IP

01. Juni 2007

Jenseits des Amselfelds

Die Schwachstellen des Ahtisaari-Plans für das Kosovo

Der Plan des UN-Sonderbeauftragten Martti Ahtisaari für das Kosovo – Unabhängigkeit, aber eingeschränkte Souveränität – hat von fast allen Seiten Beifall erhalten. Bei näherer Betrachtung des Planes zeigen sich allerdings gravierende Schwächen. Die vernünftigere Lösung im Vergleich zur Unabhängigkeit wäre die Autonomie.

Hinter Ahtisaaris Plan einer Entlassung des Kosovo in die Unabhängigkeit bei eingeschränkter Souveränität steht zunächst einmal die – durchaus richtige – Überlegung, dass sich eine Rückkehr des Amselfelds in den Status einer serbischen Provinz nach allem, was geschehen ist, verbietet. Außerdem setzt der Plan voraus, dass die Serben im Grunde keine andere Wahl haben, als zähneknirschend den Verlust eines Gebiets zu akzeptieren, das sie als Wiege ihrer Nation betrachten. Müssen sie doch, wollen sie sich nicht endgültig um ihre Zukunft bringen, den Anschluss an Europa suchen. Und Europa steht hinter Ahtisaaris Plan.

Serbien hat aus nationalistischer Torheit unter schweren Leiden alle anderen ihm einst verbundenen Gebiete verloren, die nicht überwiegend von Serben bevölkert sind – im Falle der Krajina sogar ein fast rein serbisches Gebiet. Soll es sich, so könnte man fragen, wegen des Amselfelds weiteren Leiden aussetzen, die am Ende ebenso sinnlos sein werden wie alle bisherigen? Ahtisaari rechnet langfristig mit einem Sieg der Vernunft über die Leidenschaft – bei den Serben; nicht den Albanern.

Mit dem Kreml spaßt man nicht

Es ist gut möglich, dass sich der finnische Staatsmann verrechnet hat. Er scheint nicht bemerkt zu haben, dass die Verhältnisse in Europa dabei sind, sich nach 1989 ein zweites Mal zu verändern. Sehr viel weniger spektakulär und gar nicht rapide, sondern schleichend. Russland ist wieder erstarkt und kann es sich erlauben, nach Jahren der Schwäche in die Offensive zu gehen. Wie immer spannen die Russen langsam an. Spätestens seit Putins Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2007 ist es jedoch offensichtlich, dass sie anspannen. Die aggressive Politik Amerikas im Nahen und Mittleren Osten, die beunruhigende Erhöhung der amerikanischen Militärausgaben, die Einbeziehung Polens und der Tschechischen Republik, womöglich auch kaukasischer und mittelasiatischer Staaten in das Raketenabwehrsystem SDI provozieren ein Gefühl der Einkreisung und fordern Russlands innere Neigung, Stärke zu zeigen, heraus. Die Toren sitzen dieses Mal nicht unbedingt im Kreml.

Aufgrund seines Energiereichtums und der langfristig hohen Preise für Öl und Gas befindet sich Russland in einer Schlüsselposition zwischen den Großverbrauchern in Asien und Europa. Es ist nach einem Jahrzehnt des Abstiegs wieder ein reiches und starkes Land geworden. Japan, China und Europa werden als seine Kunden, ob sie es wollen oder nicht, seinen Reichtum und damit seine Stärke noch mindestens ein weiteres Jahrzehnt mehren, wahrscheinlich weit darüber hinaus. Es müsste verwundern, würde es Russland unter diesen Umständen unterlassen, behutsam, aber sehr nachdrücklich, verlorengegangenes Terrain neu zu besetzen. Die Ukraine und Weißrussland haben es schon erfahren müssen: Mit dem Kreml spaßt ein Nachbar nicht, braucht er dessen Wohlwollen zum Wohlergehen. Sonderpreise für Öl und Gas gibt es nicht unbegrenzt und nur bei Folgsamkeit.

