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01. Juli 2015

Kampf der Kohle

Die gute Nachricht: China ist Windweltmeister und wird demnächst den Solarspitzenreiter Deutschland einholen. Die schlechte Nachricht: Diese Energieträger machen nicht einmal 2 Prozent des Energiemixes aus. Kommt Peking nicht von der Kohle los, werden sämtliche Anstrengungen, den Klimawandel aufzuhalten, vergeblich sein.

An guten Tagen liegt ein grauer Schleier über Himmel und Sonne. An schlechten Tagen sieht man kaum die Hand vor Augen. Wer Chinas Energiewende verstehen will, der muss in die Elf-Millionen-Stadt Baoding nahe Peking reisen. Die Industriestadt bezieht den Großteil ihrer Energie aus Kohle; im Jahre 2014 gehörte Baoding zu den Städten mit der höchsten Feinstaubbelastung im Land.

Gleichzeitig ist Baoding Chinas „Solar City“, Heimat der florierenden Solarindustrie des Reiches der Mitte. Die Yingli Group, Chinas größter Hersteller von Solaranlagen, hat hier ihr Hauptquartier. Damit steht Baoding quasi symbolisch für die Widersprüchlichkeit, die Chinas Energiewende kennzeichnet. Eine Widersprüchlichkeit, die sich das Land eigentlich nicht mehr leisten kann. Wenn die Energiewende jetzt nicht weiter an Fahrt aufnimmt, wird es zu spät sein, um Chinas Umwelt zu retten und den Klimawandel aufzuhalten.

Am Rande des ökologischen Kollapses

Denn China ist und bleibt nach wie vor Kohleweltmeister. Kohle ist der billige Kraftstoff, der den chinesischen Wirtschaftsmotor antreibt. Zwei Drittel der Energie stammen aus Kohle; das Land verbrennt etwa so viel Kohle wie der gesamte Rest der Welt. Und auch in den kommenden Jahrzehnten wird Kohle der wichtigste Energieträger bleiben. Denn noch hat man keine alternative Energiequelle gefunden, die kurzfristig Ersatz bietet.

China befindet sich am Rande des ökologischen Kollapses. Der Pro-Kopf-Ausstoß von Kohlendioxid ist fast so groß wie der Deutschlands, und die Kohle hat daran großen Anteil. Einige politische Maßnahmen verschlimmern die Situation sogar noch. Riesige Braunkohletagebaue, die aufgrund eines neuen Energieprogramms aufgelegt wurden, zerklüften das Grasland der Inneren Mongolei; im Vergleich zu diesen Anlagen sehen die Abbauten in der Lausitz wie kleine Sandgruben aus.

Der Druck auf die chinesische Regierung, das Energiesystem umzubauen, ist deutlich gestiegen. Der Klimaschutz und die internationalen Verhandlungen um das Post-Kyoto-Protokoll sind da nur ein Nebenschauplatz. Hier hat sich China bis jetzt kaum bewegt. Viel wichtiger sind die Proteste der eigenen Stadtbevölkerung, denn sie will, dass die Regierung Maßnahmen ergreift, die dem dichten Smog in den Großstädten ein Ende macht. Wegen der enormen Luftverschmutzung gehören Atemschutzmasken in den Städten zum täglichen Outfit. Die Absatzzahlen für Luftreiniger sind in die Höhe geschnellt. Und niemand lebt gern in einem Land, das während der Wintermonate zu einem Drittel unter einer riesigen Dunstglocke verschwindet. Ende Februar 2015 erregte der Dokumentarfilm „Under the Dome“ der ehemaligen CCTV-Moderatorin Chai Jing großes Aufsehen. Chais Tochter kam mit einem (zwar gutartigen) Tumor zur Welt, der operativ entfernt werden musste. Tief erschüttert von dieser Diagnose entschloss sich die Journalistin, einen Dokumentarfilm über die Luftverschmutzung zu drehen, die sie für die Krankheit ihrer Tochter verantwortlich macht. Mehr als 300 Millionen Menschen haben sich die Dokumentation online angesehen. Getrieben vom öffentlichen Unmut über den Smog hatte Ministerpräsident Li Keqiang bereits im März 2014 den „Krieg gegen die Verschmutzung“ ausgerufen. Das ist eine radikale Metapher. Sie zeigt aber, dass sich die Umweltverschmutzung für die politische Elite zu einer ernsthaften Bedrohung entwickelt hat. Chais Video ließ die Regierung inzwischen sperren.

Weltmeister bei Erneuerbaren

Und doch hat China auch eine Reihe von beeindruckenden Erfolgen in der Umweltpolitik zu verzeichnen: So ist das Land überraschend zum Windweltmeister aufgestiegen. Derzeit liegen Chinas Kapazitäten bei knapp 115 Gigawatt, bis 2020 sollen es 200 GW werden. Seit Kurzem verbreiten sich auch Solar­zellen rasend schnell über das Land. Die Regierung musste ihre eigenen Zielvorgaben für den Solarausbau mehrmals deutlich nach oben korrigieren. Noch vor wenigen Jahren standen in Bayern mehr Solaranlagen als in ganz China. Schon bald wird China den derzeitigen Spitzenreiter Deutschland einholen.

