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16. Mai 2023

Land im Limbo

Vor der Stichwahl um die Präsidentschaft Ende Mai stehen der Türkei zwei Wochen bevor, in denen es hässlich zugehen könnte.

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Bild: Zeichnung Panorama Istanbul
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Katerstimmung, so muss man es wohl nennen, und das ist hier nicht nur im übertragenen Sinne gemeint. Alim, 26, lässt Eiswürfel in seinen Kaffee plumpsen. Es war eine kurze Nacht. Oder, je nach Betrachtungsweise, eine lange.

Der Mechatronik-Student mit dem akkurat frisierten Bart hat den Wahlabend mit Freunden in einem Meyhane verbracht, einem traditionellen Lokal, bei reichlich Rakı und Meze – als geschlossene Gesellschaft, denn eigentlich darf am Wahltag kein Alkohol ausgeschenkt werden. In säkular geprägten Vierteln wie Kadiköy, Beşiktaş und Beyoğlu nimmt man dieses Verbot allerdings eh nicht allzu ernst. Die Bars waren so voll wie immer, die Gäste starrten nur noch häufiger auf ihr Handy als sonst.

 

„Wir hatten mehrere Bildschirme, so konnten wir die Wahl auf allen Kanälen verfolgen“, erzählt Alim. „Wir dachten: Entweder wir trinken, weil wir gewinnen, oder wir trinken, weil wir verlieren. Am Ende“ – er lacht gequält – „haben wir getrunken, weil es so dramatisch war.“ Noch in der Nacht erklärte die New York Times die Präsidentschaftswahl zum „nail-biter“ – zum Wahlkrimi, so spannend, dass man sich die Nägel zerkaut. Am Ende fiel das Ergebnis zwar weniger knapp aus, als es die Umfrageinstitute vorhergesagt hatten. Das Rennen hatte trotzdem Showdown-Charakter, auch weil über Stunden völlig unterschiedliche Zahlen kursierten und beide Seiten die Führung für sich beanspruchten.



„Es ist noch nicht vorbei“

Am Montag stand das vorläufige Endergebnis fest: Recep Tayyip Erdoğan, der amtierende Präsident, holte 49,5 Prozent der Stimmen; damit verpasste er haarscharf die absolute Mehrheit, die ihm schon in der ersten Runde den Sieg beschert hätte. Sein wichtigster Herausforderer, der Mitte-links-Politiker Kemal Kılıçdaroğlu, kam auf 44,9 Prozent. Der dritte Anwärter, Sinan Oğan, landete überraschend bei mehr als 5 Prozent. Außerhalb der Türkei war der Chef eines Bündnisses kleinerer ultranationalistischer Parteien bisher quasi unbekannt, nun ist er als Königsmacher der Mann der Stunde. Bei den Parlamentswahlen, die parallel abgehalten wurden, lag Erdoğans Bündnis aus islamisch-konservativen und weit rechts stehenden Kräften ebenfalls vorne.

 

Die Entscheidung darüber, wer künftig das höchste Staatsamt besetzt, fällt nun also in der Stichwahl am 28. Mai. „Es ist noch nicht vorbei“, sagt Alim, es klingt beschwörend. Er hatte auf Kılıçdaroğlu gesetzt. Nun ist er enttäuscht – und nicht nur er. Egal, mit wem man spricht: Wer sein Kreuz bei der Opposition gemacht hat, ist demoralisiert. Keine gute Ausgangslage für den Turbowahlkampf, den Kılıçdaroğlus mühsam geschmiedetes Sechs-Parteien-Bündnis nun führen muss.



Auf gepackten Koffern

Im Ausland, aber auch in der Türkei selbst war vorab von einer historischen Wahl die Rede gewesen, pünktlich zum 100. Bestehungsjahr der Republik; von einer Entscheidung zwischen Freiheit und Diktatur – kurz, von einer Schicksalswahl, was in diesem Fall mehr ist als eine Floskel. Für viele Türkinnen und Türken, die seit Jahren unter Erdoğans repressivem Regierungsstil leiden, wäre sein erneuter Wahlsieg der letzte Anstoß, das Land endgültig zu verlassen.

 

Und für jene, die im Exil leben, wäre seine Niederlage eine Chance, in die Heimat zurückzukehren. Erdogan regiert seit 21 Jahren, er hat der Türkei seinen Stempel aufgedrückt wie kein Politiker seit Staatsgründer Atatürk; ihn abzuwählen, aller Repression zum Trotz, wäre einer politischen Sensation gleichgekommen.

