doch in Brooklyn, New York, und damit im Zentrum des blauesten aller blauen Bundesstaaten – handelt es sich beim „Tiny Cup“ um einen linken Laden. An einer Wäscheleine vor der Wand hingen lange Zeit Kinderzeichnungen, die allesamt einen schlanken, dunkelhäutigen Herrn mit kurz geschnittenen Haaren zeigten: Barack Obama. Wahrscheinlich haben ihn alle gewählt, die hier Kaffee ausschenken und sich über ein deftiges Trinkgeld freuen.
Just in dieses Café, das mir gelegentlich als Büro, Empfangssalon und Lesezimmer dient, lotste ich einen Schriftsteller, dessen Bücher ich beinahe ebenso liebe wie die Romane seiner Frau. Mein Freund war an jenem Tag tief betrübt, ja bestürzt. Gerade hatte die New York Times beschrieben, wie die CIA in den ersten Schreckenstagen nach dem 11. September 2001 Terroristen der Organisation Al Kaida gefoltert hatte. „Und das schreiben die auf der Titelseite und sind auch noch stolz darauf!“, meinte er. „Ja, glauben die denn, dass die Jungs von Al Kaida nicht lesen können? Jetzt weiß jeder Terrorist, dass ihm nach seiner Gefangennahme nichts mehr droht. Nichts. Die CIA wird den Leuten von nun an vermutlich Eistee servieren dürfen.“
Nun habe ich für meinen Teil ja nie verstanden, warum man überhaupt auf die Idee kommt, Terroristen zu foltern. Schließlich gibt es diabolischere Methoden. Wäre ich ein Verhörspezialist der CIA, würde ich, während die Eiswürfel lässig in seinem Teeglas klirren, mit dem Schlimmsten drohen: seiner sofortigen Freilassung. „Herr Achmed Ben Dschihad“, würde ich sagen, „Sie stehen vor einer folgenschweren Alternative. Sie können entweder mit uns kooperieren und alles ausspucken, was Sie wissen. Oder sie lassen es sein. Sollten Sie allerdings die Zusammenarbeit verweigern, setzten wir Sie bereits jetzt in Kenntnis: Wie werden das Gerücht streuen, dass Sie zum treuen Bundesgenossen im Krieg gegen den Terror geworden sind. Wir denken sogar darüber nach, Ihnen von unserer Miss America einen schönen bunten Orden umhängen lassen – und solche Zeremonien, merken Sie sich das, werden bei uns live im Fernsehen übertragen.“ Wetten, dass der Al-Kaida-Kämpfer dann singen würde wie ein Vögelchen?
„Dieser Trick funktioniert aber nur einmal“, knurrte mein Freund, „dann haben die Terroristen auch kapiert, was gespielt wird.“ Er war nicht zu besänftigen. Er glaubte allen Ernstes, dass Barack Obama eine Memme sei und dass die Amerikaner nun zu ihrem eigenen Verderben gezwungen sein werden, mit einer auf den Rücken gebundenen Hand zu kämpfen.
Das könnte sich als Irrtum erweisen. Der charmante schwarze Mann, dessen Gesicht auf den Kinderzeichnungen in meinem Lieblingscafé zu sehen war, verhält sich nämlich taktisch und uneindeutig. Ja, er hat sich zur Abkehr von der Folter bekannt – gleichzeitig wird es aber keine Strafverfolgung von Kriegsverbrechen geben, die unter der Regierung Bush begangen wurden. (Die Kellner in meinem Café wenigstens hatten da wesentlich mehr erwartet. Sie sind von ihrem Idol schon sehr enttäuscht.) Außerdem hat er sich von seinen Generälen überzeugen lassen, dass Fotos, auf denen zu sehen ist, wie amerikanische Soldaten Gefangene misshandeln, lieber doch nicht an die Presse weitergegeben werden sollen. Also: Faule Tricks, Kompromisse, Halbherzigkeiten, wohin man auch schaut.
Und wie finde ich das? Einen Tag nach dem Treffen mit meinem Schriftstellerfreund griff ich nach einem Exemplar der New York Times, das ein anderer Gast in meinem Stammcafé schon mit einem schwarzen Kugelschreiber durchgeackert hatte. Ein Artikel von Thomas L. Friedman war mit besonders vielen Kringeln verziert. Unter lauter Fragezeichen, Wellenlinien und höhnischen Randbemerkungen grub ich folgende drei Kerngedanken aus. Erstens: 100 gefangene Terroristen sind in amerikanischer Gefangenschaft im Irak und in Afghanistan gestorben. Bei 27 dieser Todesfälle handelt es sich nach Angaben des Militärs um Mord oder Totschlag. Das ist schrecklich. Zweitens: Die ganze Folterdebatte existiert in Amerika überhaupt nur deshalb, weil auf das Massaker vom 11. September 2001 kein weiterer Anschlag gefolgt ist. Wäre es anders, würden die Amerikaner ihrer Regierung wohl sagen: Bitteschön, tut, was immer getan werden muss. Drittens: Al Kaida ist eine religiöse Politsekte mit einer mörderischen Ideologie. Den Anschlag auf das World Trade Center hat sie geplant, als der nette Bill Clinton Präsident war. Besänftigen kann man diese Leute durch den Verzicht auf Folter nicht.
Mir scheint, dass Friedman wieder mal Recht hat. Wie finde ich also die Halbherzigkeiten und faulen Tricks des Barack Obama? Recht vernünftig.
HANNES STEIN ist Korrespondent von Die Welt in New York. Zuletzt erschien von ihm „Immer Recht haben! Der endgültige Ratgeber“.
Internationale Politik 6, Juni 2009, S. 94 - 95.