Eine Überraschung zeigte sich auch in den Energiestatistiken des Jahres 2014. Über Jahre war es vollkommen selbstverständlich, dass der Kohleverbrauch anstieg. Die Regierung rechnete erst 2020 mit dem Höchststand. Doch nun war der Kohleverbrauch plötzlich gesunken. Das war das Ergebnis eines milden Winters, aber auch eines ambitionierten Luftreinhalteplans, den die Regierung zur Bekämpfung des Smogs ins Leben gerufen hatte, und der sich vor allem auf kohlehungrige Provinzen wie das nordostchinesische Hebei konzentrierte. Dabei verlegt die Regierung zwar einfach einige Kohlekraftwerke ins Landesinnere. Gleichzeitig aber hat sie auch viele Kraftwerke und Heizblöcke geschlossen oder auf Gas umgerüstet. Diese Entwicklung könnte richtungsweisend sein.

Ein Schatz, der sich nicht bergen lässt

In den nächsten Jahren will Chinas Regierung Kohle teilweise durch Gas ersetzen, was nicht so einfach ist, da derzeit nicht genug günstiges Gas verfügbar ist. Wohl verfügt China über deutlich größere Schiefergasvorkommen als sogar die USA. Doch dieser Schatz ist, wenn überhaupt, nur schwer zu bergen. Die geologischen Bedingungen machen die Förderung ungleich schwieriger als in den USA. Das treibt die Kosten nach oben. Eine Schiefergasrevolution wird es in China zumindest vorerst nicht geben. Die Regierung hat erst kürzlich die Ziele für 2020 halbiert.

Was bleibt übrig? Ein wichtiges Element der Energiewende ist aus chinesischer Sicht die Atomenergie. 22 neue Reaktoren sind in den Küstenregionen im Bau. Nach der Katastrophe im japanischen Fukushima 2011 schien es eine Zeitlang, als ob in China ernsthafte Zweifel an der Atomenergie aufkämen. Die Regierung verhängte ein Moratorium für neue Projekte. Jetzt aber ist klar, dass der Ausbau weiter und rasch voranschreiten soll, nur eben sicherer. Die Risiken blendet die Regierung aus, denn schließlich sei ja eine Havarie bei Reaktoren der dritten Generation praktisch unmöglich. Und durch die Kohleindustrie würden letztlich deutlich mehr Menschen sterben als durch Atomkraft, wie ein regierungsnaher Experte erklärte. 2014 genehmigte die Regierung erstmals wieder neue Projekte.

So beeindruckend der Ausbau von Wind- und Solarenergie auch ist, diese Energieträger machen nicht einmal 2 Prozent des Energiemixes aus. Zählt man Wasserkraft dazu, kommt man auf etwa 9 Prozent. Zunächst wird die Kohle also nolens volens der wichtigste Energieträger bleiben. Und das verhindert eine rechtzeitige Energiewende.

In den Energieszenarien sieht es ganz einfach aus: China muss nur stärker auf erneuerbare Energien setzen und dem Kohleverbrauch ein Ende bereiten. Doch Kohle ist eng mit dem chinesischen Wirtschaftssystem verwoben. Die Kohlebosse der kohlereichen Provinz Shanxi sind zu einflussreichen Magnaten geworden. Viele Arbeitsplätze hängen an den Berg- und Kraftwerken. Und so hat sich die Kohleindustrie einer ganzen Reihe von Reformvorhaben im Energiesektor in den Weg gestellt. Auch wenn die Xi-Regierung hart gegen Korruptionsnetzwerke in Shanxi vorgegangen ist – die Kohleindustrie verfügt noch immer über erheblichen Einfluss.

Neben dem politischen Widerstand erschweren technische Herausforderungen die Energiewende. Der Ausbau der erneuerbaren Energien ist weit schneller vorangeschritten als der Netzausbau. Die Netzbetreiber waren äußerst zögerlich beim Anschluss von erneuerbaren Energien. Kein Wunder, tragen sie doch die Kosten für die Verlegung der Leitungen, ohne aber damit Gewinn zu machen. Und so stehen viele der Windanlagen nutzlos in der Landschaft – sie „sonnen“ sich, wie es spöttisch heißt.