 

Alim, der seinen Nachnamen lieber nicht veröffentlicht sehen will, gehört einer Generation an, die nie einen anderen Machthaber gekannt hat; er war fünf Jahre alt, als Erdoğan Regierungschef wurde, und 16, als er zum ersten Mal mit dem Staat aneinandergeriet. Damals, 2013, war er glühender Beşiktaş-Fan; als die Gezi-Proteste gegen die AKP-Regierung losbrachen, waren die Ultras des Istanbuler Fußballvereins an vorderster Front mit dabei. Für Alim eine prägende Erfahrung. Als Minderjähriger wurde er nicht vor Gericht gestellt, anders als viele seiner Freunde. Doch er erinnert sich genau, wie er bei der Polizei unter Druck gesetzt wurde. Sollte er weiter den „Umsturz der Regierung“ betreiben, werde er bestraft.

 

Heute lebt und studiert Alim in Berlin; für die Wahl ist er extra hergeflogen. Für ihn hängt die Frage, ob er sich seine Zukunft in der Türkei vorstellen kann, unmittelbar mit dem Wahlausgang zusammen. Alim wünscht sich eine diversere, demokratischere, gerechtere Türkei – und natürlich ein Ende der ökonomischen Dauerkrise. Wohlgemerkt: Alim wählt Kılıçdaroğlu nur, weil er Erdoğan loswerden will, linken Parteien wie der prokurdischen HDP und der sozialistischen Arbeiterpartei TİP fühlt er sich ideologisch viel näher. „Was wird die CHP“ – Kılıçdaroğlus Partei – „Sinan Oğan jetzt anbieten müssen, um wenigstens einen Teil von dessen 5 Prozent abzuschöpfen?“, sorgt er sich.

 

Alim hält Oğan und seine Anhänger für Faschisten. Allerdings sagt er dasselbe über die nationalistische İyi-Partei, die dem von ihm gewählten Sechserbündnis angehört. Überhaupt sind Wahlallianzen ein relativ neues Phänomen in der Türkei. Sie stehen teils quer zu den bisherigen politischen Zugehörigkeiten und Konfliktlinien. Die Opposition hatte im Wahlkampf von einer neuen Bewegung gesprochen, die das politische, ethnische und religiöse Lagerdenken überwinden werde. Doch das Ergebnis der ersten Runde stellt diese Strategie infrage.

 

Die Jugend wendet sich ab

Am Ende, darauf deuten erste Analysen hin, war vielen Wählerinnen und Wählern Kılıçdaroğlus heterogenes Sechserbündnis wohl einfach nicht geheuer. Zwar ist die Unzufriedenheit mit Erdoğan und der AKP-Regierung seit Monaten riesig, vor allem wegen der steigenden Lebenshaltungskosten. Gerade junge Wähler schienen sich in großer Zahl abzuwenden, die Zustimmung lag in dieser Altersgruppe bei gerade mal rund 20 Prozent. Doch für viele Menschen geht Stabilität über alles. Bei Erdoğan wissen sie immerhin, woran sie sind. Und der harte Kern seiner Wählerbasis würde dem „Reis“, dem Anführer, sowieso überall hin folgen.

 

Läuft man am Montag nach der Wahl durch die Stadt, ist die Normalität fast schon irritierend. Der Verkehr ist wuselig wie immer, die Menschen eilen zur Arbeit oder sitzen in der Sonne. Keine Demonstrationen, keine Ausschreitungen – nichts von alledem, was im Vorfeld befürchtet worden war. Ungewöhnlich ist nur, dass die Schulen an diesem Tag geschlossen sind. Angeblich aus organisatorischen Gründen; wohl auch, weil die Behörden Chaos und Gewaltausbrüche fürchteten. All das ist ausgeblieben, von wenigen Ausnahmen abgesehen. Stattdessen: eine rekordverdächtige Wahlbeteiligung von fast 90 Prozent, Menschen, die diszipliniert und gut gelaunt in langen Schlangen anstanden, um von ihrem demokratischen Recht Gebrauch zu machen.

 

Nun stehen dem Land aber noch mal zwei Wochen bevor, in denen es hässlich zugehen könnte. Trotz seiner Verluste geht Erdoğan als Favorit ins Rennen. Für Kılıçdaroğlu ist die Lage schwieriger: Er muss die Menschen davon überzeugen, dass er das Ruder noch herumreißen kann. Die Türkei ist ein Land im Limbo. Eine Atempause, dann geht es wieder um alles.

 

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik, Online Exklusiv, 16. Mai 2023

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Luisa Seeling ist Leiterin Schreiben, Editing und inhaltliche Kommunikation bei der Stiftung Neue Verantwortung. Zuvor hat sie u.a. für die Süddeutsche Zeitung über die Türkei berichtet.

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