Der schwerwiegendste Fehler, den die Amerikaner bei ihrer Politik, Asien strategisch einzukreisen, begehen, ist es, nicht klar zu machen, es vielleicht objektiv gar nicht klar machen zu können, gegen wen sich die Strategie richtet – den Iran, China, Russland, womöglich alle drei zugleich? Bei solchem Mangel an Transparenz kommt Russland ein Faustpfand im südlichen Mitteleuropa gelegen. Angesichts des serbischen Seelenleidens am Kosovo bietet sich dieses an sich nicht sonderlich attraktive Gebiet als Fixpunkt zur russischen Gegenoffensive an. Auch bei der ist nicht klar, gegen wen sie sich richtet – die USA?

Europa als deren Verbündeten? Europa generell?

Das Dilemma Russlands in den achtziger Jahren war, dass es angesichts relativ niedriger Energiepreise und einer geringen Produktivität seiner Wirtschaft seinen Trabanten wenig zu bieten hatte. Jedenfalls war es nicht in der Lage, sie wirtschaftlich auszuhalten, wollte es den ohnehin durch übersteigerte Rüstungsausgaben und Prestigeprojekte wie die Raumfahrt niedrigen Lebensstandard der eigenen Bevökerung nicht weiter verringern. Die Kriegsbeute von Jalta war längst zur unerträglichen Last geworden.

Heute hat Russland Serbien einiges zu bieten: Energiezufuhr und einen großen Markt. Angesichts seiner finanziellen Möglichkeiten kann Russland es sich leisten, dem Land wirtschaftlich beizustehen, sollte die Europäische Union gegen Serbien wegen dessen Haltung zum Kosovo Sanktionen verhängen oder es wirtschaftlich isolieren. Es wird sich dann sehr schnell erweisen, dass die EU Serbien mindestens ebenso braucht wie Serbien die EU. Ohne ein befriedetes und der Europäischen Union zugetanes Serbien wird deren gesamte Balkan-Politik unausführbar. Selbst eine sehr allmähliche Eingliederung der übrigen Balkan-Staaten (außer Kroatien) würde dann schwierig, und der Balkan würde dauerhaft bleiben, was er seit Jahrhunderten ist: Europas empfindlicher, leicht verwundbarer Unterleib. Von den hohen Kosten einer dauernden europäischen Militärpräsenz im Kosovo ganz zu schweigen. Und selbst wenn Russland keine bösen Absichten hegt, kann ihm an einer Verwundbarkeit Europas nur gelegen sein.

Da Russland klar gemacht hat, dass es auch dann hinter Serbien stehen wird, wenn dieses eine rein emotionale, also unvernünftige Haltung in der Kosovo-Frage einnehmen sollte, gibt es für Serbien keine Veranlassung, sich um eine Lösung des Problems zu bemühen, die für das Land schmerzhaft wäre. Einzig eine politische Grundsatzentscheidung des serbischen Volkes, sich aus frisch gewonnenem, verinnerlichtem Wertebewusstsein dauerhaft mit der Europäischen Union zu verbinden, statt erneut den Schulterschluss mit dem großen slawischen Brudervolk zu suchen, könnte zu einer innenpolitisch derart schwierigen Kehrtwende führen. Nichts spricht dafür, dass Serbien reif und bereit dazu wäre, sich einer solch schicksalhaften Selbstbefragung zu unterziehen. Gerade wegen der Verwundungen, die das Land in den letzten zwei Jahrzehnten erfahren hat, ist es dazu nicht fähig. Das trotzige „Nicht auch noch das!“ wird das weise resignierende „Lass fahren dahin!“ noch lange Zeit ausstechen. Wie viel Zeit hat Deutschland gebraucht, ehe es die Oder/Neiße-Grenze endgültig anerkannte?

Aus der Sicht des Kreml sind die drei Bruderstaaten Weißrussland, Ukraine und Serbien hervorragend für eine Reconquista geeignet. Die beiden ersteren schon aufgrund der geographischen Nähe, der langen Verbundenheit mit Russland und ihrer wirtschaftlichen Abhängigkeit vom großen Bruder. Hinzu kommen, zumindest in Weißrussland und der Ostukraine, Sympathien für Putins gemäßigt autoritären Regierungsstil.