Inzwischen hat die Regierung nachgebessert. Die Zahl der Windturbinen ohne Netzanschluss ist deutlich gesunken. Dennoch, viele der Wind- und Solarkraftwerke stehen im Westen oder Norden des Landes. Zu den Verbraucherzentren an der Küste muss der Strom eine erhebliche Strecke zurücklegen. Das chinesische Stromnetz ist darauf kaum ausgelegt; viele langfristige Investitionen wären notwendig. Allerdings ist es China bislang zumindest besser gelungen als Deutschland und Europa, Langstreckenkabel zu verlegen. Ende 2012 ging eine 2000 Kilometer lange Gleichstrom-Hochspannungsleitung in Südchina in Betrieb.

Suche nach Öl im Ausland

Doch der Abschied von der Kohle ist nur die eine Baustelle der chinesischen Energiepolitik. Probleme bereitet der Regierung auch der steigende Ölbedarf. Die rasant wachsende Flotte von Pkws verbraucht Unmengen an Benzin. Bereits 1993 wurde die Volksrepublik zum Nettoimporteur von Rohöl. Jetzt aber ist der Importanteil auf 60 Prozent gestiegen. Damit ist China der zweitgrößte Importeur nach den USA, noch vor Japan. Das kostet viel Geld und macht das Land abhängig von ausländischen Lieferanten.

Energiesicherheit ist für China von enormer Bedeutung, aber die politische Führung schweigt zu diesem sensiblen Thema. Obwohl Energieunabhängigkeit immer ein wichtiges Ziel war, hat sich die Führung inzwischen mit der Abhängigkeit vom Ausland abgefunden. Jetzt geht es nicht mehr um das „Ob“, sondern nur noch um das „Wie“. Ein Weg lautet: Investitionen in ausländische Ölfelder.

Ende der neunziger Jahre propagierte die Regierung die „Going Out“-Strategie für staatliche Ölkonzerne. Seitdem haben chinesische Staatsunternehmen in großem Maßstab in ausländische Öl- und Gasfelder investiert, zuletzt vor allem im Irak, der jetzt noch vor Kasachstan und Nigeria das wichtigste Investitionsland zur Förderung von Öl und Gas ist. Der chinesische Staat subven­tioniert die Auslandsaktivitäten massiv. 2013 etwa förderte die China Development Bank einen Öldeal mit Russland mit einem 25-Milliarden-­Dollar-Kredit an Rosneft.

Energieausrüstung als Exportschlager

Zwar ist das internationale Engagement der chinesischen Ölkonzerne nicht ganz risikolos. Immer wieder werden chinesische Arbeiter in Lieferländern gekidnappt. Die chinesischen Aktivitäten im Sudan wurden durch die Aufspaltung des Landes und die Bürgerkriege stark beeinträchtigt. Die Zusammenarbeit mit den Regierungen im Iran und im Sudan sorgte für Spannungen mit den USA und anderen Ländern. Chinas Pipelineprojekte sind anfällig für Terrorattacken und abhängig von der politischen Situation in den Transit­ländern.

Neben derartigen Risiken bieten sich aber auch zahlreiche Vorteile. China weiß, dass mit Energie Geld zu machen ist – insbesondere mit den Energietechnologien der Zukunft. Das lässt sich die Regierung einiges kosten. Ihre Lieblinge der Energieindustrie fördert sie großzügig. Bei Wind haben chinesische Hersteller wie Goldwind ausländische Konkurrenten aus dem heimischen Markt gedrängt. Jetzt gehen sie dazu über, auf globalen Märkten mitzumischen. In der Solarindustrie hat China längst die globale Marktführerschaft übernommen. Atomreaktoren sollen nun der nächste Exportschlager werden. Nach Pakistan liefert China schon seit längerem, nun bahnt die Regierung beim Bau von Atomkraftwerken eine Zusammenarbeit mit Ländern wie Südafrika, Rumänien oder Brasilien an. In Südeuropa kaufen chinesische Unternehmen sich vermehrt in den Stromsektor ein. State Grid hält Anteile an den Stromnetzen in Spanien und Italien und orientiert sich bereits Richtung Griechenland.

Chinas internationale Aktivitäten zeigen, dass die Energienachfrage großen Einfluss auf Europa und den Rest der Welt hat. Chinas Energiehunger ist gewaltig. Selbst die kleinste Veränderung des Energiemixes hat große globale Auswirkungen. Kommt China nicht von der Kohle los, bedeutet das für den Kampf gegen den Klimawandel nicht nur einen Rückschlag, sondern das Aus. Der Smog wird dann ein hartnäckiges Phänomen in den Metropolen bleiben. Deshalb muss China alles daransetzen, die Nutzung von Kohle zurückzufahren. Die Zeit drängt, aber die Alternativen lassen sich auch nicht von heute auf morgen realisieren. Wie schnell diese Umsetzung stattfindet – davon wird auch abhängen, ob Baoding als Solarhauptstadt oder als Smoghauptstadt in die Geschichte eingeht.

Jost Wübbeke ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am MERICS.
 

Bibliografische Angaben

IP Länderpoträt 2, Juli-Oktober 2015, S. 68-73

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