Bündnis aus Trotz und Stärke

Serbien ist ungeachtet der engen geschichtlichen Verbindung mit Russland aufgrund seiner geographischen Lage ein besonderer Fall. Die politische Vernunft würde es gebieten, sich der Europäischen Union anzuschließen und die Vergangenheit, den nur kurzzeitig verwirklichten Traum von Groß-Serbien, endgültig hinter sich zu lassen. Aber das Land ist mehrheitlich weit entfernt von solcher Einsicht. Serbiens Trotz und Russlands neue Stärke sind in der Lage, ein belastbares Bündnis einzugehen. Für Russland wäre es von großem psychologischen Wert, in Europa jenseits seines unmittelbaren geographischen Einzugsbereichs wieder einen verlässlichen Partner zu finden. Das würde nicht nur das russische Selbstbewusstsein ungeheuer stärken, es bestünden sogar gewisse Hoffnungen, Montenegro in das Boot zurückzuholen oder, zumindest mittel- und langfristig, aus dem Zerfall Georgiens und der Schwäche Armeniens strategischen Nutzen zu ziehen. Aus russischer Sicht spricht deshalb alles dafür, sich in der Kosovo-Frage fest hinter Serbien zu stellen, und Serbien hat wenig zu verlieren, wenn es hart bleibt. Es kann damit den Preis, den die EU für ein Einlenken zu zahlen bereit ist, ebenso in die Höhe treiben wie Russland den Preis für politische Gegenleistungen für sein Einlenken. An eine baldige Lösung der Kosovo-Frage vermag demnach nur ein hoffnungsloser Optimist zu glauben.

Ahtisaaris Vorschlag lädt auch in anderer Hinsicht zum Nachdenken ein. Es ist verständlich, wenn er eine Lösung auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts sucht. Das hat sich in der jüngsten Vergangenheit als vernünftig und machbar erwiesen, ob bei der isländischen Unabhängigkeit 1944, der Schaffung eines eigenen Kantons Jura in der Schweiz 1978, der Unabhängigkeit von Slowenien und Kroatien, der Souveränität Andorras oder der Trennung von Tschechen und Slowaken. Das Selbstbestimmungsrecht, einmal zuerkannt, lässt sich jedoch schwer aufspalten. Die Unglaubwürdigkeit der Politik des Völkerbunds erwies sich ja – wie in so Vielem – unter anderem darin, dass sie einerseits das Selbstbestimmungsrecht beschwor, um die besiegten Mittelmächte zu zerschlagen, aber der Republik Deutsch-Österreich 1919 entgegen ihrem ausdrücklichen Wunsch verweigerte, sich dem Deutschen Reich anzuschließen. Die Bevölkerungen des Saarlands und der DDR haben dagegen in Ausübung ihres Selbstbestimmungsrechts 1957 bzw. 1990 den Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland vollziehen dürfen.

Es lässt sich also schwer rechtfertigen, einerseits das Selbstbestimmungsrecht anzurufen, um das Amselfeld in die Quasi-Unabhängigkeit zu entlassen, diesem aber die weitergehende Ausübung des Rechts auf Selbstbestimmung zu verwehren, die eine volle staatliche Souveränität sowie den Beitritt zu einem albanischen Staat oder Staatenbund einschließen würde.

Im Übrigen zeigen der Fall der Aland-Inseln und Südtirols, dass es durchaus Lösungen dafür gibt, bestimmte Volksgruppen in einem Staat zu halten, zu dem sie, könnten sie ihr Selbstbestimmungsrecht frei ausüben, nicht gehören wollten. Das probate Mittel dazu ist, ihnen eine so weitgehende Autonomie zuzuerkennen, dass sie am Ende besser dastehen, als würden sie einen Staatswechsel vollziehen oder, wie im Falle des Kosovo, die Unabhängigkeit wählen. Niemand wird bestreiten, dass die Mehrheit der Bevölkerung des Kosovo derzeit nicht bereit ist, über eine solche Lösung ernsthaft nachzudenken, ebensowenig wie die Serben derzeit das Kosovo endgültig aufgeben wollen. Doch nach allem, was wir über die Verhältnisse im Kosovo wissen, wird das Amselfeld kein lebensfähiger Staat sein. Es müsste finanziell auf unabsehbare Zeit von der EU ausgehalten werden. Jede -Eigenstaatlichkeit verursacht Mehrkosten im Vergleich zu einem Autonomiestatus. Auch ist es von Vorteil, einem größeren Wirtschaftsgebiet anzugehören. Zumal Serbien ein enormes wirtschaftliches Wachstumspotenzial aufweist, wenn die politischen Probleme gelöst sind. Daher wäre die Autonomie die weitaus vernünftigere Lösung im Vergleich zur Unabhängigkeit, selbst im wohlverstandenen Interesse der Albaner.

Auch politische Gründe sprechen dafür. Steht Europa nicht für Versöhnung? Die Entlassung des Kosovo in die Unabhängigkeit belegt, dass Europa nicht an die Möglichkeit einer Versöhnung von Albanern und Serben glaubt. Gibt Europa damit nicht den Glauben an die Wirkungskraft der Idee auf, die es trägt? Oder sucht es einfach die scheinbar bequemste Lösung einer unangenehmen Aufgabe? Beides kann sich als fatal erweisen.

Das Kosovo wiederum verdankt Europa viel. Es hängt von Europa weitaus stärker ab als Serbien, weil es keinen anderen Schutzpatron hat. Sollte man da nicht von den Albanern eine besondere Anstrengung in Sachen Vernunft erwarten? Insbesondere wenn sie damit Europa vor gefährlichen außenpolitischen Verwicklungen schützen könnten und eine solche Haltung großzügig entlohnt würde? Oder ist eine solche Erwartung illusionär? Und, wenn ja: Wie kann man von einem Staat der Kosovaren überhaupt eine vernünftige Politik erwarten? Wird sich die Politik dieses Staates nicht in häuslichem Zwist und in Schacherei um Pfründe erschöpfen? Je mehr Posten zu vergeben sind und je höher ihr protokollarischer Rang ist, desto größere, unproduktive Begehrlichkeiten wecken sie in einem armen Land. Diese naheliegenden Fragestellungen an die Lebensfähigkeit und Sinnhaftigkeit eines Kosovo-Staates scheinen von Ahtisaari wenig bedacht, jedenfalls nicht beantwortet worden zu sein.

Europa hat sich mit Ahtisaaris Vorschlägen gegen eine unbequeme Politik der Härte vor Ort entschieden und damit Russland eine Trumpfkarte in die Hand gespielt. Sie ist vom Kreml dankbar aufgegriffen worden. Nach solch kardinalem Fehler kann man nur noch hoffen, dass die außenpolitischen Verwicklungen, die sich daraus ergeben, begrenzt bleiben werden. Viel hängt von der allgemeinen internationalen Entwicklung ab. Insbesondere von der Vernunft der Amerikaner in Sachen Iran. Je hemdsärmliger Amerika politisch und militärisch gegen missliebige Staaten vorgeht, desto weniger Rücksicht auf andere wird Russland bei der Verfolgung seiner Interessen nehmen. Europa geriete zwischen zwei Mühlsteine. Die Kosovo-Frage ist hochkomplex, obwohl ihre Bedeutung, von außen betrachtet, geradezu lächerlich gering ist. Auf Kieselsteinen können Riesen ins Rutschen geraten.

JÖRN SACK, geb. 1944, ist Lehrbeauftragter an der Universität Saarbrücken, der Humboldt-, der Freien sowie der Technischen Universität Berlin. Von 1977 bis 2005 war er Rechtsberater der Europäischen Kommission u.a.in Erweiterungsfragen.
 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, Juni 2007, S. 114 - 119.

Teilen